Handbuch der Psychotraumatologie

Handbuch der Psychotraumatologie

von: Günter H Seidler, Harald J Freyberger, Andreas Maercker, Harald J. Freyberger, Günter H. Seidler

Klett-Cotta, 2015

ISBN: 9783608202717

Sprache: Deutsch

750 Seiten, Download: 7217 KB

 
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Handbuch der Psychotraumatologie



2. Theorien zum Verständnis von Dissoziation 2.1 Einleitung Als Hauptmerkmal der Dissoziation und der korrespondierenden dissoziativen Störungen beschreibt das DSM-IV-TR »eine Unterbrechung der normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität oder der Wahrnehmung der Umwelt«. Die ICD-10 weitet die Desintegration auch auf die neurophysiologischen Systeme der Motorik, Sensibilität und Sensorik aus. Alternative Ansätze konzipieren Dissoziation als Gegenteil von Assoziation und damit als Trennung von Wahrneh Tab. 1: Übersicht zu den Bedeutungsfeldern der Dissoziation (nach Cardena, 1994) I. Dissoziation als nicht bewusste oder nicht integrierte mentale Module oder Systeme A. Dissoziation als fehlende bewusste Perzeption von Wahrnehmungsreizen oder von Verhalten - Registrieren subliminaler Stimuli - automatisierte motorische Handlungen B. Dissoziation als Koexistenz getrennter mentaler Systeme, die normalerweise im phänomenalen Bewusstsein integriert sind - zustandsabhängige Amnesie - zustandsabhängiges Lernen - Existenz des versteckten Beobachters in Hypnoseexperimenten C. Dissoziation als Inkonsistenz der Verhaltens- und Wahrnehmungsebene und der Körperkontrolle - »repressiver« Copingstil mit mangelnder Übereinstimmung zwischen verbalem Bericht und objektivierbarer körperlicher Reaktionslage - Hypnose - Konversionssyndrome II. Dissoziation als verändertes Bewusstsein mit einer Entfremdung von Selbst und Umwelt - Depersonalisation und Derealisation - Ekstaseerlebnisse, mystische Erfahrungen - autoskopische Phänomene III. Dissoziation als Abwehrmechanismus - funktionale Abwehr oder grundlegender mentaler Rückzugsmodus vor einer überwältigenden physiologischen oder psychologischen Bedrohung mungs- und Gedächtnisinhalten im Alltagsbewusstsein (Ross, 1997). Diese Aufzählung heterogener De?nitionen - die problemlos zu erweitern wäre - verdeutlicht, dass sich das Konstrukt der Dissoziation »nach wie vor einer klaren begrif?ichen Bestimmung« entzieht (Kapfhammer, 2008). Bereits 1994 machte Cardena auf die »semantische Offenheit« des Begriffs aufmerksam und arbeitete die vielfältigen Bedeutungsfelder des Dissoziationsbegriffs heraus, der einerseits deskriptiv, andererseits erklärend verwandt wird. Seine Systematik ist zusammenfassend in Tabelle 1 (S. 22) dargestellt. Cardena (1994) plädiert dringend dafür, Phänomene, die aufgrund neurophysiologischer Voraussetzungen per se nicht bewusstseinsfähig sind (Punkt I.A), nicht unter dem Terminus Dissoziation zu subsumieren. Mit Blick auf die Phänomenologie können auf der Grundlage der Operationalisie rungen des Dissoziationsbegriffs des DSMIV-TR und der ICD-10 dissoziative Funktionsauffälligkeiten klinisch systematisiert wer den (Spitzer et al., 2004; vgl. Tab. 2). Dabei deckt sich diese klinische Systematik nicht vollkommen mit den als dissoziativ klassi?zierten Störungsbildern, wie sie in den aktuellen Diagnosemanualen definiert sind, zumal ICD-10 und DSM-IV-TR in ihrer Einteilung differieren (vgl. dazu auch Kap. C7: Dissoziative Störungen). Gleichzeitig verdeutlicht diese Systematik, dass sich der beschreibende und erklärende Aspekt des Dissoziationsbegriffs nicht immer eindeutig voneinander trennen Tab. 2: Klinische Systematik dissoziativer Phänomene Dissoziative Funktionsstörungen* . . . des Bewusstseins - Bewusstseins verminderung - Bewusstseinstrübung . . . des Gedächtnisses - dissoziative Amnesie - gesteigerte Erinnerung . . . der personalen Identität - Besessenheit - Identitätsunsicherheit . . . der Wahrnehmung von Selbst und Umwelt - Depersonalisation - Derealisation . . . der Körpermotorik - Bewegungsstörungen - Koordinationsstörungen . . . der Sensibilität und Sensorik - Sensibilitätsstörungen - Sehstörungen - Hörstörungen - Bewusstseinseinengung - Bewusstseins verschiebung - Déja-vu-Erleben - Identitätswechsel - Fugue - verändertes Zeiterleben - verändertes Raumerleben - Sprachstörungen - Krampfanfälle - Riechstörungen - Geschmacksstörungen * Der Begriff (Funktions-) Störung bezieht sich in diesem Kontext nicht auf hypothetische Krank heits entitäten, sondern kennzeichnet eine Auffälligkeit im Sinne einer gestörten Funktion auf Symptom- bzw. Syndromebene. lassen. Vergleichsweise gut gelingt dies z. B. bei der dissoziativen Amnesie, denn hier finden sich genügend klinische Merkmale, die auf der phänomenologischen Ebene eine Differenzierung zu organisch begründeten Amnesien erlauben. Hingegen ist bei einer Bewusstseinseinengung klinisch zunächst nicht eindeutig zu unterscheiden, ob diese als dissoziativ oder vor einem anderen ätiopathogenetischen Hintergrund zu werten ist. Kurzum: Die Klassi?kation als dissoziativ rekurriert implizit auf ein ätiopathogenetisches Modell, welches in den meisten Fällen jedoch nicht explizit gemacht wird. Gemeinsam ist dabei allen Theorien, dass ihnen gemäß Dissoziation als Prozess bzw. klinisches Symptom respektive Syndrom von psychosozialen Belastungen im weiteren Sinne bzw. traumatischen Erlebnissen im engeren Sinne bedingt wird. Während jedoch das DSM-IV-TR in seinen diagnostischen Kriterien nur bei der dissoziativen Amnesie einen direkten Bezug zu traumatischen oder belastenden Erlebnissen herstellt, fordert die ICD-10 hingegen für alle dissoziativen Störungen einen zeitlichen Zusammenhang mit einer psychosozialen Belastung - auch wenn diese vom Patienten selbst geleugnet wird. Insgesamt besteht Konsens darüber, dass die Dissoziation mit psychosozialen Belastungen bzw. traumatischem Stress assoziiert ist (Bremner & Marmar, 1998; Fiedler, 2008). Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass dissoziative Symptome als wichtige diagnostische Kriterien bei der akuten und Posttraumatischen Belastungsstörung und der Borderline-Persönlichkeitsstörung, die von manchen Autoren als Variante der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung verstanden wird (Lewis & Grenyer, 2009), aufgeführt werden. Wie der Zusammenhang im Einzelnen zu verstehen ist, wird jedoch in den diversen theoretischen Modellen sehr unterschiedlich konzipiert (Fiedler, 2008; Eckhardt-Henn, 2004). Vor einer genaueren Erläuterung dieser Theorien werden zunächst mit Hilfe eines historischen Rückblicks die Grundlagen des Dissoziationsbegriffs dargelegt. 2.2 Historischer Rückblick Vermutlich war es der französische Psychiater Jacques Joseph Moreau de Tours, der den Begriff Dissoziation erstmals benutzte. Er verstand darunter eine Abspaltung oder Isolation mentaler Prozesse von einem ?Ich?. Seine Untersuchungen standen im Zusammenhang mit dem damals weitverbreiteten Interesse an Mesmerismus und künstlichem Somnambulismus, also Momenten der dynamischen Psychiatrie, die letztendlich genauso zentral waren wie das Hysterie konzept (Ellenberger, 2005; Van der Hart & Nijenhuis, 2009). Dabei beobachtete man bei den Patienten veränderte Bewusstseinszustände mit ihnen eigenen Gedanken und Erinnerungen, die außerhalb des normalen Wachbewusstseins zu existieren schienen. Zur Beschreibung dieser Beobachtungen wurden dafür sowohl in der französischen als auch in der deutschen Psy ch iatrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Termini wie Teilung und Spaltung oder Verdoppelung eingeführt. Die Grundlagen für unser heutiges Dissoziationsverständnis wurden jedoch von Pierre Janet geschaffen, der in seiner Dissertation L'automatisme psychologique von 1889 ein elaboriertes Modell vorlegte. 2.2.1 Janets Ausarbeitung des Dissoziationsbegriffs Während seiner Lehrtätigkeit als Philosophieprofessor arbeitete Pierre Janet auch im Krankenhaus von Le Havre und unternahm selbständig psychiatrische Forschungsarbeiten über Patienten mit Hysterie und Neurasthenie, welche die Grundlage für seine Doktorarbeit bildeten. Später studierte er Medizin und arbeitete auf Jean-Martin Charcots Stationen am Hôpital Salpêtrière. Charcot ließ für Janet ein Forschungslabor für Experimentalpsychologie einrichten, wo er seine Forschungen zur Hysterie und Hypnose fortsetzte (Hantke, 1999). Ähnlich wie wenig später Freud entwickelte Janet in seiner Auseinandersetzung mit hysterischen Patienten nicht nur ein Erklärungsmodell für diese Erkrankung, sondern vielmehr eine generelle Theorie zur Funktionsweise des psychischen Apparates. Dabei ging er davon aus, dass sich das mentale Leben aus psychischen Elementen, die er als »psychologische Automatismen« bezeichnete, zusammensetze. Jedes dieser Elemente bestehe aus einer komplexen Handlungstendenz, die auf eine de?nierte Reizsituation gerichtet sei und sowohl eine Vorstellung als auch eine Emotion umfasse. Diese Automatismen seien das Resultat der größtenteils automatischen Integration von Umwelt- und Körperinformation. Die Anpassung an eine sich ständig verändernde Umwelt macht es nach diesem Modell erforderlich, dass neue Informationen in Abgleich und ständiger Überarbeitung der alten Automatismen verarbeitet werden können. Bei gesunden Menschen gelingt diese Synthese, und die Automatismen sind miteinander verbunden, gewissermaßen in einem dominanten Bewusstseinszustand vereint und damit zumindest potentiell der Wahrnehmung und willentlichen Kontrolle zugänglich. Durch eine Einengung des Bewusstseinsfeldes kann es zu einer Schwächung der Syntheseleistung kommen und damit zu einer Emanzipation einzelner Elemente bzw. psychischer Funktionen. Genau diese Verselbständigung nennt Janet Dissoziation. Diese dissoziierten Elemente, in denen kognitive und affektive Informationen gespeichert seien, bezeichnet er als »idées ?xes «. Weil sie eben nicht angemessen synthetisiert und damit in das Bewusstsein integriert werden können, wirken sie eigendynamisch und unterliegen nicht mehr oder nur noch partiell der willentlichen Kontrolle. Die Ursache für eine geschwächte Syntheseleistung sieht Janet in intensiven emotionalen Reaktionen auf belastende respektive traumatische Erlebnisse. Durch die überwältigenden Affekte kommt es also in Janets Modell zu einem Verlust der integrierenden Kapazität des Bewusstseins, der wiederum zu einer Verengung des Bewusstseinsfeldes als Grundlage für Dissoziation führt. Dabei hängen die Auswirkungen traumatischer Ereignisse jedoch nicht nur von ihrer Intensität und Dauer ab, sondern eben auch von der Intensität der emotionalen Reaktion der Betroffenen. Diese wird ihrerseits von lebens- und lerngeschichtlichen, persönlichkeitspsychologischen, genetischen und situativen Fakto ren wesentlich determiniert (Hantke, 1999). Damit formuliert Janet ein psychotraumatologisch orientiertes Dissoziationskonzept , das