Digitale Hysterie - Warum Computer unsere Kinder weder dumm noch krank machen

Digitale Hysterie - Warum Computer unsere Kinder weder dumm noch krank machen

von: Georg Milzner

Beltz, 2016

ISBN: 9783407222442

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 3039 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Digitale Hysterie - Warum Computer unsere Kinder weder dumm noch krank machen



Einleitung


I


Ist es nicht verrückt, was mit unseren Kindern geschieht? Sie kommen von der Schule nach Hause, und das Erste, was sie ersehnen, ist das Lenkrad für die Wii oder der Zugang zum iPod. Anstatt nach draußen zu gehen oder zu lesen, Lego zu bauen, mit Freunden zusammenzusitzen oder Fußball zu spielen, ist es der Zugang zum elektronischen Spiel, den sie suchen. Haben sie dann halbherzig die Erlaubnis erhalten, für eine halbe Stunde am Computer zu spielen, so gibt es alsbald ein Problem. Denn die halbe Stunde genügt nicht, es ist eben eine neue Spielmöglichkeit eingetreten, ein neues Level hat begonnen, oder es fehlen nur noch wenige Punkte, um …

Beharren wir, die Erwachsenen, darauf, dass das Gerät jetzt, nach Ablauf der abgesprochenen 30 Minuten abgeschaltet wird, jetzt also, so stehen Katastrophen im Raum. Das geht nicht, nicht sofort, es ist wahnsinnig gemein, dieses Level muss noch gespielt werden, bitte noch nicht, gleich! Aus. Der Kasten ist aus, der Bildschirm schweigt, ein wütendes Kind stürmt aus dem Zimmer, halb weinend und halb ohnmächtig vor Zorn, zumindest aber keinesfalls bereit, mit seiner Zeit nun etwas »Sinnvolles« anzufangen.

Kennen Sie das? Oder kennen Sie Eltern, die das kennen? Es kommt in den meisten Familien vor, in jedem zweiten Haushalt schätzungsweise. Doch es gibt auch die andere Variante, in der Eltern nicht regulierend eingreifen, und da spielt das Kind dann weiter, Stunde um Stunde. Die Stimmungskrise bleibt nun zwar aus, aber der Schaden verlagert sich nur. Kinder, die nach einer mehrstündigen Stimulationsorgie vom Computer kommen, fallen am Morgen durch Unruhe auf. Sie machen den Klassenclown, stoßen seltsame Laute aus (die die Lehrerin nicht kennen kann, weil sie die einschlägigen Spiele nicht kennt), versagen beim Diktat und haben Mühe mit den einfachsten Rechenschritten. Und irgendwie wirken sie stumpf und überhitzt zugleich, sind vom Unsinn magisch angezogen und reagieren doch auf jeden Spaß nur ganz kurz, als müsse alsbald ein weiterer kommen und das Entertainment am Laufen halten.

Was ich hier in kurzen Absätzen entwerfe, das sind Szenarien, von denen ich tagtäglich höre oder die mir tagtäglich begegnen. Manchmal in milderer, oftmals auch in gesteigerter Form. Dazu sehe ich Erwachsene, Eltern zumeist, die entweder von Sorge geprägt oder aber dem Bildschirm selbst schon in auffälliger Weise zugeneigt sind. Entstehen dann, entweder im Umfeld von Vorträgen oder in klinischen Sitzungen, Gespräche, so ist von einem Wunsch nach Orientierung die Rede, von einem Bedürfnis, herauszufinden, was denn nun gut ist an der fortschreitenden Computerisierung und was man den Kindern eigentlich verbieten müsste. Verwirrung ist das hauptsächliche Merkmal dieser Gespräche oder vielmehr der Fragen, die hier im Raum stehen. Verwirrung angesichts von Entwicklungen, die die Erwachsenen mit Sorge erfüllen, während die Kinder und Jugendlichen sie eher begrüßen. Ist dieser Zwiespalt nun etwas, das auf eine Gefahr verweist, die die Nachwachsenden noch nicht zu begreifen vermögen? Etwas, vor dem man sie warnen oder das man zumindest unter Kontrolle behalten muss? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Betrachten wir die Angelegenheit doch einmal anders …

II


Ist es nicht irre, was mit unseren Kindern geschieht? Sie aktivieren ein Smartphone mit lässiger Sicherheit und können nach kurzer Zeit mehr damit anfangen als ihre Väter und Mütter zusammen. Wenn der Computer Probleme macht, dann fingern sie mit der Miene von Fachleuten an Kabeln und Steckern herum und finden mitunter auch heraus, was zu tun ist. Und fährt man mit ihnen virtuelle Autorennen, dann kann es geschehen, dass sie darin die Besten sind. Und wir höchstens die Zweitbesten.

