Islamismus - Geschichte, Vordenker, Organisationen

Islamismus - Geschichte, Vordenker, Organisationen

von: Tilman Seidensticker

Verlag C.H.Beck, 2016

ISBN: 9783406660702

Sprache: Deutsch

127 Seiten, Download: 2380 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Islamismus - Geschichte, Vordenker, Organisationen



II. Der geschichtliche Hintergrund


1. Aufstieg und Niedergang der islamischen Welt


Die rasante Ausdehnung des islamischen Herrschaftsbereichs in der Frühzeit und seine spätere Schrumpfung sowie die gegenwärtige Situation, die von den Muslimen weithin als Misere empfunden wird, spielen als Denkfigur von (schuldhaft?) verlorener einstiger Größe eine kaum zu überschätzende Rolle für den Islamismus.

Beim Tod des Propheten Muhammad im Jahr 632 war der größere Teil der Arabischen Halbinsel politisch an Medina gebunden. Im Jahr 750 reichte das islamische Herrschaftsgebiet im Westen bis an den Atlantik und auf der Iberischen Halbinsel bis an die Pyrenäen, im Norden bis an den Kaukasus, im Nordosten bis an das Gebiet des heutigen Kirgistan und im Osten bis an den Indus. Hinzu kamen in späteren Jahrhunderten in Afrika der Sahararaum und das Gebiet südlich davon bis an den 10. Breitengrad, das ostafrikanische Küstengebiet vom Horn von Afrika bis ins heutige Mosambik; in Asien der größere Teil des Indischen Subkontinents und Teile der Malaien-Halbinsel sowie von Sumatra und Java; im Nordosten ein riesiger Bogen von der Krim über Kasan an der mittleren Wolga bis zur Ostgrenze des heutigen Kasachstan; schließlich neben Anatolien auch fast das gesamte Südosteuropa, grob gesagt das Gebiet südlich der Linie Rijeka – Kiew.

Die Chronik der Gebietsverluste beginnt an der westlichen Peripherie mit der Eroberung Toledos im Jahr 1085 durch Alfons VI. von León-Kastilien und endet auf der Iberischen Halbinsel mit dem Fall Granadas im Jahr 1492. Mit der Eroberung Kasans an der Wolga 1552 durch Iwan den Schrecklichen wird die russische Unterwerfung des muslimischen Zentralasien eingeleitet. 1757 besiegt die Armee der East India Company den muslimischen Herrscher von Bengalen, und in der weiteren Folge dieses Ereignisses wird ab 1858 der Indische Subkontinent von einem britischen «Vizekönig» regiert. Die Entwicklung in der arabischen Welt zwischen der französischen Besetzung Algeriens 1830 und den britischen und französischen Mandaten in den arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs 1922 soll weiter unten skizziert werden. Seine europäischen Provinzen – unter anderen Ungarn, Siebenbürgen und Kroatien – hatte das Osmanische Reich seit dem Frieden von Karlowitz 1699 nach und nach verloren, und es sollte den Vorstellungen des Vertrags von Sèvres (1920) zufolge auf einen zentralanatolischen Kernstaat reduziert werden. Letztlich war in der nordafrikanisch-vorderasiatischen Region neben Iran nur der größere Teil der Arabischen Halbinsel niemals direkter europäischer Herrschaft unterworfen. Die Dekolonisation dauerte lange, wie unten ebenfalls noch ausgeführt werden soll; innerhalb der arabischen Welt bildet die Entlassung Bahrains und der «Vertragsküste» (später Vereinigte Arabische Emirate) aus dem Protektoratsstatus im Jahr 1971 das Schlusslicht. Und mit der Unabhängigkeit sind die Probleme in vielen Ländern nicht vorbei.

Die moderne Geschichtswissenschaft hat die einzelnen Etappen des imperialen Erfolges der islamischen Expansion, die politische Fragmentierung schon ab dem 8. Jahrhundert sowie die Misserfolge auf ökonomischem, politischem und militärtechnischem Gebiet recht gut nachzeichnen und erklären können. Erklärungsbedürftig scheinen weniger der Sieg der Muslime gegen das byzantinische und sassanidische Imperium und die weiteren Landgewinne zu sein als die Frage, warum Europa etwa ab dem 15. Jahrhundert durch seefahrerischen Wagemut, die Entwicklung von Feuerwaffen und andere technische Neuerungen den Rest der Welt ins Hintertreffen bringen konnte. Aber selbst wenn diese Frage zu beantworten wäre: Von einer großen Zahl heutiger Muslime wird der Befund des Niedergangs als schwere Kränkung empfunden.

Ein Weg zur Bewältigung des Traumas besteht in der Überzeugung, auf den Islam der frühen Zeit zurückgreifen zu müssen, um an dessen politische und kulturelle Erfolge anknüpfen zu können. Welche (vermeintlichen) Merkmale des Goldenen Zeitalters dabei entscheidend sind, ist umstritten – individuelle Frömmigkeit, hohe moralische Standards der ganzen Gesellschaft, theokratische Elemente, der Einfluss von Gelehrten und anderes –, aber der Impuls, unmittelbar auf die Frühzeit zurückzugreifen, vorbei an der degenerierten Tradition, liegt direkt oder indirekt praktisch allen islamistischen Visionen zugrunde.

