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Geistige Behinderung - Grundlagen, Erscheinungsformen und klinische Probleme, Behandlung, Rehabilitation und rechtliche Aspekte
von: Gerhard Neuhäuser, Hans-Christoph Steinhausen, Frank Häßler, Klaus Sarimski
Kohlhammer Verlag, 2013
ISBN: 9783170275881
Sprache: Deutsch
508 Seiten, Download: 12475 KB
Format: EPUB, PDF, auch als Online-Lesen
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Geistige Behinderung - Grundlagen, Erscheinungsformen und klinische Probleme, Behandlung, Rehabilitation und rechtliche Aspekte
Teil B: Erscheinungsbilder und klinische Probleme
4 Klinische Syndrome
Gerhard Neuhäuser
4.1 Diagnose und Bedeutung von Syndromen
4.2 Pränatal entstandene Formen geistiger Behinderung
4.2.1 Die Entwicklung des Nervensystems
4.2.2 Genmutationen als Ursache geistiger Behinderung
a. Rezessiv vererbte Stoffwechselstörungen (inborn errors of metabolism)
Phenylketonurie (PKU, Phenylbrenztraubensäureschwachsinn, Fölling-Krankheit).
Störung von Zellorganellen (Mitochondrien, Peroxisomen)
Störungen des Kupfer- und des Purinstoffwechsels
b. Dysplasie-Syndrome mit meist dominanter Vererbung
Phakomatosen (neurokutane Syndrome)
Tuberöse Sklerose (Morbus Bourneville-Pringle; Epiloia)
Neurofibromatose (NF 1, Morbus von Recklinghausen)
Ataxia teleangiectatica (Louis Bar-Syndrom)
c. Geschlechtsgebunden vererbte Störungen mit geistiger Behinderung
X-chromosomal rezessiv vererbte Formen geistiger Behinderung
X-chromosomal rezessiv vererbte Syndrome mit Balkenmangel
Andere X-chromosomal rezessiv vererbte Störungen
X-chromosomal dominant vererbte Störungen mit geistiger Behinderung
Incontinentia pigmenti (Bloch-Sulzberger-Syndrom)
Cornelia de Lange (Brachmann-de Lange)-Syndrom
Laurence-Moon/Bardet-Biedl-Syndrom
Lowe-Syndrom (Okulo-cerebro-renales Syndrom)
Prader-(Labhart-)Willi-Syndrom 99
Smith-Lemli-Opitz-Syndrom (SLO- oder RSH-Syndrom)
Wiedemann-Beckwith-Syndrom (EMG-Syndrom)
VATER- oder VACTERL-Assoziation
4.2.4 Fehlbildungen des Nervensystems
Dysraphische Fehlbildungen und Hydrocephalus
Fehlbildungen der Rindenentwicklung des Gehirns
Megalencephalie (Makrocephalie)
Mikrencephalie (Mikrocephalie)
4.2.5 Chromosomenanomalien und geistige Behinderung
Katzenschrei-Syndrom (5 p-Syndrom)
Wolf-Hirschhorn-Syndrom (4 p-Syndrom)
Jacobsen-Syndrom (11 q-Syndrom)
Syndrome des Chromosoms Nr. 22
XO-Konstitution (Ullrich-Turner-Syndrom und Varianten)
XXY-Konstitution (Klinefelter-Syndrom und Varianten)
4.2.6 Exogen verursachte pränatale Entwicklungsstörungen und geistige Behinderung
a. Infektionen als exogene Ursache pränataler Schädigung
Rötelnembryopathie (Gregg-Syndrom)
b. Chemische Einflüsse auf die Entwicklung
Teratogene Wirkung von Medikamenten und Umweltbelastung
c. Strahlen und geistige Behinderung
4.2.7 Idiopathische geistige Behinderung
4.3 Perinatale Komplikationen als Ursache geistiger Behinderung
4.3.1 Das sogenannte Geburtstrauma
4.3.2 Hypoxisch-ischämische Encephalopathie
4.3.4 Erkrankungen des Neugeborenen
4.4 Postnatale Ursachen geistiger Behinderung
4.4.1 Entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems
4.4.4 Hirnschädigung durch Intoxikation, Hypoxie, Stoffwechselkrisen
4.5 Geistige Behinderung und zusätzliche Störungen
