Wir sind Geschöpfe des Waldes - Warum wir untrennbar mit den Bäumen verbunden sind

Wir sind Geschöpfe des Waldes - Warum wir untrennbar mit den Bäumen verbunden sind

von: Wolf-Dieter Storl

Gräfe und Unzer Autorenverlag, ein Imprint von GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH, 2019

ISBN: 9783833872075

Sprache: Deutsch

368 Seiten, Download: 14768 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wir sind Geschöpfe des Waldes - Warum wir untrennbar mit den Bäumen verbunden sind



Wer möchte schon leben ohne den Trost der Bäume.

Günter Eich (1907 – 1972)

I. WALDBADEN


»Waldbaden« ist inzwischen voll im Trend. Die würzige, frische Luft des Waldes, der glitzernde Tau, der Duft der Bäume, das sanfte Licht, das durch Blätter und Geäst leuchtet, die unverhoffte Begegnung mit Rehen, Hirschen oder Eichhörnchen, das Lied der Waldvögel tun uns Menschen gut. Das wusste man schon immer. Als glaubwürdig erachtet wird in der heutigen Zeit allerdings nur, was mit wissenschaftlichen Messungen und Ziffern exakt belegt ist. Und genau das haben emsige Forscher in Japan, Korea und China getan. Der diplomierte Biologe und Öko-Psychosomatiker Clemens Arvay hat diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in seinen Büchern Der Biophilia-Effekt: Heilung aus dem Wald (2015) und Der Heilungscode der Natur: Die verborgenen Kräfte von Pflanzen und Tieren entdecken (2016) gut verständlich für uns zusammengetragen.

Der Wald duftet. Die Bäume verströmen einen komplexen Cocktail aus Terpenen, Pheromonen und anderen Botenstoffen, mit denen sie rege miteinander und untereinander kommunizieren. Überhaupt reden Pflanzen ständig miteinander – es ist das »Pflanzenpalaver«, von dem Florianne Koechlin2 spricht. Mit diesen Duftbotschaften warnen Bäume ihre Nachbarn vor Schädlingsbefall, bitten Milben, Wespen und andere Raubinsekten um Hilfe und laden Bienen, Käfer und Schmetterlinge zwecks Bestäubung zum Nektar- oder Pollenschmaus ein. Das Palavern geschieht nicht durch akustische Laute wie bei uns, sondern durch Geruchsvokabulare. Könnte man diese olfaktorischen Botschaften in hörbare Laute und Töne übertragen, dann würde der Wald nicht still sein, sondern eher einem lauten Rummelplatz ähneln. Über zweitausend Duftstoffe – Duftvokabeln – sind den Wissenschaftlern inzwischen bekannt. Diese nehmen die Pflanzen nicht mit Gehirn und Nervenzellen wahr, sondern durch Chemo-Rezeptoren, die im ganzen Organismus verteilt sind.

WALDLUFT UND IMMUNSYSTEM


Der von den Bäumen abgegebene Cocktail an flüchtigen Kohlenstoffverbindungen enthält sogenannte Phytonzide (α-Pinene, Isopren und viele andere antibiotisch wirkende ätherische Öle), durch welche die Pflanzen sich vor Pilz-, Bakterien- und Insektenbefall schützen. Inzwischen hat man um die 10 000 von Pflanzen ausgedünstete Terpene ausfindig gemacht. Wenn wir also durch den Wald spazieren, baden wir buchstäblich in einem Meer von Terpenen und Terpenoiden. Auch wenn wir viele davon nicht bewusst wahrnehmen, wirken sie dennoch auf uns. Diese Terpene sind empirisch und quantitativ über Urin- und Blutproben in unserem Körper messbar. Sie werden von der Lunge und der Haut aufgenommen. Folgendes haben Wissenschaftler festgestellt:

  • Schon nach einer halben Stunde wirkt ein Waldspaziergang positiv auf das Herz-Kreislauf-System; der Blutdruck wird niedriger und die Pulsfrequenz beruhigt sich.