letztendlich jedoch auf einem DiatheseStress-Modell fußt (Kapfhammer, 2008). Der prämorbiden Vulnerabilität kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Keineswegs muss eine Dissoziation immer durch ein intensives äußeres Trauma ausgelöst werden. Vielmehr ist es oft die persönlichkeitsinhärente Reagibilität einer Person zu überschießenden Emotionen, die traumatogen wirkt und zur psychopathologischen Störung führt. Trotz seines Differenzierungsgrades und seiner hohen Erklärungskraft konnte sich Janets Dissoziationskonzept nicht durch setzen. Obwohl um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Frederic Myers in England und William James, Morton Prince und Boris Sidis in den USA dem Modell eine zentrale Stellung beimaßen, geriet es ab etwa 1910 zunehmend in Vergessenheit. Dazu haben vor allem die Einführung des Schizophreniebegriffs durch Eugen Bleuler, das Aufkommen des Behaviorismus mit seiner Vernachlässigung innerpsychischer Vorgänge und die Dominanz psychoanalytischer Erklä rungen für die Hysterie beigetragen (Kihlstrom, 1994). Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass Sigmund Freud gerade zu Beginn seiner Auseinandersetzungen mit hysterischen Patienten durchaus Be zug auf Janets Dissoziationskonzept nahm, wobei er es allerdings vermied, dessen Überlegungen hervorzuheben. In Freuds weiterer Theoriebildung wurde dann die Bedeutung real-traumatischer Erfahrungen zugunsten triebbedingter, kon?ikthafter intrapsychischer Prozesse relativiert, und Janets Dissoziationsmodell wird in Freuds Metapsychologie durch das Konzept der Verdrängung ersetzt. Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um eine bloße Veränderung in der Begrif?ichkeit; vielmehr unterscheiden sich Janets und Freuds Vorstellungen über die Funktionsweise des psychischen Apparates fundamental (Nemiah, 1998; Hantke, 1999). Während das Interesse am Dissoziationskonstrukt zwischen 1920 und Mitte der 1960er Jahre regelrecht abebbte, kam es spätestens seit Anfang der 1970er Jahre zu einer Renaissance. Dazu haben verschiedene Entwicklungen beigetragen: n die Betonung der epidemiologischen und klinischen Bedeutung von Kindesmisshandlung, vor allem intrafamiliärem Inzest, durch die zweite Welle der Frauenbewegung; n die zunehmenden Anerkennung der klinischen Relevanz von traumatischem Stress für die Psychopathologie von Kriegsveteranen des Vietnamkrieges; n die Veröffentlichung und Rezeption des epochalen Werkes Die Entdeckung des Unbewussten von Henry F. Ellenberger im Jahre 1970, in dem die zentrale Rolle von Pierre Janet bei der Entwicklung der dynamischen Psychiatrie detailliert he rausgearbeitet und sein Dissoziationskonzept in Erinnerung gerufen wird; n die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit experimentellen und thera peutischen Ansätzen zur multiplen Persönlichkeitsstörung (Van der Hart & Nijen huis, 2009); n die Popularisierung der multiplen Persönlichkeit über die Medien, beispielsweise durch das Buch The three faces of Eve von Corbett H. Thigpen und Hervey M. Cleckley (Dt.: Die 3 Gesichter Evas, 1957) oder das Buch Sybil (Dt.: Sybil. Persönlichkeitsspaltung einer Frau, 1974/77) und dessen Ver?lmung; n die Einführung der sogenannten Neodissoziationstheorie durch Ernest R. Hilgard (1974) im Kontext experimenteller Psychopathologie mittels Hypnose. Diese verschiedenen Strömungen können an dieser Stelle nicht im Detail nachgezeichnet werden. Um aktuelle Modellvorstellungen zur Dissoziation angemessen zu verstehen und einzuordnen, erscheint ein kurzer Exkurs zu Hilgards Neodissoziationstheorie als sinnvoll. 2.2.2 Neodissoziationstheorie Hilgard interessierte sich nicht nur für harte Daten, beobachtbares und messbares Verhalten, sondern auch für subjektives Erleben und damit für Bewusstsein, so dass sein Ansatz als subjektiver Behaviorismus bezeichnet wurde. Im Unterschied zu Janet ging er davon aus, dass Dissoziation ein normales kognitives Phänomen darstelle, das sich in Hypnose zeige. Als Arbeitshypothese diente die Annahme, dass unter Hypnose als einem veränderten Bewusstseinszustand eine Inkongruenz zwischen physiologischen Befunden und verbalen Berichten der Versuchspersonen bestehe. Diese konnte experimentell bestätigt werden. So berichteten beispielsweise hypnotisierte Probanden, dass sie keine Schmerzen hätten, obwohl physiologische Messungen das Gegenteil bewiesen. Die Tatsache, dass die Abspaltung der Schmerzemp?ndungen unter Hypnose besser gelingt als im Wachbewusstsein, wird mit einem bestimmten Kontrollmechanismus erklärt. Hilgard nahm dazu eine Hierarchie kognitiver und somatischer Subsysteme an und postulierte eine Exekutivkontrolle. Diese regle das Zusammenwirken der einzelnen Mechanismen und garantiere so Konsistenz, aber auch Übereinstimmung mit gewissen Kontextnormen und ermögliche letztendlich ein Identitätserleben der Persönlichkeit. Unter Hypnose werde nun diese oberste Kontrollinstanz zurückgedrängt und die einzelnen Subsysteme könnten größere Autonomie entfalten. Hilgard hat das getrennte Nebeneinander unterschiedlicher autonomer Instanzen durch seine Experimente zu dem sogenannten »heimlichen Beobachter« (hidden observer) nachzuweisen versucht. Dabei wird der Hypnotisand instruiert, sich quasi in zwei Personen aufzuspalten, deren Trennung der Hypnotiseur durch eine Berührung signalisiert. Die beiden »Personen« können unterschiedliche Informationen aus der Hypnosesitzung wiedergeben. Der