Selbsthilfe bei Angst im Kindes- und Jugendalter - Ein Ratgeber für Kinder, Jugendliche, Eltern und Erzieher

Selbsthilfe bei Angst im Kindes- und Jugendalter - Ein Ratgeber für Kinder, Jugendliche, Eltern und Erzieher

von: Sigrun Schmidt-Traub

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783840926433

Sprache: Deutsch

170 Seiten, Download: 1485 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Selbsthilfe bei Angst im Kindes- und Jugendalter - Ein Ratgeber für Kinder, Jugendliche, Eltern und Erzieher



[18][19]1 Die diagnostische Einschätzung von Angst

1.1 Normale Angst

Merke:

Jeder kennt Angst. Manchmal lässt sie einen nachts aus einem unangenehmen Traum hochschrecken. Oft vergehen Minuten, bis wir uns in unserem Schlafzimmer orientieren können und wieder zur Ruhe kommen. Oder wer kennt nicht den Schrecken, der einen jählings befällt, wenn man plötzlich von einem Auto geschnitten wird? In der Regel reagieren wir blitzschnell und situationsgerecht, reißen den Lenker herum und treten auf die Bremse. Erst wenn die Gefahr vorüber ist, wird in uns ein Sturm entfacht: Das Herz schlägt bis zum Hals hoch, der Körper bebt, die Knie werden weich und manches um uns herum erscheint wie entfernt.

Je nach persönlicher Einschätzung der Gefahr und der eigenen Erlebnisweise dauert es unterschiedlich lang, bis sich der Gefühlsaufruhr im vegetativen Nervensystem legt. Nur selten währt er länger als eine halbe Stunde.

Angst ist ein lebensnotwendiges Gefühl und wird auf Gefahr hin ausgelöst, sogar schon auf die bloße Vorstellung von Bedrohung. Angst ermöglicht kurz entschlossenes, rasches Handeln, ohne dass wir nachdenken müssen, scheinbar automatisch. Das Gefühl Angst arbeitet als Alarmsystem und löst Schutzverhalten aus, rüttelt uns durch und mobilisiert ungeahnte leib-seelische Kräfte, mit denen wir entweder einer Gefahr begegnen und kämpfen oder weglaufen, um uns in Sicherheit zu bringen. Angst ist ein unverzichtbares menschliches Grundgefühl.

In leichter Form ist Angst manchmal Lust bringender Kitzel, z. B. beim Bungeespringen, in einem Horrorfilm oder bei hohem Spieleinsatz. Außergewöhnliches Risikoverhalten versetzt einige in einen Zustand von leichter Erwartungsangst und Neugier. Diese Spannung bereitet königliches Vergnügen.

[20]Menschen sind unterschiedlich empfänglich für Angsterleben. Gene legen bis zu einem gewissen Grad bereits fest, wie das Gehirn, das für das emotionale Erleben zuständig ist, neuropsychologisch arbeitet und auch wie sensibel jemand für Angst ist. Obwohl Eigenschaften wie Ängstlichkeit und Scheu teilweise genetisch vorprogrammiert sind, bleiben sie nicht unveränderlich gegenüber Umwelteinflüssen wie erzieherischen oder therapeutischen Bemühungen. Ängste werden zu einem erheblichen Teil durch Lernen beeinflusst.

Kinder, die von Geburt an eine überhöhte Angstbereitschaft haben, sind oft schüchtern, schreckhaft, zurückhaltend, rasch entmutigt und oftmals überfordert in Situationen, in denen sie in Erregung geraten. Sie reagieren lieber mit Schadensbegrenzung und weichen meist schon vor kleinen Gefahren aus. Dadurch sind sie weniger durchsetzungsfähig als Kinder mit einem ganz anderen Temperament – kesse, neugierige Kinder, die besonders risikofreudig reagieren. Wie ängstlich Kinder und Jugendliche später einmal werden, hängt ganz wesentlich davon ab, welche Erfahrungen sie in ihrem weiteren Leben machen und inwieweit sie dazu ermutigt werden, offen, selbstständig und mutig zu handeln.

