Golem stiller Bruder - Roman

Golem stiller Bruder - Roman

von: Mirjam Pressler

Beltz, 2011

ISBN: 9783407743107

Sprache: Deutsch

384 Seiten, Download: 1321 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Golem stiller Bruder - Roman



1. Kapitel
Es steht geschrieben


Die Nacht kam früh, wie sie in dichten Wäldern immer lange vor der Zeit kommt. Die Eulen wachten allmählich auf und die Dämmerung nahm zu. Die Angst trieb den Jungen vorwärts. Er stolperte über dicke Baumwurzeln, die wie höllische Schlangen durch das Laub krochen, plötzlich verschwanden und an unerwarteten Stellen wieder auftauchten. Das Rascheln unter seinen Füßen wurde lauter, und sein Bündel, in dem sich nur noch der leere Wasserschlauch befand, schlug bei jedem Schritt gegen seinen Rücken wie eine Geisterhand, die ihn zur Eile trieb. Irgend wo, weit hinter ihm, heulte ein Wolf. Vor ihm, im dunklen Gebüsch, tauchten ein paar helle Flecken auf.
Der Junge packte das Mädchen, das schlafend über seiner Schulter lag, fester, und lief im Zickzack weiter, um den Schatten auszuweichen, die drohend aus dem Unterholz auf ihn zukrochen. Schon seit einer oder zwei Stunden trug er seine kleine Schwester. Sie hatte angefangen zu weinen, weil ihr die Füße wehtaten, und war, kaum dass er sie aufgehoben hatte, auch schon eingeschlafen. Neben ihm, in einem undurchdringlichen Dickicht, zischte etwas, über ihm schrie ein Käuzchen. Als er schon glaubte, nicht mehr weiterzukönnen und im nächsten Augenblick kraftlos zu Boden zu sinken, wurden die hellen Flecken im Gebüsch vor ihm größer und verheißungsvoller. Mit letzter Anstrengung brach er hindurch und tauchte auf einmal in strahlendes Licht. Hinter ihm, über dem Wald, färbte sich der Himmel bereits, doch die Sonne leuchtete so kraftvoll, als habe sie beschlossen, kurz vor dem Untergehen der Welt noch einmal ihre ganze Macht und Herrlichkeit vorzuführen.
Der Junge hob vorsichtig das Mädchen von seiner Schulter und ließ es zu Boden gleiten, bevor er mit den Händen die Augen abschirmte, geblendet vom Licht und geblendet von dem Anblick, der sich ihm bot. Unterhalb des Hügels, hinter Wiesen und Feldern, lag zu Füßen der mächtigen, alles überragenden Burg die Stadt, die Goldene Stadt, durch die sich ein silberner Fluss wie eine verzauberte Schlange wand, und hinter ihm lag Mořina1), von wo aus er vor vier oder fünf oder auch sechs Tagen aufgebrochen war, er wusste es nicht mehr. Anfangs hatte er die Tage noch gezählt, aber dann war er mit dem Zählen durcheinandergeraten, so wie er sich auch manchmal mit den Wegen geirrt hatte. Am Schluss war es ihm auch egal gewesen, er hatte nur noch daran gedacht, dass er in nordöstlicher Richtung gehen musste, wie seine Tante es gesagt hatte, immer nur nach Nordosten. Und nun lag das Ziel vor ihm.
1) Der tschechische Ortsname Morřina wird Moschina ausgesprochen und auf der ersten Silbe betont.
Das Mädchen zu seinen Füßen wimmerte leise. Und wieder schrie das Käuzchen, es klang wie der Hilferuf einer toten Seele. Der Junge, von neuer Kraft erfüllt, bückte sich zu seiner Schwester und zog sie hoch.
Ich erinnere mich noch genau, wie es war, als ich Prag zum ersten Mal sah. Hinter mir lag Mořina. Hinter mir lag auch der schier unendliche Wald, in dem wir die letzte Nacht verbracht hatten, eine furchtbare Nacht in einer bedrohlichen, mondlosen Dunkelheit. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich mich daran erinnerte, an das aufkommende Gewitter, an die Blitze, in deren grellem Schein die Bäume wie Dämonen um uns herumtanzten. Wir hatten uns in eine Felsnische geflüchtet, die allerdings nicht tief genug war, um uns wirklich Schutz zu bieten, der Sturm peitschte die Wasserschwaden gegen uns, der Regen schlug uns ins Gesicht und drang durch unsere Kleidung bis auf die Haut. Nass und frierend hielten wir uns umschlungen, und ich betete alle Psalmen, die mir einfielen, um den Schutz des Ewigen zu erflehen. Bei jedem Blitz schrie Rochele auf und klammerte sich noch fester an mich. Ihre dünnen Ärmchen drückten mir fast den Hals zu. Ich streichelte sie und flüsterte, sie brauche keine Angst zu haben, ich sei ja bei ihr, und dabei hatte ich selbst solche Angst, dass ich am liebsten den Kopf in der Erde vergraben hätte.
Trotzdem war ich froh, nicht allein zu sein. Es war, wie Tante Schejndl immer gesagt hatte: Wenn der Hunger im Bauch deines Kindes heult wie ein Wolf, wird das Knurren deines eigenen Magens so leise wie das Husten eines Flohs. Rocheles Angst heulte so laut, dass ich meine eigene Angst nicht mehr hören konnte. Ich musste für sie sorgen, wie ich es Tante Schejndl versprochen hatte. Ihr und meinem Vater, der irgendwo draußen in der schwarzen, tosenden Welt war und vielleicht gerade jetzt an uns dachte. »Pass auf deine kleine Schwester auf, Jankel«, hatte er gesagt, als er vor drei Monaten mit seinem Karren voller Bücher losgezogen war, »pass gut auf sie auf, du bist mir und dem Ewigen, gelobt sei er, für sie verantwortlich, solange ich nicht zu Hause bin. Vergiss das nie.«