  • Professor Qing Li von der Nippon Medical School in Tokio konnte feststellen, dass in der Waldatmosphäre die Stresshormone Cortisol und Adrenalin im Blut nachhaltig gesenkt werden. Ein Tag im Wald senkt bei Männern das Adrenalin um 30, am zweiten Tag um 35 Prozent. Bei Frauen sank das Adrenalin am ersten Tag um 50 und am zweiten Tag um 75 Prozent im Vergleich zum Ausgangswert. Der Mediziner Ruediger Dahlke fragt zurecht: »Welche Psychopharmaka schaffen das?« (Arvay 2015 : 8)

  • Der Aufenthalt im Wald mindert Angst und Depression und wirkt dem Burn-out-Syndrom entgegen. Auch mindert er bei Kindern die sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS).

  • Professor Li konnte eine Zunahme der Anti-Krebs-Proteine im Blut messen. Schon ein Spaziergang im Wald erhöht die Abwehrzellen, die entartete Tumorzellen identifizieren und vernichten, um 50 Prozent. Wer zwei Tage im Wald verbringt, hat anschließend 100 Prozent mehr Killerzellen im Blut.

  • Der Waldaufenthalt erhöht das Nebennierenrindenhormon Dehydroepiandrosteron (DHEA). Es stärkt die Muskeln und hat einen positiven Effekt auf den Blutzuckerspiegel und die Elastizität der Gefäße. Man kann das Hormon als Anti-Aging-Mittel oder gar als legales Dopingmittel bezeichnen. Gegen Depression und Demenz soll es ebenfalls helfen.

  • Dass die Waldatmosphäre die Libido steigern kann, wusste man schon lange – »Komm, Mädel, woll’n wir im Wald spazieren gehen?«, – nun aber kann man das empirisch messen.

  • Der Aufenthalt in der sauberen, sauerstoffreichen Waldluft lässt Kopfschmerzen und viele psychosomatische Beschwerden verschwinden.

  • Der Waldspaziergang wirkt sympathikolytisch, er senkt die Sympathikus-Aktivität und steigert die des Parasympathikus, was Entspannung und Regenerierung bedeutet.

  • Mikrobielle Vielfalt im Wald stimuliert unser Immunsystem. Der Aufenthalt im Wald macht uns weniger anfällig für Allergien, darunter auch Pollenallergien.

  • Im Vergleich zur Stimulierung, die wir über den Fernseh- oder Computer-Bildschirm erfahren, spricht Mutter Grün alle unsere Sinne an. Die monotone elektronische Stimulierung ist im Grunde genommen für Leib und Seele belastend. In Wirklichkeit reagieren wir dabei emotionell und gedanklich auf tote Elektronik. Was wir da aufnehmen, müssen wir mit in den Traum nehmen und emotionell verdauen. Da es nicht real ist, macht es – wie die Anthroposophen sagen – Löcher in den Astralleib (in der Seele).

Das Innehalten und Entschleunigen in der Natur, das tiefe Einatmen der Waldluft nennen die Japaner »Waldbaden« oder Shinrin-Yokū, im Englischen forest therapy. In Japan wird dieses Shinrin-Yoku als offizielle medizinische Therapie staatlich anerkannt und von den Krankenversicherungen bezahlt. Waldbaden macht in unserer nervenaufreibenden, technokratischen Welt, in der die meisten Menschen in der Stadt leben und einen großen Teil ihrer Zeit vor dem Bildschirm hocken, wirklich Sinn. Waldbaden bedeutet, mit sich selbst wieder in Einklang kommen, das Handy abschalten, barfuß über weichen Waldboden wandeln, Bäume umarmen, ihre Energie spüren; riechen, lauschen, bewundern und die Lebensenergie (Qi oder Ch’i) aufnehmen.