2. Die Entstehung von Wahhabismus und Salafismus


Der Wahhabismus und der mit ihm eng verwandte Salafismus werden zum Teil noch heute nicht dem Islamismus zugerechnet, weil Teile ihrer Anhängerschaft keine direkten politischen Ambitionen entwickelt haben. Wegen ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Vorstellungen und der Präsenz von Salafisten im Westen werden aber beide Richtungen zusammen hier im Einklang mit der oben gegebenen Definition von Islamismus diesem zugerechnet und neben der Muslimbruderschaft und ihren Ablegern als eine seiner beiden Hauptströmungen angesehen.

Wahhabismus

Einen heutigen wahhabitischen, in Saudi-Arabien wirkenden Religionsgelehrten kann man nur in einem sehr eingeschränkten Sinn als Islamisten bezeichnen. Er kämpft nicht für einen islamischen Staat, sondern er lebt in einem Staat, der ihm in einigen (wenigen) Bereichen die Durchsetzung von traditionell-islamischen Normen garantiert, vor allem im Bereich des Kultus und der Bildung sowie in Teilen der Rechtsprechung und der öffentlichen Ordnung. Weite Bereiche der Herrschaftsausübung sind seinem Einfluss entzogen, und wenn er die Legitimität des Königshauses in Zweifel zieht, kann man ihn schon nicht mehr Wahhabit nennen, denn die Loyalität zum saudischen Königshaus gehört seit dem 18. Jahrhundert zu den Wesensmerkmalen des Wahhabismus.

Die Bezeichnung «Wahhabit» wurde schon wenige Jahrzehnte nach der Gründung des ersten saudischen Staates im Jahr 1744 von zeitgenössischen Muslimen geprägt, und zwar nicht mit freundlichen Absichten. Die Anhänger dieser strenggläubigen Richtung des Islams haben sich immer dagegen gewehrt, so bezeichnet zu werden; ausgerechnet sie wollten nicht nach einer religiösen Autorität benannt werden. Darüber hinaus vertraten sie die Ansicht, dass sie nicht einer individuellen Auslegung des Islams anhingen, sondern dem einen richtigen, reinen Glauben. Die bevorzugte Selbstbezeichnung war zunächst «Einheitsbekenner» (ahl at-tauhîd, muwahhidûn), womit zum Ausdruck gebracht wird, dass alle anderen Muslime nicht als Monotheisten anzusehen sind. Seit längerer Zeit hat sich, wohl aus diesem Grund, die Selbstbezeichnung salafî durchgesetzt, also «Anhänger des Islams der frommen Altvorderen».

Salafî ist nun auch die Selbstbezeichnung der Salafisten. Aus inhaltlichen Gründen ist es aber zweckmäßig, die beiden Gruppen voneinander zu unterscheiden, und deshalb soll an der Bezeichnung «Wahhabismus/Wahhabit» festgehalten werden: Der Salafismus ist im Wesentlichen aus dem Wahhabismus hervorgegangen, weicht aber in einigen wichtigen Zügen von diesem ab.

Entstanden ist der Wahhabismus Mitte des 18. Jahrhunderts in einem toten Winkel der Arabischen Halbinsel, dem Najd; mit diesem Wort wird das nördliche Zentralarabien bezeichnet. Der Hijâz, das westliche Küstengebirge der Halbinsel mit den heiligen Städten Mekka und Medina, gehört ebenso wenig dazu wie der östliche Streifen am Golf (al-Ahsâ). Der Hijâz stand unter der Herrschaft der Scherifen von Mekka, Nachkommen des Propheten Muhammad, die schon seit dem 10. Jahrhundert lokale Macht ausübten und sich in späterer Zeit größeren Mächten zu unterstellen hatten; im 18. Jahrhundert waren dies die osmanischen Sultane in Istanbul. Weder die Scherifen noch die Mächte an der Ostküste (die Osmanen beziehungsweise ein lokales Emirat) beherrschten den Najd jemals richtig; die karge Gegend und ihre geringe strategische Bedeutung schienen der Mühe nicht wert. Die sesshafte Bevölkerung siedelte in mehreren Dutzend Oasen; meistens herrschten die Emire des Najd nur über einzelne davon, selten über mehrere.

Muhammad Ibn ʿAbdalwahhâb (1703–1792) entstammte einer hanbalitischen Gelehrtenfamilie aus dem kleinen Ort al-ʿUyaina und reiste zum Studium nach Medina, Basra und nach al-Ahsâ. Er entwickelte eine Lehre, deren Kernelemente die rigide Anwendung von Rechtsvorschriften und eine extreme Definition des Monotheismus (tauhîd) waren. Der letztere Punkt klingt nach lebensferner Theologie, hatte aber sehr direkte Folgen für das Alltagsleben der damaligen Muslime im Najd und bald auch weit darüber hinaus. Der Gegenbegriff zu tauhîd ist shirk, «Vielgötterei», und diese setzt nach Muhammad Ibn ʿAbdalwahhâbs Ansicht weit eher ein, als es von Sunniten jemals zuvor vertreten worden war. Praktiken, die er als mit seinem Monotheismus unvereinbar ansah, waren insbesondere Heiligen- und Gräberkult, was vor allem den Sufismus (also den mystischen Islam) mit seinen vielfältigen Formen der Heiligenverehrung und die Schia mit ihrer Verehrung der Imame betraf. Damit machte er den größten Teil seiner muslimischen Zeitgenossen zu Ungläubigen. Doch damit nicht genug, der wahre Monotheist hatte...

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