Ein Zuviel an Angst schränkt Kinder in ihrer Entwicklung ein. Umgekehrt leben Kinder, die überhaupt keine Angst haben, aber auch nicht so sicher. Empfindet nämlich ein Kind weder Angst noch Argwohn, kennt es weder Gefahr noch Schutzbedürfnis, dann verhält es sich mitunter draufgängerisch. Zwangsläufig sind solche Kinder häufiger unfallgefährdet. Für die Entwicklung von Autonomie, Selbstbewusstsein und Lebenstüchtigkeit ist ein ausgewogenes Verhältnis von zu viel Angst und zu wenig Bammel von ganz entscheidender Bedeutung.

Allgemeingültige Maßstäbe für die Erziehung zur Angstfreiheit gibt es nicht, denn Kinder sind von Geburt an unterschiedlich ausgerüstet mit Robustheit, Temperament und Sensibilität. Vielleicht wird eine gute Balance zwischen zu viel und zu wenig Angst deutlich, wenn wir uns das Gegenteil von Angst vorstellen und nach Eigenschaften von angstfreien Personen fragen. Setzen wir an den einen Endpunkt einer Geraden Furcht, Panik und Unselbstständigkeit. Am anderen Ende liegt dann Unerschrockenheit, Waghalsigkeit und Selbstüberschätzung. Zwischen [21]beiden Endpunkten fließt das Angst-Kontinuum. Eine gesunde Entwicklung setzt voraus, dass Kinder weder zum einen noch zum anderen Extrem erzogen werden.

1.2 Angstinhalte bei Kindern und Jugendlichen

Merke:

Jedes Kind macht im Verlaufe seiner Entwicklung verschiedene Angstphasen durch. Dabei wechseln Qualität und Inhalte der Angst mit dem Ausreifen des kindlichen Wahrnehmungs- und Beurteilungsvermögens. Zunächst sind es ganz konkrete Angstinhalte, die kleinere Kinder quälen. Im Laufe der Entwicklung werden die Angstinhalte globaler, abstrakter und vorhersehbarer. Ältere Kinder und Jugendliche haben auch vermehrt ängstliche Erwartungen.

Am häufigsten wird bei Kleinkindern die Angst vor sehr intensiven Reizen, insbesondere vor lauten Geräuschen, beobachtet (0 bis 6 Monate). Zwischen dem 4. und 6. Lebensmonat nimmt das Lächeln des Säuglings fremden Personen gegenüber – im Vergleich zu vertrauten Personen – deutlich ab. Nachdem die optischen Unterscheidungsfähigkeiten des Kindes voll entwickelt sind, bekommen Dreiviertel der Babys in der sogenannten Fremdelphase Angst vor fremden Personen (7 bis 12 Monate).

Vom 8. bis 24. Monat erlebt das Kind Trennungsangst (vgl. Kapitel 1.6.1): Es schreit und zeigt physiologische Angstreaktionen, sobald die vertraute Person weggeht. Vom 25. Monat an wird die Angst vor Fremdem normalerweise schwächer und bis zum 30. Monat verschwindet sie. Zu (erneuter oder intensivierter) Trennungsangst kann es beim Eintritt in den Kindergarten oder bei Schulbeginn kommen. In einigen Fällen entsteht Trennungsangst auch anlässlich eines plötzlichen Krankenhausaufenthalts von Mutter oder Kind. Außerdem kann Trennungsangst nach dem Verlust eines Elternteils oder einer nahestehenden Bezugsperson erneut aus den Fugen geraten.

Zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr haben besonders viele Kinder Angst vor Hunden, Dunkelheit, Alleinsein, Verletzungen, lauten Geräuschen [22](Platzen von Luftballons) und Naturgewalten. Bis zur Einschulung erleben sie Angst vor Donner und Blitz, Ungeheuern und Gespenstern, Einbrechern, Spritzen, zahnärztlichen und anderen medizinischen Behandlungen.