hidden observer kann dabei als der Teil verstanden werden, der die übergreifende beobachtbare Perspektive in der Hypnosesituation einnimmt. Hilgard nennt ihn deshalb »hidden« , weil diese Instanz nur durch die spezielle Instruktionstechnik evident wird. Bei hypnotischen Experimenten, in denen den Probanden durch die hypnotische Instruktion Analgesie suggeriert wurde, war es durch den hidden observer möglich, die volle subjektive Schmerzstärke, z. B. beim Eiswassertest, zu ermitteln. Ungeachtet der Frage, ob solche Experimente generalisierbar sind, scheint die Annahme einer hierarchischen Struktur von in sich relativ autonomen Subsystemen mit eigenen Kontrollmechanismen innerhalb des kognitiven, aber auch des somatischen Systems durchaus sinnvoll zu sein. Nach der Neodissoziationstheorie gibt es eine Exekutivkontrolle, die ganz oben in der Hierarchie angesiedelt ist und unter Hypnose ihren Ein?uss zurücknimmt. Unter dieser Bedingung sind dann Informationen und prozedurale Programme ansprech- und abrufbar, die im normalen Wachbewusstsein nicht zugänglich sind. Dissoziative und hypnotische Zustände sind insofern ähnlich, als in ihnen die Exekutivkontrolle als oberste Stufe der hierarchischen Regulationssysteme weniger Ein?uss nimmt als im Wachbewusstsein und so die darunter stehenden Subsysteme in anderer Form zur Geltung kommen. 2.3 Aktuelle Weiterentwicklungen des Dissoziationsmodells Obwohl Janet in seiner Ausarbeitung des Dissoziationsbegriffs wesentliche Grundlagen geschaffen hat, zeigt seine wechselvolle Geschichte doch auch, dass ganz heterogene Ein?üsse der verschiedensten theoretischen Strömungen das Konzept beein?usst haben. Nicht zuletzt dadurch erklärt sich die eingangs erwähnte »semantische Offenheit«. Der ?scienti?c community? ist diese Problematik in den letzten Jahren zunehmend bewusst geworden, so dass es von diversen Seiten Bemühungen der Präzisierung gegeben hat. Die meistversprechenden Ansätze sind ndie Unterscheidung zwischen normaler und pathologischer Dissoziation; ndie Differenzierung zwischen ?detach ment? und ?compartmentalization ?; n Entwicklungsreihen von Dissoziation und das Modell der peritraumatischen Dissoziation ndie Theorie der strukturellen Dissoziation. 2.3.1 Normale versus pathologische Dissoziation Während Janet davon ausging, Dissoziation stelle einen diskontinuierlichen Prozess dar, der nur bei Kranken, insbesondere bei Hysterikern, vorkomme, konzeptualisierten seine Zeitgenossen William James und Morton Prince Dissoziation als dimensional , d. h. dissoziative Phänomene lassen sich auf einem Kontinuum von alltäglichen Erfahrungen wie etwa Tagträumereien bis zu schwersten und klinisch relevanten Formen wie der multiplen Persönlichkeitsstörung anordnen. Diese sogenannte »Kontinuumshypothese « prägt bis heute den klinischen und wissenschaftlichen Diskurs (Fiedler, 2008; Spitzer et al., 2007). In jüngster Zeit ist erneut gefragt worden, ob es nicht doch einen qualitativen Unterschied zwischen ?normaler? und ?pathologischer? Dissoziation gebe. Aus klinischer Perspektive sind drei Momente hervorgehoben worden, um dissoziative Phänomene als pathologisch zu charakterisieren: nDissoziative Symptome von klinischer Relevanz gehen bei den Betroffenen mit einem veränderten Identitätsgefühl einher, n bei pathologischen Formen der Dissoziation bestehen typischerweise Erinnerungslücken und n subjektives Leiden bzw. objektivierbare psychosoziale Funktionseinschränkungen treten in der Regel nur bei pathologischer Dissoziation auf. Auch die empirische Forschung ist dieser Frage nachgegangen, indem die Datensätze der Dissociative Experiences Scale (DES) (Bernstein & Putnam, 1986) von je 228 Patienten mit einer Dissoziativen Identitätsstörung und mit gesunder Kontrolle mit Hilfe taxometrischer Verfahren reanalysiert wurden (Waller et al., 1996). Die DES ist das international gebräuchlichste und am besten evaluierte Selbstbeurteilungsverfahren zur Erfassung dissoziativer Phänomene , welches als Fragebogen zu Dissoziativen Symptomen (FDS) auch in einer deutschen Fassung vorliegt (Spitzer et al., 2005). Verschiedene taxometrische Ansätze kommen dabei übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass eine Unterscheidung zwischen einem dimensionalen, nicht-pathologischen und einem diskontinuierlichen, pathologischen Typus dissoziativer Phänomene empirisch gerechtfertigt ist (Waller et al., 1996). Zudem konnten acht der ursprünglich 28 Items der DES extrahiert werden, die als Indika toren für pathologische Dissoziation gelten und als DES-Taxon (DES-T) bezeichnet wurden. In einem weiteren Schritt konnte gezeigt werden, dass die DES-T deutlich besser zwischen verschiedenen diagnos ti schen Kategorien differenziert als die Originalfassung der DES; insbesondere fand sich pathologische Dissoziation fast ausschließlich bei Patienten mit einer Post trau ma tischen Belastungsstörung oder dissoziativen Störung. In einer unabhängigen Untersuchung konnte die Unterscheidung zwischen dimensionaler, nicht-pathologischer und diskontinuierlicher, pathologischer Dissoziation an einem DESDatensatz aus der Allgemeinbevölkerung bestätigtet werden (Waller & Ross, 1997). Interessanterweise wurde in einer nichtklinischen Stichprobe eine Assoziation zwischen pathologischer Dissoziation und Kindheitstraumata, vor allem körperliche Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch, gefunden, die für eine nicht-pathologische Dissoziation nicht bestand (Irwin, 1999). Allerdings waren die berichteten Effektstärken eher niedrig, so dass auch an deren Faktoren eine wichtige Rolle bei der Genese pathologischer Dissoziation zugeschrieben wurde (Irwin, 1999). Der Zusammenhang zwischen Kindheitstraumata und pathologischer Dissoziation wurde auch in anderen Untersuchungen repliziert, so bei delinquenten Jugendlichen und bei Patienten mit einer Depersonalisationsstörung . Hingegen lässt sich kritisch einwenden, dass pathologische Dissoziation zeitlich wenig stabil ist und möglicherweise ein em pirisch-statis tisches Artefakt darstellt (Übersicht bei Spitzer et al., 2007). 