Psychomotorik in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern

Psychomotorik in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern

von: Astrid Krus, Christina Jasmund, Rudolf Bieker

Kohlhammer Verlag, 2014

ISBN: 9783170290501

Sprache: Deutsch

251 Seiten, Download: 3834 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Psychomotorik in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern



1          ENTWICKLUNGSLINIEN DER PSYCHOMOTORIK


Astrid Krus


Was Sie in diesem Kapitel lernen können


In diesem Kapitel erhalten Sie einen umfassenden Überblick über die Ursprünge und Entwicklungslinien der Psychomotorik in Deutschland. Ausgehend von den circensischen Bewegungsangeboten Jonny Kiphards in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Gütersloh entwickelte sich ein pädagogisch-therapeutisches Konzept der Psychomotorik, das seitdem durch theoretische Fundierung und „Verwissenschaftlichung“ eine Ausdifferenzierung erfährt.

 

In Deutschland ist die Psychomotorik als Konzept untrennbar mit dem Namen Ernst Jonny Kiphard verbunden, der – ohne Zweifel – als der Vater der deutschen Psychomotorik bezeichnet wird. Der Vaterbegriff trifft die Entstehung des Konzeptes in besonderem Maße, da die Ursprünge einerseits in der Biografie eines hochgradig bewegungsaffinen/-begeisterten Menschen und andererseits in den praktischen Erfahrungen eines professionellen Bewegungsfachmanns gründen. Die zunächst personenbezogenen Inhalte wurden in den Anfangsjahren durch Ausprobieren und Nachahmen der bewährten Handlungsrezepte des Bewegungsfachmanns Kiphard verbreitet, die dem von Seewald (1991) titulierten Aspekt der „Meisterlehre“ entsprechen. Diese Entstehungsgeschichte weist aber zugleich bis heute wesentliche Merkmale psychomotorischer Arbeit auf, der eigene Zugang zur Bewegung und die Beziehungsgestaltung des Psychomotorikers zu seiner Klientel als zentrale Wirkfaktoren.

1.1       Ernst Jonny Kiphard – der Vater der Psychomotorik in Deutschland


1923 in Eisenach geboren, wurden Jonny Kiphard und sein Bruder Fritz von den Eltern in ihrer motorischen Begabung gefördert. Der Vater engagierte einen Meisterturner, der die Kinder am Reck im eigenen Garten unterrichtete und das Interesse Jonnys an circensischen Elementen unterstützte (vgl. Höhne/Jessel 2011, 54; Schäfer 2011, 58). Die Erfahrung eigener Bewegungsaktivitäten als lebensgestaltendes und handlungsleitendes Element zeigt sich in Kiphards Biografie auch in seiner beruflichen Tätigkeit sehr markant. Schon als Kind begeisterte ihn der Zirkus als Zuschauer und Aktiver. Bereits im Kindesalter probierte er vielfältige akrobatische Elemente aus und präsentierte diese auf Schulfesten und Feiern. Das Thema Zirkus und seine sportliche Neigung begleiteten Kiphard bis an sein Lebensende und bestimmten maßgeblich sein fachliches Wirken.

Mit 17 Jahren zog Kiphard nach dem Abitur als Freiwilliger bei der Marine in den Krieg und blieb bis 1945 dem Zirkus gedanklich treu. Eine glückliche Fügung führte dazu, dass Kiphard im Lazarett mit dem Berufsmagier Harry Hohndorf auf einem Zimmer lag, der ihn in die Kunst des Zauberns einführte. Mit akrobatischen Einlagen und Zauberstücken organisierte Kiphard bald Artistenshows für die sogenannte Wehrbetreuung der Soldaten und tingelte nach seiner Freilassung aus britischer Gefangenschaft zunächst mit einem Akkordeonisten durch Schleswig-Holstein. Nach der Hochzeit machten sich seine Frau Ramona und er als Luftakrobatik-Künstler selbstständig; Kiphard hatte u. a. als Trapez-Akrobat und Clown Engagements im Zirkus Carl Althoff. Eine Knieoperation beendete seine Artistenlaufbahn, er blieb aber seinem Bewegungsthema treu und nahm stattdessen ein Sportstudium an der Universität zu Köln auf. Zunächst war er noch von der Idee angetan, nach erfolgreichem Abschluss eine Akrobatenschule zu eröffnen, die seinen bisherigen beruflichen Weg fortführen sollte. Im Rahmen seines Studiums beteiligte er sich an Bewegungsangeboten für behinderte Kinder, was zu einem Wandel seiner beruflichen Ausrichtung führte. Er intendierte nun nicht mehr die Besten der Besten weiter qualifizieren zu wollen, sondern wollte sich denen widmen, „die am unteren Ende der Leiter stehen und den ersten Schritt auf die untere Sprosse nicht wagen“ (Kiphard 2001, 9). Damit gab er eine sehr treffende Beschreibung für eine der Kernaufgaben der Psychomotorik, Menschen in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken, so dass sie darin unterstützt werden, eigene Schritte vorwärts zu gehen, sich etwas zuzutrauen.