Im Alter von 7 bis 12 Jahren haben Kinder vermehrt Angst vor sozialen Situationen, insbesondere vor Leistungsversagen in der Schule. Sie fürchten sich aber auch vor Verletzung, medizinischen Eingriffen (Blutabnahme, Spritzen), Sterben und Tod. Mit 8 bis 10 Jahren begreifen die meisten Kinder allerdings erst richtig, dass der Tod unwiderruflich ist. Ab diesem Entwicklungsalter fürchten sich viele vor schwerer Krankheit und Sterben, insbesondere dann, wenn sie eine Sensibilität für Angsterleben haben und erst recht, wenn es auch noch Verlusterlebnisse gab, wie den Tod von Opa, Oma oder einem Elternteil.

Im Vergleich zu den Kleineren fürchten sich ältere Kinder und Jugendliche wesentlich mehr vor Versagen und sozialer Bewertung. Häufig malen sie sich aus, wie sie in der Schule für dumm gehalten werden oder sich lächerlich machen. In der Pubertät kommt noch die Angst vor körperlich-hormonellen Veränderungen, sexuellen Gefühlen und diesbezüglichem Kontrollverlust hinzu. Diese sozialen Ängste belasten besonders nachhaltig das Selbstwertgefühl.

Normalerweise legen sich diese entwicklungsspezifischen Ängste von ganz allein. Versteht das Kind die vorliegende Bedrohung jedoch nicht ausreichend und kann es nicht genügend oder gar keine Kontrolle auf die Gefahr ausüben, bekommt es vermutlich immer wieder Angst. Selbst wenn das Angsterleben für das Kind störend ist und es durch das Angsterleben eingeschränkt wird, gehören diese Ängste zu einer normalen kindlichen Entwicklung. In der Regel sind die Ängste kurzlebig, weil das Kind sich mit der Zeit an das, wovor es sich fürchtet, gewöhnt.

Merke:

Unter herzlicher, aber fester Führung durch einfühlsame Eltern lernen Kinder, sich ihren phobischen Ängsten zu stellen. Dadurch gewöhnen sie sich an die Angst, nehmen immer mehr Einfluss darauf und überwinden sie schließlich. Ohne erzieherische Hilfe gelingt dies einigen Kindern nur schwer.

[23]Werden Kinder dagegen zu sehr beschützt und zu wenig beim Erlernen von eigenständigem und mutigem Verhalten unterstützt, kann die entwicklungsbedingte kindliche Angst leicht in eine handfeste phobische Angst übergehen, die eine normale Weiterentwicklung erschwert.

1.3 Normale Angst im Vergleich zu panischer und phobischer Angst

Angst vor Gefahr ist, wie gesagt, eine lebensnotwendige, biologisch vorbereitete Reaktion. Sie gehört zu den wichtigsten menschlichen Grundgefühlen neben Trauer, Freude und Wut. Angst hat die Aufgabe, den Menschen in kürzester Zeit auf Höchstleistung zu trimmen, damit er flüchten oder kämpfen kann. In der Süddeutschen Zeitung wurde am 12.3.2001 berichtet, wie ein 12-Jähriger sich als Hilfssanitäter bewährt hat: Während die Mutter gerade beim Bäcker war, fiel der 4 Jahre jüngere Bruder beim Spiel in eine Glasscheibe. Seine Armsehne war durchtrennt und er musste sich übergeben. Sein großer Bruder stand ihm hilfreich bei: Er rief die Feuerwehr an und verband nach telefonischer Anweisung den stark blutenden Arm des Kleinen. Erst als die Mutter nach Hause kam, bekam der Aushilfssanitäter „das große Zittern“.

Merke:

Bei echter Gefahr reagieren fast alle Kinder, Jugendliche und Erwachsene der Situation vollkommen angemessen, ohne viel dabei...

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