2.3.2 Detachment und compartmentalization Auch von klinisch-therapeutischer Seite ist die Dissoziation in zwei qualitativ unterschiedliche Formen unterteilt worden. In einer sehr gelungenen Übersicht führen Holmes und Mitarbeiter (2005) die bisherigen Versuche der Differenzierung und Präzisierung sinnvoll und klinisch relevant zusammen. Dabei zeigen sie auf, dass die meisten Autoren sich - mit unterschiedlicher Begrif?ichkeit - an der Einteilung der eingangs dargestellten Systematik von Cardena (1994) orientieren und Dissoziation entweder als desintegrierte mentale Systeme oder aber als verändertes Bewusstsein verstehen. Bei der letztgenannten Form, dem sogenannten detachment , besteht das zentrale Merkmal in einem veränderten Bewusstseinszustand, der mit einem Gefühl der Entfremdung (oder des Losgelöstseins = detachment) einhergeht . Die Entfremdung kann sich dabei auf die eigene Person (Depersonalisation ) oder die Umgebung (Derealisation ) beziehen; oftmals ?ndet sich in solchen Zuständen auch eine veränderte affektive Beteiligung oder diese fehlt gar völlig, so dass die Betroffenen kein Gefühl der »Meinhaftigkeit« des Erlebten haben. Ähnlichkeiten des detachment mit anderen Konzepten aus dem Bereich der Psychotraumatologie wie etwa dem emotional numbing oder der peritraumatischen Dissoziation sind offensichtlich. Der zweite Typus der Dissoziation wird als compartmentalization bezeichnet; hier resultieren die dissoziativen Phänomene aus einer Störung des Wechselspiels von normalerweise miteinander in übergeordneten Funktionseinheiten interagierenden Systemen und Modulen. Diese Modellvorstellung weist dabei eine große Nähe zu Hilgards Neodissoziationstheorie auf. Compartmentalization ist durch die Unfähigkeit charakterisiert, prinzipiell bewusst kontrollierbare oder bewusstseinsfähige mentale Prozesse angemessen zu steuern. Der heuristische Wert und die klinische Relevanz dieser Zweiteilung lassen sich beispielhaft an der dissoziativen Amnesie aufzeigen. Amnestische Phänomene im Kontext des detachment sind - häu?g durch traumatische Erlebnisse bedingt - als Störung der Encodierung zu verstehen. Hin gegen sind Amnesien im Rahmen des compartmentalization als Abrufstörung zu werten. Auf der Ebene klinischer Diagnosen stellt die Depersonalisationsstörung den Prototyp des detachment dar, während Konversionsstörungen klassische Beispiele für compartmentalization sind; bei der Posttraumatischen Belastungsstörung treten beiden Formen der Dissoziation auf (Holmes et al., 2005). 2.3.3 Entwicklungsreihen und peritraumatische Dissoziation Diese Konzeption hebt weniger auf qualitative Unterschiede als auf den zeitlichen Bezug zur Traumatisierung und die Eigendynamik dissoziativer Prozesse ab. Aus dieser Perspektive lässt sich festhalten, dass eine Dissoziation sowohl unmittelbar während des traumatischen Ereignisses als auch posttraumatisch und gar als eine LangzeitKonsequenz bei Mehrfachtraumatisierung vorkommen kann. Somit kann Dissoziation als drei unterschiedliche, aber in Beziehung stehende mentale Phänomene verstanden werden (Van der Kolk et al., 2000) . Primäre Dissoziation Abhängig von der Intensität des Traumas und den persönlichen Voraussetzungen kann angesichts einer überwältigenden Bedrohung die individuelle Reizverarbeitungskapazität überschritten werden. Dann sind die Betroffenen nicht in der Lage, die traumatischen Erfahrungen als Ganzes in ihr Bewusstsein zu integrieren. Sensorische und emotionale Elemente werden als Fragmente und isoliert von den normalen Bewusstseinsinhalten gespeichert und können nicht in ein persönliches Narrativ integriert werden. Diese Fragmentierung wird von Ich-Zuständen begleitet, die sich von normalen Bewusstseinszuständen unterscheiden. Sekundäre Dissoziation Be?ndet sich eine Person einmal in diesem veränderten Bewusstseinszustand, kann eine weitere Desintegration des persön lichen Erlebens auftreten. Eine »Dissozia tion zwischen beobachtendem Ich und erlebendem Ich« (Fromm, 1965) wird von traumatisierten Personen vielfach geschildert. Diese Personen berichten beispielsweise, dass sie im Moment der Traumatisierung mental ihren Körper verlassen und das Geschehen aus einer Distanz beobachten. Dieses Distanzierungsmanöver der sekundären Dissoziation erlaubt es den Personen, die traumatische Erfahrung als ein Beobachter zu betrachten und somit den Schmerz oder die Angst zu begrenzen. Während die primäre Dissoziation eine Einschränkung des kognitiv-perzeptiven Bezugs hinsichtlich des Traumas mit sich bringt und somit die Betroffenen in die Lage versetzt, zunächst wei ULRICH SACHSSE UND MARTIN SACK 3. Die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung 3.1 Seelische Symptombildungen infolge von Traumata In den letzten 20 Jahren wird die Frage intensiv