Die Digitale Generation - Jugendliche lesen anders

Die Digitale Generation - Jugendliche lesen anders

von: Gerhard Falschlehner

Verlag Carl Ueberreuter, 2015

ISBN: 9783800079223

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 1116 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Digitale Generation - Jugendliche lesen anders



___Neues Lesen?


Das Buch als Wissensmonopol hat ausgedient und wird als Nischenmedium seinen Platz finden. Lesen ändert seinen Charakter: Das lineare Lesen von Schrift bleibt als Basiskompetenz zwar unverändert wichtig, viel häufiger benötigen wir aber digitales Lesen, um uns in multimodalen und multimedialen Räumen zu orientieren.

___Abschied vom Buch


Es ist Zeit, sich von den Büchern zu verabschieden. Sie haben rund 500 Jahre als Leitmedium unserer europäischen Kultur gedient und ihre Sache ganz gut gemacht. Andererseits: Wunder konnten sie auch keine bewirken. Sie konnten keine Tyrannen stürzen, sie haben die beiden Weltkriege nicht verhindert, und die Weltwirtschaftskrisen auch nicht. Bücher sind nicht einmal a priori gut. Weder sprachlich noch moralisch. Schließlich gibt es ja auch Druckwerke wie Mein Kampf oder Zehn Wundermittel gegen Cellulite oder Fifty Shades of Grey. Bücher als Transportmittel des Humanismus sind ein frommer Wunsch selbst ernannter HumanistInnen. Bücher waren auch nicht immer demokratiefördernd, denn letztlich blieben sie früher meist der Oberschicht vorbehalten, die gut lesen und es sich leisten konnte. Fernsehen, Radio und Internet heute sind viel demokratischer: Dazu hat sozusagen jede/r Zugang, und das kann jede/r, beim Internet mit der kleinen Einschränkung, dass man lesen können muss. Bücher halten oft nicht, was sie versprechen: Kein/e LeserIn wurde in 30 Tagen schlank, reich oder berühmt, selbst wenn der Buchtitel das verhieß. Und schließlich wurden Abertausende Schulkinder mit Klassenlektüre und Reihumlesen gequält.

Zeit, Adieu zu sagen. Aber kein Grund, traurig zu sein. Das Buch verschwindet ja nicht wirklich, es verliert nur seine etwas angegraute Rolle als moralische Instanz und als bildungsbürgerliches Prestigeobjekt. Ein ähnliches Schicksal erfuhren übrigens einst auch die Bilder, die jetzt wiederum das Buch und dessen -staben abzulösen scheinen. Jahrtausendelang erzählten und erklärten Bilder den Menschen die Welt, dokumentierten und fabulierten – von den Höhlenmalereien bis zu den Biblia pauperum (Armenbibeln) in Kirchen –, bis die schier grenzenlosen Reproduktionsmöglichkeiten des Buchdrucks die Bildwelten ablösten. Doch auch die Bilder verschwanden durch den Aufstieg des Buches nicht völlig aus unserem Leben, sie bekamen nur einen neuen Stellenwert. Bilder hängen auch heute noch als Original oder in Kopie in Wohn- und Schlafzimmern und tagtäglich besuchen Millionen Menschen Museen und Galerien – freiwillig. Und als Foto erfuhren sie letztlich eine wundersame Transformation. So wird es auch den Büchern gehen, und darin steckt ihre Chance. Sie werden ihren moralinsauren Beigeschmack verlieren, ihre Aura des Verpflichtenden, und bleiben ein wertvolles Kulturgut neben anderen. Menschen, die bisher Bücher lasen, werden das weiter tun. Kinder werden sie als bereicherndes Medium erfahren, neben Tablet und Konsole oder sogar darauf. Und wie eh und je werden Kids in ihrem Zimmer hocken und mit ihrem Buch oder Tablet in ferne Galaxien oder Zauberwelten fliegen. Nicht alle, aber auch nicht weniger als in der Vergangenheit, die zu Unrecht glorifiziert wird. Denn zu keiner Zeit war Buchlesen mehrheitsfähig, sondern immer bloß eine Drittelgesellschaft: Ein Drittel der Population waren und sind gute und überzeugte LeserInnen, ein Drittel sogenannte »potenzielle LeserInnen«, die es grundsätzlich können und es tun, wenn es erforderlich ist, und ein (starkes) Drittel waren zu allen Zeiten NichtleserInnen. Alle anderen Behauptungen von der Lesegesellschaft anno dazumal sind sozialromantischer Schmarren. In vielen ländlichen oder proletarischstädtischen Kreisen gab es keine Bücher und auch keine Zeit dafür.

Vieles wird in Zukunft nicht mehr in Büchern stehen, weil sie technisch überfordert sind und das Internet praktischer ist: Bücher sind am Tag nach dem Druck schon veraltet, Texte in digitalen Medien können jederzeit aktualisiert, ergänzt, mit anderen verknüpft werden. Können in allen Schriftgrößen gelesen, ausgedruckt, übersetzt werden. Können Bücher alles nicht.

Wenn wir endlich aufhören, Bücher gegen die digitalen Medien auszuspielen, dann werden sie freilich einen neuen, wichtigen Platz in der Geistesgeschichte einnehmen: als wunderbares, bereicherndes Nischenprodukt für Menschen, die sich auf Tiefgang begeben und auf Geschichten einlassen wollen. Als in sich geschlossenes, stimmiges Ganzes im Gegensatz zu Medientexten, die ständig in Fluss sind. Und auch die Buchwirtschaft braucht sich nicht zu grämen: Als preiswertes und dekoratives Geschenk ist das Buch immer noch konkurrenzlos.