STRESS – KÄMPFEN ODER FLIEHEN

Eigentlich leben wir wie im Schlaraffenland. Wir wohnen recht komfortabel und haben so viel zu essen, dass – in der westlichen Welt – die Hälfte der Nahrungsmittel im Müll landet. Und dennoch sind wir Spannungen ausgesetzt, auf die wir in unserer Entwicklungsgeschichte nicht vorbereitet wurden: Nachtverkehrsgeräusche und ferne Sirenen, die den Schlaf stören; Elektrosmog und elektromagnetische Felder (mobile Telefone, TETRA-Behördenfunk, WLAN, das geplante 5G-Netz usw.), die unsere Körperzellen belasten; grelle Straßenbeleuchtung, die dem Organismus signalisiert, dass es ewig Vollmond ist, und die Zirbeldrüse (Melatonin-Produktion, Schlaf-Wach-Rhythmus) in Bedrängnis bringt. Oft weckt uns der Wecker, ohne dass wir richtig ausgeschlafen sind, schlucken ein zuckerreiches Frühstück und Kaffee herunter, um in Gang zu kommen, um dann auf dem Weg zum Job im Stau zu stehen. Es folgen Frust und Mobbing am Arbeitsplatz und ein weiterer Stau auf dem Heimweg. Zum Abspannen genehmigt man sich dann etwas Alkoholisches und taucht ins Bildschirmgeflacker ein, mit Bildern von Totschlag und Gewalt, die den Blutdruck steigen lassen. Vielleicht wird dieser fatale Brei auch noch durch Termindruck, Versagensängste oder eine gestörte Partnerbeziehung gewürzt. Ein solches Leben hält das uralte Reptilienhirn, das Erbe unserer evolutionären Vorfahren, in ständiger Alarmbereitschaft. Wenn derartige Spannungen über längere Zeiträume anhalten, ohne dass richtige Entspannung möglich ist, dann kommt es zum Selye-Syndrom oder AAS (Allgemeines Anpassungssyndrom) oder, wie wir es in der Alltagssprache nennen, zu Stress. Dann ist unser vegetatives Nervensystem überfordert und der Sympathikus befindet sich im Dauereinsatz.

Das vegetative oder autonome Nervensystem heißt so, weil es autonom reagiert, es lässt sich nicht mit dem Willen beeinflussen – es sei denn, man ist ein Meister des Yogas, aber das sind die wenigsten von uns. Dieses vegetative Nervensystem besteht aus Sympathikus und Parasympathikus. Der eine bereitet uns in Situationen, die unser archaisches Reptilienhirn als Gefahr wahrnimmt, auf Flucht oder auf Kampf vor. Der andere, der Parasympathikus, hilft uns entspannen, wenn die Gefahr vorbei und die Flucht gelungen ist oder der Kampf erfolgreich beendet wurde. Der eine regt an, der andere regt ab und lässt uns zur Ruhe kommen, ermöglicht gute Verdauung und guten Sex.

Schauen wir uns die sympathetische Reaktion an. Wie verläuft diese Kampf-Flucht-Reaktion? Was passiert im Körper?

  • Die Muskeln verspannen ebenso wie Venen, die bei anhaltender Spannung Risse bekommen können; der Körper versucht diese mit Cholesterin-Plaques zu flicken.

  • Die Pupillen erweitern sich (»Vor Wut kaum sehen können«).

  • Der Mund wird trocken (»Es bleibt einem die Spucke weg«). Der Verdauungsvorgang wird aufs Abstellgleis geschoben; die Magen-Darm-Aktivität und die der Bauchspeicheldrüse werden gehemmt. Der Sphinkter (Schließmuskel) wird verschlossen, sodass es zur Verstopfung kommt. Daher der Wiener Ausdruck »Gehn's scheißn!« für: »Entspannen Sie sich!«.

  • Es schnürt einem die Kehle zu.

  • Die übergeordnete Hirnanhangdrüse (Hypophyse) aktiviert das endokrine Hormonsystem und stimuliert die Stress- und Aggressionshormone, Adrenalin und Noradrenalin.

  • Rücken und Nacken...

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