und kontrovers diskutiert, welche Traumata insbesondere in Kindheit und Jugend zu welchen seelischen Symptombildungen - und in welchem Ausmaß - im Erwachsenenalter beitragen können. Diese Diskussion wird sowohl gesellschaftspolitisch im Rahmen der publizistischen Me dien als auch wissenschaftlich in verschiedenen Fachdisziplinen geführt. Die Wis senschaft hat hierbei auf Behauptungen aus dem gesellschaftspolitischen Feld eher reagiert, als dass diese Diskussion in wissenschaft lichen Studien ihren Ausgang genommen hätte. Das Verhältnis der Medizin allgemein, der Psychiatrie, Psychologie und Psychoanalyse insbesondere zur Frage, welchen Ein?uss eine Traumatisierung auf seelische Entwicklungen nehmen kann, war und ist zwiespältig. Einerseits wurden die Auswirkungen von Kriegstraumata schon von Homer in der Ilias genau beschrieben, wenn es um die »Mänis« des schwer traumatisierten achäischen Eliteof?ziers Achill geht. Shakespeare hat mehrere Gestalten mit klarer PTBS geschaffen: Frau und Herrn Macbeth, Richard III. und Hamlet jr. etwa. Folgen traumatisierender Arbeitsunfälle durch die Industrialisierung wurden unter den Begriffen »Railway Spine« und »Railway Brain« konzeptualisiert. Den französischen und österreichischen Forschern Jean-Martin Charcot, Pierre Janet und Sigmund Freud war die Trau ma-Genese vieler »hysterischer« - heute würden wir sagen: psychosomatischer und psychoneurotischer - Symptombildungen durch sexuellen Kindesmissbrauch bekannt (vgl. Teil B dieses Bandes). Andererseits relativierte Sigmund Freud nach 1897 seine ursprüngliche »Verführungstheorie «. Die Auseinandersetzungen mit den Kriegsneurosen des Ersten Weltkrieges blieben für die allgemeine Psychotherapie und Psych iatrie relativ konsequenzenlos. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts musste die damals gültige psychiatrische Lehrmeinung, ein gesunder Mensch sei jeder seelischen Traumatisierung gewachsen, ohne einen bleibenden Schaden davonzutragen, mühsam widerlegt werden, um den Holocaust-Überlebenden gerecht zu werden. Im Rahmen dieser Diskussion wurde auch deutlich, dass es Menschen gibt, die als Kinder oder Erwachsene nie Opfer einer schweren Traumatisierung im engeren Sinne geworden waren, die aber vergleichbare Symptombilder entwickelt hatten. Denen ging es sehr schlecht und sie berichteten von langjährig unguten Entwicklungsbedingungen aus ihrer Kindheit. Die Londoner Schule der Psychoanalyse widmete sich der Behandlung solcher Bindungstraumata, und Masud Khan for mulierte den Begriff der »kumulativen Traumatisierung « durch schädigende Bindungserfahrungen. Dieses Konzept kann als Vorläufer des Konzeptes der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (kPTBS) verstanden werden (Furst, 1967). 3.2 Frühe Studien zu psychischen Folgen von Traumatisierungen Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts begannen unter dem Ein?uss der amerikanischen Frauenbewegung feministisch orientierte Forscherinnen Untersuchungen zu den psychischen Folgen von Vergewaltigungen. Dabei zeigte sich, dass die Opfer unter Symptomen litten, die bereits an Kriegsveteranen beobachtet worden waren. Nachdem man sich zu Anfang auf die Vergewaltigung durch Fremde konzentriert hatte, war der nächste Schritt, Vergewaltigung sowie andere Formen der Gewaltanwendung in der Familie zu untersuchen. Die Beschäftigung mit der Vergewaltigung von erwachsenen Frauen rückte unweigerlich auch den sexuellen Missbrauch von Kindern ins Blickfeld. Neben der se xuellen Gewalt an Kindern dokumentierten Ergebnisse zum »Battered Child Syndrome« das Vorhandensein von aggressiver Kin desmisshandlung, Vernachlässigung und »Broken-Home«-Situationen, nachdem bereits René Spitz die Auswirkungen der Säuglingsdeprivation beschrieben hatte. Die durch diese Ergebnisse begonnene Diskussion hält bis heute auf allen genannten Ebenen an. Ende der 70er Jahre begannen zunächst in den USA die Bemühungen, das Ausmaß von Traumatisierungen, anfangs insbesondere von sexuellem Missbrauch in der Allgemeinbevölkerung, systematisch zu untersuchen. Die »San Francisco Survey« von Diana Russell (Russel, 1986) war die erste umfangreiche und sorgfältig geplante Feldstudie, die mit einer annähernd repräsentativen Zufallsstichprobe von 930 Frauen durchgeführt wurde. Sie ist ein Bezugspunkt für viele nachfolgende Untersuchungen. Im Rahmen ihrer epidemiologischen Erhebung betonte Russell nachdrücklich die Notwendigkeit einer durch eindeutige Kriterien operationalisierbaren De?nition von sexuellem Missbrauch. An der 18-stufigen »Russell-Scale« haben sich die meisten folgenden Untersuchungen orientiert. Von den Teilnehmerinnen dieser Studie waren 28 Prozent als Mädchen in einem Alter von unter 14 Jahren inner- und/oder außerfamiliär missbraucht worden. Diese Befunde wurden anfangs als tendenziös und maßlos übertrieben aufgenommen, an der Grenze zur Fälschung angesiedelt. Inzwischen liegt eine Reihe internationaler Prävalenzstudien aus dem westlichen Kulturkreis vor, die aufgrund ihrer De?nitionskriterien, Methodik, Größe und der Zusammensetzung des untersuchten Kollektivs mit der San Francisco-Studie vergleichbar sind und die Ergebnisse in der Tendenz bestätigen. Für die Bundesrepublik sind die Studien von Bange, Richter-Appelt und Tiefensee sowie Wetzels und Pfeiffer besonders aussagefähig (Wetzels, 1997). Da hier die Gewalt-Kriterien wesentlich enger de?niert wurden als in der Russell-Studie, zeigen