Gegen Ende seines Studiums (1955) las Kiphard in einem Zeitungsartikel ein Interview mit der Leiterin der Westfälischen Jugendpsychiatrie in Gütersloh, Frau Dr. Elisabeth Hecker. Sie stellte im Rahmen ihrer Tätigkeit ein neues Konzept der Intervention mit Kindern und Jugendlichen vor, das interdisziplinär ausgerichtet auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder zugeschnitten werden und sie zur Selbsttätigkeit anregen sollte. Von dem grundlegenden Ansatz begeistert, kritisierte Kiphard allerdings das Fehlen einer Bewegungsfachkraft im Team, was er Frau Hecker schriftlich mitteilte. Sie lud ihn daraufhin zu einem Gespräch ein, in dem er über seine positiven Erfahrungen in der Arbeit mit gehemmten Kindern berichtete, die über Bewegungs- und Erfolgserlebnisse in ihrem Selbstvertrauen gestärkt wurden. All diejenigen, die Jonny Kiphard bis in das Jahr 2010 hinein noch leibhaftig und in seiner charismatischen Art und Weise erleben und begleiten durften (vgl. Höhne/Jessel 2011), konnten die Reaktion von Elisabeth Hecker, ihn mit Beginn des Folgetages in der Klinik einzustellen, nachvollziehen. Unter einfachsten Bedingungen, d.h. ohne Turnhalle und die in den Folgejahren entwickelten psychomotorischen Übungsgeräte, gestaltete Kiphard mit Alltagsmaterialien Bewegungsangebote, die das kindliche Spiel betonten und die er selbst als „im vorsportlichen Bereich“ (Kiphard 2001, 10) angesiedelt beschrieb. Die Zielgruppe seiner Intervention erweiterte sich um aggressive und hyperaktive Kinder, für die er Übungseinheiten zusammenstellte. Sein im Rahmen des Sportstudiums erworbenes, primär sporttechnisches Wissen konnte er bei den bewegungsgehemmten, überaktiven oder auch aggressiven Kindern nur begrenzt einsetzen, so dass er sich mehr seiner circensischen und rhythmisch-musikalischen Kompetenzen bediente. Ihn beeindruckte die heilpädagogische Rhythmik nach Charlotte Pfeffer, die in ihren Publikationen für ihre Arbeit mit körperlich und geistig behinderten Kindern den Terminus „psychomotorische Erziehung“ einführte (vgl. Pfeffer 1958).

Kiphard übernahm diesen Begriff der Psychomotorik oder – wie er es später nannte – der psychomotorischen Übungsbehandlung, da in jedem Bewegungsangebot „das innere Gefühl und auch das Kognitive eine Rolle spielte“ (Pfeffer 1958, 11), indem „das Bewegungsmäßige sehr stark verbunden ist mit dem Verhalten eines Kindes“ und „das innerlich Erlebte dann auch wieder äußerlich im motorischen Verhalten sichtbar wird“ (ebd., 10).

1958/59 erhielten Kiphard und Kolleginnen vom Sozialminister NRW den Forschungsauftrag, die Grundlagen der psychomotorischen Übungsbehandlung zu entwickeln, was mit der Übungsfibel „Bewegung heilt“ 1960 (Hünnekens/Kiphard 1960/1971) erfolgreich abgeschlossen wurde. Die Intention dieser Publikation war es, das psychomotorische Gedankengut insbesondere im elementarpädagogischen Bereich zu etablieren, um Entwicklungsstörungen bei Kindern entgegenzuwirken und den Sitzkindergarten zum Bewegungskindergarten zu führen, eine gerade heute wieder hochaktuelle Forderung nach mehr Bewegung im Kindergartenalltag. Durch Vorträge und Veröffentlichungen von Kiphard und Hünnekens angeregt, stieg die Nachfrage nach Schulungen in diesem neuen Fachgebiet, die zu Beginn primär für Mitarbeiterinnen in Heimen und Einrichtungen des Landschaftsverbandes ausgerichtet waren (vgl. Schäfer 2011, 62). Das wachsende Interesse einerseits und das Fehlen speziell ausgebildeter Bewegungsfachleute andererseits mündete 1974 nach einem legendären Waldspaziergang von Hünnekens, Kiphard und Schilling in die Gründung eines interdisziplinären Arbeitskreises für spezielle Bewegungspädagogik und psychomotorische Therapie, aus dem 1976 der Aktionskreis Psychomotorik (AKP) als erster deutscher Interessenverband hervorging. Ein zentrales Anliegen der engagierten Gründungsmitglieder des AKP war es, die Inhalte der psychomotorischen Praxis zu systematisieren und fachspezifisch zu formulieren, um sie dann einem breiteren Fachpublikum zugänglich zu machen. Eine Grundlagenkommission und eine Kommission Fortbildung und Curriculum wurden 1977 mit diesen Aufgaben betraut. Die Arbeitsgruppe um Hünnekens und Kiphard legte den curricularen Grundstein für eine vierwöchige Zusatzqualifikation Motopädagogik im AKP, für die einjährige Fachschulausbildung Motopädie sowie für den zweijährigen Aufbau-/Masterstudiengang Motologie an der Philipps Universität Marburg. Aus der Meisterlehre entwickelte sich ein theoretisch fundiertes Konzept, das über Nachahmen und Ausprobieren hinaus lehr-/lernbare Qualifikationen hervorbrachte und durch...

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