Bravo, bravissimo! - Oper für Einsteiger. Mit Illustrationen
von: Stefan Siegert
Reclam Verlag, 2013
ISBN: 9783159603704
Sprache: Deutsch
224 Seiten, Download: 13796 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Claudio Monteverdi
1567–1643
Orpheus
L’Orfeo
Favola in musica in einem Prolog und 5 Akten
Text von Alessandro Striggio
Uraufführung am 24. Februar 1607 im herzoglichen Palast von Mantua
PERSONEN:
La Musica / Die Musik – Sopran
Orfeo/Orpheus – Tenor oder Bariton
Euridice/Eurydike, eine Nymphe – Sopran
Vier Hirten – Tenor, Bariton, Bass
Botin – Mezzosopran
La Speranza / Die Hoffnung – Sopran
Charon – Bass
Proserpina – Mezzosopran
Pluto – Bass
Apollo – Tenor oder Bariton
Nymphe – Sopran
Weitere Hirten und Nymphen, Geister
ORT UND ZEIT:
Thrakien und die Unterwelt in mythischer Vorzeit
Es riecht nach Oliven, nach Sonne und warmem Staub. Die Erde ist trocken von Hitze, blau ohne Wolken der Himmel und uralt und knorrig das Holz und die Zweige der Bäume im flirrenden Licht. Dort aber, wo jetzt die Hirten mit den Nymphen tanzen, duftet es grün und frisch. Die Hüterinnen und guten Geister der Natur sind herabgestiegen von den Bergen, sie haben sich für diesen Tag getrennt von ihren Quellen und lieblichen Flüssen dort oben in den Gefilden der Götter, sie wollen nur noch fröhlich sein. Denn Orfeo heiratet, der Sänger der Welt. Er rührt mit dem Klang seiner Stimme nicht nur die Menschen, nein, auch die Tiere, die Bäume und Blumen. Orfeo kann singend die Felder und Wiesen, ja selbst die Steine zum Weinen bringen. Der Mond und die Sterne scheinen heller zu leuchten, wenn Orfeo singt. Und jetzt ist er mitten unter ihnen! Die Hirten freuen sich. »Wir haben gehört, dass du mit deiner Zauberharfe dafür sorgst, dass Täler und Hügel jubeln. Sing doch auch uns ein Lied, mal sehen, was mit uns geschieht!« Zwischen zwei alten Olivenbäumen tritt Euridice hervor. Orfeos Augen liebkosen die Schönheit seiner Braut. Er lacht und beginnt, auf seiner Harfe zu spielen. »Rose des Himmels, Sonne, die alles umschließt und alles erblickt, sag mir, hast du wohl je einen glücklicher Liebenden gesehen?« Euridice schmiegt sich an ihn. Melos und Myrtenblütenluft durchdringen einander. Den Hirten und Nymphen ist, als fließe, statt schwerem Blut, ein helles und leichtes Glück durch ihre Adern. Sie flechten Blumen und Blätter in Euridices Haar. Auch Euridice, als sie jetzt mit ihrem Mann tanzt, ist glücklich. Sie ist es seit jenem Tag, da ihre schmale weiße Hand sich in die seine legte. Seitdem haben die schweren Wolken sich aus ihrem Leben verzogen und auch Orfeo scheint wie befreit von düsteren Stimmungen und Tränen, von Seufzern und Klagen. Sie trennen sich erst spät an diesem Tag.