die Ergebnisse deutlich niedrigere Zahlen: für den wiederholten, gewalttätigen, grenzüberschreitenden sexuellen Missbrauch bei 4 - 8 % (bei Mädchen) bzw. 0,5 - 2 % (bei Jungen) sowie für den ständigen, brutalgewalttätigen Einsatz von körperlicher Gewalt bei 4 - 8 % (bei Jungen) bzw. 1 - 3 % (bei Mädchen). Diese Studien beantworten aber nicht die Frage, wie schädlich diese Traumatisierungen denn mittel- und langfristig überhaupt sind. Nicht jeder als Kind misshandelte Mensch entwickelt als Jugendlicher oder Erwachsener eine behandlungsbedürftige Symptomatik. In den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden Studien veröffentlicht, die einen empirischen Zusammenhang zwischen psychotherapeutisch oder psychiatrisch behandlungsbedürftigen Störungen im Erwachsenenalter und Kindheitstrau mata belegten. Obwohl diese Ergebnisse uneinheitlich sind, zeigen sie doch einen Trend auf: einen Anstieg der Häu?gkeit von psychiatrischen Störungsbildern im Vergleich zu den nicht-klinischen Kollek tiven, was in einigen Studien mit ambu lanten und stationären Gruppen von Pa tientinnen bzw. Patienten bis zu einer Verdoppelung der Zahl der Missbrauchs opfer führt (Sachsse et al., 1997). 3.3 Das Konzept der kPTBS Von Anfang an galt neben der Gruppe der Suchtkrankheiten und der Psychosomatosen ein besonderes Interesse den Persönlichkeitsstörungen und dabei besonders der Borderline-Persönlichkeitsstörung (vgl. Kap. C13). Die Kapitel in diesem Band zur kPTBS und zu Traumata bei Persönlichkeitsstörungen weisen darum unvermeidlich Überschneidungen auf. Die Ergebnisse der empirischen Traumaforschung machen deutlich, dass das Ausmaß der nachgewiesenen Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen mit dem jeweilig untersuchten Kollektiv variiert. Die Prävalenz steigt, ausgehend von derjenigen in der Allgemeinbevölkerung, mit zunehmender Schwere der klinischen Störung graduell an. Außerdem wurde bald deutlich, dass es ein Unterschied ist, ob jemand einmal im Alter von 22 Jahren vergewaltigt wurde oder ob es im Alter zwischen 8 und 14 Jahren zweimal pro Woche zu Vergewaltigungen durch einen nahen Familienangehörigen gekommen war. So unterschied die amerikanische Trauma- und Gedächtnisforscherin Lenore Terr das Typ-I-Trauma (Monotrauma) vom Typ-II-Trauma (wiederholte Traumatisierung im Rahmen eines nahen Beziehungsgefüges). Im Jahr 1976 veröffentlichte die amerikanische Traumaforscherin Judith Herman ein für die Behandlung schwerer traumainduzierter Störungsbilder wegweisendes Buch mit dem deutschen Titel Die Narben der Gewalt (Herman, 1994). Herman entwickelte in ihrem Buch eine auch heute noch aktuelle Systematisierung der Folgen von Traumatisierungen durch sexuellen Missbrauch, Vernachlässigung und Misshandlung in der Kindheit. Sie schlug die Bezeichnung »komplexe Posttraumatische Belastungsstörung « (kPTBS; Herman, 1992) für ein charakteristisches Syndrom nach chronischen Traumatisierungen vor, und zwar für: n Störungen der Affektregulation, n dissoziative Symptome, n Störungen der Selbstwahrnehmung, nStörungen der Sexualität und Beziehungsgestaltung, n somatoforme Körperbeschwerden, nVeränderungen persönlicher Glaubens- und Wertvorstellungen. Bemerkenswerterweise, aber klinisch richtig gehört zu den Kriterien der kPTBS nicht die für die PTBS typische intrusive Symptomatik , die bei der kPTBS durchaus nicht immer festzustellen ist. Vielmehr sind viele Symptome der kPTBS geeignet, Intrusionen und Übererregung suf?zient zu verhindern. Eine kPTBS bildet sich aus, um die belastende PTBS-Symptomatik mit Intrusionen, Flashbacks, Übererregung und Realitätsverlust möglichst weitgehend einzuschränken oder sogar zu verhindern. Die Vielfalt der Beschwerden, an denen Patienten mit komplexer PTBS leiden, erschließt sich dem Verständnis erst dann, wenn man die Symptomatik als Anpassungsstrategie und kompensatorische Bewältigung von zugrunde liegenden Regulationsde?ziten begreift, die Folge sowohl einzelner Traumatisierungen als auch traumatischer Beziehungserfahrungen sind (van der Kolk et al., 1996). Aus der Perspektive von Betroffenen erscheint die Umwelt aufgrund von traumatischen Erfahrungen oft als unsicher und durch nicht vorhersehbare Gefahren gekennzeichnet. Hinzu kommt ein fehlendes Gefühl von Kompetenz und Selbstsicherheit, vermittelt durch die Erfahrung, dass nicht nur die Umwelt unberechenbar ist, sondern auch die eigenen Impulse und Affekte schwer steuerbar und beherrschbar sind. Meist erleben sich Patienten den Intrusionen und Alpträumen in einer sehr quälenden Weise ausgeliefert. In Anpassung an diese selbstregulatorischen De?zite aufgrund wiederholter negativer Beziehungserfahrungen entwickeln sich in zunehmendem Maße Misstrauen, Ängste, Rückzugsverhalten sowie Kontakt- und Beziehungsschwierigkeiten. Diese Symptomatik erreicht schließlich ein so großes Ausmaß und betrifft so viele Lebensbereiche, dass sie als schwere psychische Erkrankung mit dem Rang einer Persönlichkeitsstörung in Erscheinung treten kann, z. B. einer Borderline-Persön lichkeitsstörung . Herman, van der Kolk und ihre Arbeitsgruppe stellten zeitweise zur Diskussion, dass jede Borderline-Persönlichkeitsstörung im Grunde eine kPTBS sei (Herman, 1992) . 