Ja, heutige Kinder finden sich leicht in der Welt der digitalen Technik zurecht. Sie sind begeistert von ihren Möglichkeiten und sie möchten alle gern nutzen. Wo ein Bildschirm ist, dahin wandert ihre Aufmerksamkeit. Und es gibt viele Bildschirme in unserer Welt. Ja, unsere Kinder sind begeistert von der neuen Technologie, die sie umgibt. Und sie lösen Kopfschütteln aus, wenn sie ihren Eltern oder Lehrern im Umgang damit etwas vormachen.

Es besteht kein Zweifel daran, dass Kinder in der digitalen Welt tatsächlich etwas lernen. Nur was? Und braucht man das wirklich? Und schadet es nicht mehr, als es nützt? Dies sind die Fragen, die gegenwärtig Eltern, Lehrer, Erzieherinnen, Kinderpsychologen und Kinderärztinnen beschäftigen. Eine vernünftige Antwort darauf wurde noch nicht gefunden, und das hat zur Folge, dass abermals Verwirrung das öffentliche Bild beherrscht.

Mit den Jugendlichen ist es nicht anders. Sie surfen im Internet und bekommen die Informationen, die sie benötigen, mit derselben Leichtigkeit, mit der sie einen Hamburger verzehren. Zu Facebook und zu Google haben sie ihre Meinung, oftmals eine sehr kritische, aber beide werden dennoch von ihnen benutzt, und das völlig selbstverständlich. Sie können Tage und Nächte mit Online-Spielen verbringen und entwickeln dabei ein strategisches Denken, das sich für Kriege oder Katastrophenszenarien bestens eignen würde.

Aber will man so etwas können? Und wollen wir, dass unsere Kinder das erlernen? Müsste bei Kindern nicht doch eher an der Entwicklung vertrauter und bewährter Fähigkeiten gearbeitet werden? Sollten Kinder also nicht vielmehr Sport treiben, ein Instrument spielen lernen und vor allem sicherstellen, dass sie die eigene Sprache beherrschen? Lernen die Heranwachsenden in unserer Lebenswelt also womöglich einfach das Falsche? Und verlieren damit ihr Gefühl für sich selbst?

Ja, es gibt solche Entfremdungsprozesse. Denn Kinder und Jugendliche werden anders in unserer Welt. Sie entwickeln andere Kompetenzen, aber sie bekommen auch neuartige Störungsbilder. Das leuchtet ein, denn sie stellen sich ja auf die Welt ein, die sie umgibt. Und wenn wir auch weiterhin ins Kino gehen und Bücher lesen, so lässt sich doch kaum leugnen, dass der Computer unsere Welt völlig verändert hat. In seiner Vielgestalt – ob als Laptop oder Industrieroboter, als Smartphone oder Autopilot – ist er, anders als das Kino oder das Buch, gleichsam überall, und es ist nicht übertrieben, in der Digitalisierung den wesentlichen Faktor für die Veränderung unserer modernen Welt zu sehen.

III


Doch auch wir Erwachsenen haben uns verändert. Zwar geht der besorgte Blick in der Regel zu den Kindern hin. Doch könnte er mit derselben Berechtigung auch auf uns selbst ruhen. Möglicherweise sogar mit mehr Berechtigung. Denn wenn man bei Kindern und Jugendlichen davon ausgehen muss, dass sie in die digitalisierte Welt hineinwachsen und daher gar keine andere Wahl haben, als sich computerkundig zu machen, so sind viele Erwachsene in einer anderen Lage. Sie sehen zwar die zunehmende Digitalisierung und sind in der Regel mit ihren Anforderungen vertraut, ja, viele von ihnen sind in die digitale Welt bereits hineingewachsen. Doch sie bejahen diese Welt meiner Erfahrung nach oftmals nicht vorbehaltlos. Eltern nutzen die modernen Medien, weil es bequem ist und mehr Möglichkeiten bietet. Aber sie möchten von ihnen nicht selbst verändert werden.

Doch genau dies geschieht. Geschieht nicht in ferner Zukunft, sondern heute und hier. Wer zum Beispiel ein Smartphone benutzt, verändert seine Kommunikation. Eine eingehende Message ist nun womöglich wichtiger als das soeben mit einem Kind gespielte Spiel. Nicht, weil sie tatsächlich wichtiger wäre. Aber es entsteht der Eindruck, dass die Nachricht an Dringlichkeit das reale Kinderspiel übertrifft. Technik erzeugt den Eindruck von Hierarchie. Und in dieser Hierarchie rutscht die reale Welt gegenwärtig Sprosse für Sprosse nach unten.

Schon als Student habe ich an Untersuchungen mitgearbeitet, die die Veränderung von Kommunikation und Bewusstsein durch Computer erforschten. Das Thema beschäftigt mich bis heute. Allerdings hat sich die Art, wie es mich beschäftigt, ziemlich verändert. Als Psychotherapeut bin ich heute zum Beispiel mit Jugendlichen konfrontiert, die von sich selbst sagen, sie seien süchtig nach Computerspielen. Ich höre Männer sagen, sie wüssten nicht, ob sie sexsüchtig seien,...

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