Zurück in den Wäldern sehnt sich Orfeo nach seiner Frau. Der Schatten der Buchen ist kühl und angenehm. »Spiel uns auf deiner Leier, Orfeo!« Hirten und Nymphen des Waldes umgeben ihn. Tief saugt er den Duft der Eukalyptusbäume ein und lässt seine Kunst ausströmen in eine geneigte Welt. Ein schrilles Klagen zerreißt die Harmonie. »O Orfeo, welch’ Verhängnis!« Wer wagt es? Eine Nymphe, die beste Freundin Euridices, kommt auf ihn zu. Was ist geschehen? »Weh mir, dass ich es bin, die es dir sagen muss: Euridice ist tot!« Fast wirft ihn um, was er da hört: »Wir pflückten Blumen auf der großen Wiese. Da biss eine Giftschlange zu, direkt in ihren Fuß. Sie sank zu Boden. Dein Name, Orfeo, verhauchte noch aus ihrem Mund, dann war sie tot!« »Und ich – ich lebe!« Orfeos herrliche Stimme klingt wie zerbrochen. Er verbirgt sein Gesicht in den Händen. »Und ich muss bleiben?« Nein! Er hat ja noch die Macht seiner Lieder! »Mit ihnen dring’ ich hinab in höllentiefes Dunkel. Ich werde mit der Macht der Kunst das Herz des Herrschers der Unterwelt gewinnen, werde zurückführen ans Licht der Sonne die Geliebte. Und scheitere ich, so bleibe ich bei ihr im Reich der Toten!« Selbst untröstlich, versuchen die Hirten, ihn zu trösten. Sie gehen, um den sterblichen Überresten Euridices die letzte Ehre zu erweisen. Auch Orfeo macht sich auf.
Es wird immer finsterer auf dem Weg. Orfeo wäre jetzt ohne allen Mut, wäre nicht die Hoffnung bei ihm, sie trägt ein langes Gewand und Flügel auf dem Rücken, ihre Stimme klingt mild und zuversichtlich. Sie kommen an den Fluss Acheron, auf dessen jenseitigem Ufer sich das Tor zur Hölle öffnet. »Ich muss dich verlassen, schöner Sänger.« Die Hoffnung legt eine Hand auf Orfeos Arm. »Dort drüben liegt es, das dunkle Schattenreich, wo du dein Herzallerliebstes findest. Und dort kommt auch schon der Fährmann, er bringt dich hinüber. Mir aber verbietet das Gesetz, dich weiter zu begleiten. Denn im Stein überm Eingang zur Hölle steht: ›Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!‹ Lebe also wohl.« Die Hoffnung umarmt Orfeo sanft und entfernt sich. Die tiefdunkle Stimme des Fährmanns erklingt, sein Kahn schwankt. »Den Lebenden ist es verboten, die Hölle zu betreten, du aber lebst. Willst du etwa den Wachhund der Hölle vertreiben, den Cerberus? Oder willst du Proserpina rauben, unseres Fürsten Gemahlin? Verschwinde! Ich werde dich niemals hinüberbringen.« Orfeo spielt die Leier. Seine Worte, mehr Gesang als Sprechen, schmeicheln der Luft und dem Wasser: »Muss ich denn, wie ein unbegrabener Leichnam, umherirren zwischen Himmel und Hölle als unglücklicher Schatten? Dort drüben weilt mein Liebstes, Euridice, mein Glück, ich will es wiederhaben.« Der Alte aber ist eingeschlafen vom Gesang; auch solche Wirkung hat Orfeos Kunst. Der Sänger packt das Ruder, stößt vom Ufer ab und lenkt die Barke über den Fluss. Lange noch klingt sein Gesang über die schwarzen Wasser.