___Vom Kleingedruckten zum Überkopfwegweiser


Auch vom klassischen Lesen müssen wir uns weitgehend verabschieden: Die »reine« Schrift, also Texte, die wir Buchstabe für Buchstabe von links oben nach rechts unten lesen, ist heute nur mehr die Ausnahme. Bilder, Symbole, Icons und allerlei blinkendes Zeug haben sich unter die Schrift gemischt, sie ergänzt oder gar ersetzt. Hypertext hat die Linearität nachhaltig durchbrochen. Lesen ist nicht mehr, was es einmal war. Verschwinden wird es aber auch nicht. Allen Kassandrarufen zum Trotz haben die digitalen Medien Lesen nicht überflüssig gemacht, sondern sind die wichtigsten Forderer und Förderer des Lesens geworden. Surfen Sie einmal im Internet oder bearbeiten Sie eine E-Mail, wenn Sie AnalphabetIn sind! Im digitalen Zeitalter gibt es kaum einen Beruf, der ohne Rezeption schriftlicher Informationen auskommt: vom Mechaniker, der Ersatzteile via E-Mail bestellen muss, bis zum Landwirt, der neben dem Acker auch noch jede Menge EU-Formulare durchpflügen muss, ist die Berufswelt von Lesenotwendigkeiten durchdrungen, auch in Berufen, in denen das früher nicht nötig war. Auch abseits der digitalen Medien leben wir in einer Informationswelt: Plakate, Hinweisschilder, Bestellformulare, Gebrauchsanweisungen, Sicherheitsbestimmungen. Vom Kleingedruckten zum Überkopfwegweiser: Lesestoff allerorten, den wir benötigen, um irgendeinen Zutritt, eine Erlaubnis, eine Vergünstigung zu erhalten.

Aber ist das noch Lesen? Was tut jemand, der eine Website rezipiert, in der Bilder, Icons, Töne und Buchstaben zusammenstoßen? Wenn jemand versucht, sich auf einem fremden Flughafen anhand von Infoscreens zum richtigen Gate zu bewegen? Hat Lesen immer und hauptsächlich mit Schrift zu tun oder ist es Wahrnehmen von Zeichen im allerweitesten Sinn?

Einen schönen Beitrag zu dieser Frage lieferte der argentinische Schriftsteller Alberto Manguel:

»Das Lesen von Buchstaben auf einer Seite ist nur eine ihrer Erscheinungsformen. Der Astronom liest am Himmel in Sternen, die längst nicht mehr existieren; [...] Jäger und Naturforscher lesen die Wildfährten im Wald; Kartenspieler lesen die Gesten und Mienen ihrer Partner, bevor sie die entscheidende Karte ziehen. Balletttänzer lesen die Notierungen des Choreographen, und die Zuschauer lesen dann die Figuren des Tanzes auf der Bühne. Teppichweber lesen die verschlungenen Muster eines gewebten Teppichs, Organisten lesen mehrere simultane Stimmen, um sie zu einem orchestralen Klang zusammenzuführen, Eltern lesen im Gesicht ihres Babys, um nach Anzeichen der Freude, der Angst oder des Staunens zu suchen. Chinesische Wahrsager lesen uralte Zeichen, die in den Panzer einer Schildkröte geritzt sind, Liebende lesen den Körper der Geliebten nachts im Dunklen unter der Decke. Psychologen helfen ihren Patienten, die eigenen befremdlichen Träume zu lesen; hawaiische Fischer lesen die Meeresströmungen, indem sie die Hand ins Wasser halten; der Bauer liest am Himmel, welches Wetter zu erwarten ist, und alle teilen sie mit den Lesern von Büchern die Fähigkeit, Zeichen zu erkennen und mit Bedeutung zu füllen.«1

Die digitale Medienwelt legt einen weitgefassten Lese- und Textbegriff nahe. »Lesen« kommt vom Lateinischen »legere« und heißt »sammeln«; »Textur« bezeichnet ein Gewebe. Das passt gut ins digitale Zeitalter: Wir sammeln Informationen aus einem Gewebe von Zeichen. Bilder übernehmen bedeutungstragende Funktionen, Icons und Fotos ersetzen und ergänzen die Schrift. Wir lesen in unterschiedlichsten Modi und Medien, mit allen Sinnen, hörend, fühlend und riechend: Pieps- und Signaltöne weisen Computer- und MobiltelefonbenutzerInnen zurecht, Rüttellinien wecken uns auf Autobahnen, weil wir über die Fahrspurbegrenzung geraten sind, Duftspuren locken uns in U-Bahngängen zur nächsten Bäckerei mit frischen Croissants.

Was früher zwischen Buchdeckeln oder Heftseiten gedruckt wurde, der Text, löst sich immer öfter vom Papier und begegnet uns in vielfältigen realen und virtuellen Räumen und in multimodalen Informationssystemen. Das Design, das Layout, die Gesamtarchitektur der Information übernimmt eine tragende Rolle, um die verschiedenen Modi zusammenzuführen: das Leitsystem eines Flughafens oder einer U-Bahn, das weltweit gleiche Corporate Design von Handels- oder...

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