Bei der ärztlichen Untersuchung von Menschen mit geistiger Behinderung sind nicht nur Funktionen des Zentralnervensystems zu prüfen und Lokalisation oder Ausdehnung einer Störung zu bestimmen, sondern auch deren Ursache und Entstehungsgeschichte (Ätiologie und Pathogenese). Lernt man viele geistig behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene kennen, ist es nicht einfach, eine gewisse Ordnung in die Vielfalt der Erscheinungen zu bringen, obwohl es Ähnlichkeiten im Aussehen oder im Verhalten gibt. Ordnung aber ist ein Ziel der Diagnose, die erkennen und verstehen will. Manche äußeren Merkmale vermitteln hilfreiche Hinweise: Bei gemeinsamem Auftreten bestimmter Symptome kann ein Syndrom vorliegen und eine gemeinsame Ursache bzw. Entstehungsgeschichte haben, die mit geeigneten Methoden aufzuklären ist. Im Folgenden soll dargestellt werden, welche ärztlichen Überlegungen bei »klinischen Syndromen« von Menschen mit geistiger Behinderung angestellt werden und welche Folgerungen sich daraus ergeben. Die Schilderung ausgewählter Syndrome legt Wert auf Praxisbezug und pädagogische Relevanz, weniger auf molekulargenetische und pathogenetische Einzelheiten. Die Vielschichtigkeit der Symptome und des Verhaltens soll deutlich werden lassen, was für die Behandlung und Förderung des einzelnen Menschen aus ärztlicher Sicht zu bedenken ist.
4.1 Diagnose und Bedeutung von Syndromen
Hippokrates (tätig um 440/410 v. Chr.) verwandte den Begriff »Syndrom«, um die »zusammen vorkommenden« Erscheinungen einer krankhaften Störung, deren »Syndromie«, zu kennzeichnen. Seit Thomas Syndenham (1624 – 1689) beschreibt man damit eine regelhafte Kombination von Krankheitszeichen, die ursächlich (ätiologisch) oder entstehungsgeschichtlich (pathogenetisch) verknüpft ist (»kausales Syndrom«) und grenzt sie ab von einem zufälligen Zusammentreffen (»assoziatives Syndrom, Zufallssyndromie«).
Fehlbildungs-Retardierungs-Syndrome kennzeichnen eine Kombination von körperlichen Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung: Ist das Aussehen charakteristisch, kann ein bekanntes Syndrom diagnostiziert werden. Ob dies gelingt, wird von dessen Häufigkeit und von den Erfahrungen der Untersuchenden bestimmt. Hilfreich sind dabei Syndromatlanten (z. B. Kunze 2010; Leiber-Olbrich 1990; Witkowski et al., 2003) und Datenbanken (Winter und Baraitser 1995).
Falls man zu einer bestimmten Kombination von Auffälligkeiten keine Parallele findet, kann es sich um ein zufälliges Zusammentreffen handeln oder aber um ein neues, bis dahin nicht bekanntes Syndrom. Es sind auch die Familienangehörigen des Patienten genau zu betrachten, da bestimmte Eigenarten vererbt werden und bei dem behinderten Menschen, der zur Untersuchung kommt, besonders deutlich sein können, z. B. Kopfform, Nase, Mund, Ohren. Bei »variablem familiären Entwicklungsmuster» würde dann zu Unrecht ein Syndrom diagnostiziert.
Eindeutig definiert sind Fehlbildungs-Retardierungs-Syndrome erst nach Kenntnis ihrer Ätiologie und Pathogenese. Nun ist ihre Entstehung genau zu verfolgen, es kann das »phänotypische Spektrum« bzw. die Spielbreite (Variabilität) der Symptome bestimmt werden. Auslesefaktoren führen nämlich mitunter zu einem »schiefen Bild«.
So ist bei Menschen mit Klinefelter-Syndrom (S. 122), die in Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung leben, die Intelligenzminderung relativ häufig; wird die Diagnose aber bei Untersuchung wegen eines anderen Symptoms, der Infertilität, gestellt, findet man fast nur Männer mit normaler oder überdurchschnittlicher Intelligenz.
Anomalien oder Fehlbildungen sind eine Folge von Entwicklungsstörungen. Sie entstehen während der Embryogenese, im ersten Drittel der Schwangerschaft, durch genetische, chromosomale, exogene oder multifaktorielle Ursachen. Als primäre...