Er dringt ins Reich der Tränen und der Schmerzen ein, er streift umher. Im lichtlosen Nichts schwebt der herrliche Klang seiner Klage. Irgendwo in der Nacht sitzen Pluto und Proserpina, das höllische Fürstenpaar. »Ich weiß, du bist an ewige Gesetze gebunden, mein Pluto.« Proserpina liegt ihrem Gatten seit Tagen in den Ohren: »Aber Orfeos Gesang ist so schön, seine Stirn so klar, in seinen Augen brennt ein derart süßes Liebesfeuer, dass du den sehnlichen Wunsch dieses Unglücklichen einfach erfüllen musst!« Pluto sieht seine Gattin unsicher an, er zögert. »Na gut, es ist zwar gegen das Gesetz. Aber auch mir gefällt sein Gesang, und Orfeos Frau und er sind wahrlich ein herrliches Paar. So soll er seine Liebste wiederhaben, auch gegen den Willen des Schicksals.« Er hebt die Hand. »Unter einer Bedingung.« Seine Stimme klingt scharf. »Er darf sich nicht umdrehen, wenn die Geliebte hinter ihm ist. Tut er es, wird sie für immer hier unten bleiben!« Er ruft die Geister herbei, seinen Beschluss ins Dunkel zu tragen, damit alle Schatten, auch Euridices tote, schöne Seele, ihn alsbald vernehmen. Proserpina strahlt. »Du weißt, wie schwer es mir fiel, dir in die Hölle zu folgen, mein Pluto. Doch jetzt will mir der Tag als Glück erscheinen, an dem du mich der Sonne raubtest, denn es herrschen nun Mitleid und Liebe im Hades!« Auch Orfeo ist überglücklich. Voller Stolz blickt er auf sein Instrument. »Allmächtige Leier, die steinernen Herzen des Tartarus hast du erweicht, ich danke dir! Unter den schönsten Sternbildern wirst du deinen Platz haben, die unendliche Milchstraße wird tanzen zu deiner Musik!« Hinter ihm, das fühlt er, geht jetzt Euridice. Ein klitzekleiner Blick nur in die fröhlichen Fenster ihrer Seele würde ihn glücklich machen – es ist aber verboten! Und Pluto ist allmächtig. Oder ist er vielleicht nur neidisch wegen Euridice? Man muss ihm in jedem Fall gehorchen. »Aber was höre ich da?« Es rauscht und lärmt hinter ihm. »Die liebestollen Furien! Wollen sie mir etwa mein kostbarstes Eigentum rauben?« Orfeo platzt vor Neugier, er muss sich umschauen! Und er schaut sich um. »O süßeste Augen, ich kann euch sehen – Liebste!« Doch was ist das? Finstere Nacht liegt plötzlich dort, wo eben noch die Augen der Geliebten leuchteten. »Du bist der Gnade nicht würdig, Sänger!« Schrill tönen die Stimmen der Geister durch die Hölle. »Weh’ mir!« Das ist Euridice. »Ich kehre nicht mehr zurück ans Licht und ins Leben und verliere auch dich, mein Liebstes. Auf immer leb’ wohl, mein Orfeo!« Der Sänger starrt entsetzt ins Leere. »Ich folge dir, Liebste, warte auf mich!« Es geht nicht. Etwas, das stärker ist, zieht ihn gegen seinen Willen immer weiter hinauf ans verhasste Licht. »Lasst mich, ich will zu den Toten!« Irgendwo in ewiger Schwärze murmeln die Geister: »Er besiegte die Hölle. Und wurde besiegt von der Leidenschaft. Ewigen Ruhm ernten nur, die sich selbst besiegen!«
»Du hast geweint?« Er hat geweint. Sein Echo begleitet den einsamen Orfeo durch thrakische Felder. Wie aus den tausend Augen des Riesen Argus hat er geweint, Meere von Tränen. »Du bist ja selbst tief traurig, liebes Echo!« Das Echo nickt. Aber Orfeo denkt nur an Euridice. »Dein kühler, dunkler Schatten, Liebste, wenn er denn je auf diese lieblichen Hügel zurückkehrt, soll meinen Gesang hören. Nur dir ist er gewidmet in aller Zukunft, in allen Sprachen soll er tönen durch die Welt. Wie schön dein Körper war, doch in ihm wohnte eine noch viel schönere Seele, ach!« Weithin klingt Orfeos Seufzer durch das Land. Das Echo antwortet ein letztes Mal. Es sieht Orfeos Vater in einer Wolke herabsteigen vom Himmel, Apoll, der Gott des Lichts und der Musik. Da geht das Echo nach Haus, seine Wohnung ist ja die Ferne. »Warum so traurig, Sänger?« Orfeo sieht den Gott verzweifelt an. »Sag’ mir, Apoll, was soll ich tun?« »Erst warst du himmelhoch begeistert glücklich. Jetzt tauchst du ab in tiefste Trauer. Beides...