Der Gedanke an meinen Vater schnürte mir die Kehle zu, und ich schnappte nach Luft, als wäre ich zu lange gelaufen. Aber das war ich ja auch, von Mořina bis hierher, und die meiste Zeit mit Rochele auf dem Rücken oder über der Schulter, weil der Weg für ihre kurzen Beinchen einfach zu lang und zu schwer war. Wir waren nur durch die Wälder gegangen, wir hatten die Landstraße gemieden, wie Tante Schejndl gesagt hatte. Meidet die Landstraßen, die sind gefährlich. Auf Landstraßen treibt sich zu viel Gesindel herum.
Das Mädchen wimmerte im Schlaf wie ein neugeborenes Zicklein, und ich bückte mich, hob sie hoch und nahm sie auf den Arm. Sie schlief noch, das hörte ich an ihren gleichmäßigen Atemzügen. Ab und zu zuckten ihre Glieder, als wäre ein Dibbuk2) in sie gefahren oder als müsse sie im Traum vor etwas weglaufen. Ich strich ihr mit der Hand über den Rücken. »Rochele«, flüsterte ich leise, um die bösen Waldgeister hinter uns nicht auf uns aufmerksam zu machen, »Rochele, aufwachen, wir sind gleich in Prag.«
2) Mit einem Sternchen gekennzeichnete Wörter sind im Glossar am Ende des Buches kurz erklärt.
Sie war sofort wach, rutschte aus meinen Armen und stand auf ihren eigenen Füßen.
»Türme«, sagte sie mit einer andächtigen Stimme. »Lauter Türme. Lauter brennende Türme.«
Während die beiden Kinder die Hänge hinuntertorkelten, schwankend wie Holzfäller, die in der Schänke zu viel Branntwein getrunken haben, veränderte sich die Welt um sie herum, der Himmel im Westen wurde rot, als stünde er in Flammen, und der Widerschein fiel auf die Stadt vor ihnen. Die Flammen zuckten durch den Körper des Jungen und ließen ihn, trotz seiner noch immer feuchten Kleidung, erglühen vor Freude und Erleichterung. Die Flammen zeigten sich auch auf dem Gesicht seiner kleinen Schwester und malten rote Flecken auf ihre Wangen, als wäre sie von einem plötzlichen Fieber befallen worden. Erschrocken berührte er ihre Stirn, aber die war ganz kühl.
Sie betraten die Stadt durch ein Tor, dessen Mauern so dick waren, dass sie viele Schritte gehen mussten, um den hellen Ausgang zu erreichen. Staunend blieben sie stehen und schauten sich um. So viele Häuser hatten sie noch nie in ihrem Leben gesehen, hohe Häuser, dicht zusammen gedrängt, als müssten sie sich gegenseitig stützen, um nicht umzufallen. Sie hatten auch noch nie so viele Menschen gesehen, so viele Händler, Hökerweiber, Bettler und feine Herrschaften in Kutschen, mit livrierten Dienern auf dem Bock, die mit der Peitsche knallten und »Platz da!« und »Aus dem Weg!« riefen. Die Menschen sprangen zur Seite, und die Fuhrwerke rammten mit ihren hölzernen Rädern fast die Hauswände bei ihrem Bemühen, die feinen Kutschen vorbeizulassen.
Vor einer Schänke spielten zwei Fiedler eine lustige Melo die, Leute standen um sie herum und hörten ihnen zu, manche klatschten im Takt und ein paar Kinder hüpften im Kreis und sangen mit. Das Mädchen wollte ebenfalls zuhören, sie lachte und machte ein paar ungeschickte Luftsprünge, aber ihr Bruder packte sie an der Hand und zog sie unerbittlich weiter.
Sie bogen um eine Ecke und landeten auf einem kleinen Platz, auf dem die Händler gerade ihre Waren zusammenpackten, Kohl, Hülsenfrüchte, Obst, Schinken und fette Würste. Zwei Hunde stritten sich knurrend und bellend um die Abfälle, die ein Metzger auf den Boden geworfen hatte, sie fletschten die Zähne und sahen so gefährlich aus, dass die Kinder ihnen auswichen und in einem großen Bogen an ihnen vorbeigingen.
Ein Apfel fiel aus einer Kiste und rollte über das Pflaster. Der Junge schaute sich hastig um, bückte sich und ließ den Apfel in seiner Tasche verschwinden, bevor der Händler seinen Verlust überhaupt bemerkte, und zog seine Schwester hinter sich her in eine Seitenstraße. Dort setzten sich die Kinder auf den Boden und aßen, mit dem Rücken an eine Hauswand gelehnt, gierig den Apfel. Er war köstlich. Immer abwechselnd nahmen sie einen Bissen und ließen außer dem Stiel nichts übrig. Den ganzen Tag lang hatten sie nur ein paar Beeren zwischen die Zähne bekommen. Morgens hatten sie an einem einsam gelegenen Bauernhaus angeklopft und für Gottes Lohn um eine Scheibe Brot gebeten, aber die Bäuerin, eine dicke, hässliche Frau, hatte mit ihrem Besen gefuchtelt und das »Bettelpack«, wie sie sie nannte, mit wüten dem Geschrei weggejagt. Danach waren sie an keinem Hof mehr vorbeigekommen.
Der eine Apfel machte sie nicht satt, hungrig gingen sie weiter. Das Mädchen blieb vor einem Hökerweib mit grauen Zottelhaaren stehen, das Pflaumenmuskuchen verkaufte, und streckte bittend die Hand aus. Aber die Frau musste ein Herz aus Stein haben, sie schüttelte den Kopf, und als das Mädchen...

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