3.4 Komplexe PTBS - DESNOS - Borderline-Persönlichkeitsstörung Das Konzept der komplexen PTBS wurde in Vorbereitung der DSM-IV-Klassi?kation durch eine Expertengruppe um Herman und van der Kolk weiter ausgearbeitet. Die Arbeitsgruppe empfahl unter Berufung auf Ergebnisse einer Feldstudie mit über 500 Patienten mit traumabedingten Störungen (van der Kolk et al., 1996), die komplexe PTBS unter dem Akronym DESNOS (Disorders of Extreme Stress Not Otherwise Speci?ed) als diagnostische Kategorie anstelle der Kategorie BPS (Borderline- Persönlichkeitsstörung ) ins DSM-IV aufzunehmen. Die Kategorie DESNOS erhielt schließlich für Forschungszwecke den Rang eines zusätzlichen klinischen Beschreibungsmerkmals der PTBS. Die Bezeichnung DESNOS wird im amerikanischen Sprachraum synonym mit dem Begriff kPTBS verwandt (Sack, 2004). Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen schildern häu?g eine Vorgeschichte körperlicher, psychischer oder sexueller Traumatisierungen. Inzwischen häufen sich Befunde, die von Prävalenzraten von über 50 % bis hin zu 80 % für schwere kindliche Traumatisierungen bei Borderline-Patienten berichten (Sachsse et al., 1997; Zanarini et al., 2006). Gleichzeitig wird von kompetenter Seite betont, dass die Rolle von Traumatisierungen in der Genese von Borderline-Persönlichkeitsstörungen wichtig ist, aber weder eine notwendige noch hinreichende ätiologische Bedingung darstellt (Dulz et al., 2010). Die Diskussion darüber, ob Borderline-Störungen komplexe Traumafolgestörungen sind, hängt ganz davon ab, wie der Begriff Trauma de?niert und verstanden wird. Zwei felsfrei ist nicht jede Borderline-Persönlichkeitsstörung eine Traumafolgestörung, wenn die Trauma-De?nitionen des DSM und der ICD zugrunde gelegt werden. Ein Mensch kann eine klinisch gravierende Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickeln, ohne als Kind oder Jugendlicher ein einziges Mal vergewaltigt oder durch körperliche Gewalt traumatisiert worden zu sein. 3.4.1 Entwicklungstraumatisierungen Entwicklungstraumatisierungen (engl.: relational traumata) in Form von schwerer Vernachlässigung (Schore, 2001) oder wiederholter psychischer Gewalt - etwa durch massive Abwertungen und Morddrohungen - die an Kindern begangen werden, sind in den Trauma-Kriterien nach DSM-IV und ICD-10 nicht explizit enthalten, obwohl Patienten mit den entsprechenden Folgen einen großen Teil der hilfesuchenden Patienten in der psychotherapeutischen Praxis ausmachen. Dies ist von erheblicher Bedeutung, wenn die traumatische Genese der BPS thematisiert wird. Nimmt man diese Zusammenhänge ernst, ergibt sich hieraus die Notwendigkeit, die De?nition von Traumatisierungen um kindliche Erfahrungen von psychischer Gewalt und Vernachlässigung zu erweitern. Diese Sichtweise hat eine lange Tradition in der Psychoanalyse beispielsweise der Londoner Schule (Furst, 1967), die bei repetitiven Bindungsschädigungen von »kumulativem Trauma « gesprochen hat, und wird durch eine Vielzahl neurobiologischer Befunde bestätigt, die belegen, welche umfangreichen Schäden Traumatisierungen durch Beziehungspersonen im Gehirn des Kindes hinterlassen; solche frühen Schädigungen sind auch auf der neurobiologischen Untersuchungsebene bis ins Erwachsenenalter nachweisbar (Schore, 2001). Andererseits wird der Begriff Trauma durch diese Ausweitung kaum noch wirklich operationalisierbar; er wird zu einem Synonym für »unverarbeitet, nicht zu bewältigen, nicht integrierbar«. Der Mangel an Trennschärfe und die Probleme bei der Begriffsverwendung werden dadurch verstärkt, dass es inzwischen neben dem Begriff der »Entwicklungstraumatisierung « noch den des »Beziehungstraumas « gibt, etwa für Mobbing oder sehr belastende Partnerschaften, sowie den Begriff der »Entwicklungstraumastörung «, der für komplexe traumatisierende Einflüsse besonders in der Pubertät und Adoleszenz Anwendung ?ndet. Verlässliche Zahlen zur Häu?gkeit von schwerer Vernachlässigung im Kindesalter liegen für Deutschland nicht vor. In der gesellschaftspolitischen Diskussion wird oft die Zahl von 5 % »Problemfamilien« genannt, die mit der Kindererziehung massiv überfordert sind. Erhebungen aus den USA kommen zu einem vergleichbaren Ergebnis. Zur Vernachlässigung zählt auch die chronische Nicht-Verfügbarkeit bzw. die chronische emotionale Abwesenheit der primären Bezugspersonen. Dies erlebt das Kind, wenn die Eltern beispielsweise alkohol- oder drogenabhängig sind oder die signi?kante Bezugsperson an einer schweren psychischen Erkrankung (etwa einer Psychose) leidet und dem Kind keine Aufmerksamkeit und Zuwendung entgegenbringen kann. Ähnlich hohe Prävalenzraten wie für Vernachlässigung werden bezüglich psychischer Gewalt durch Anschreien, Beschimpfen, Demütigen und Entwerten berichtet. Betroffenen Kindern und Jugendlichen wird durch Schmähungen, Herabsetzen, Bedrohungen, Lächerlichmachen, Einschüchtern oder Ignorieren vermittelt, dass sie wertlos, fehlerhaft, ungeliebt oder ungewollt sind. Die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) bezeichnet dies als »Invalidierung «, Resultat sind psychisch »invalide«, sich selbst als wertlos emp?ndende Menschen. Ähnlich wie bei emotionaler Vernachlässigung entsteht durch psychische Gewalt eine massive Störung der emotionalen Bindung an die Bezugspersonen und in der Folge ängstliches Verhalten, Misstrauen, Rückzug oder Aufsässigkeit, letztlich also Schwierigkeiten in Beziehungen generell. Typische Folge ist auch die anhaltende und starke Verunsicherung bezüglich des Selbstwerts und des Rechts, die eigene Meinung und eigene Bedürfnisse zu vertreten, sich also abzugrenzen. Auch im späteren Leben bleiben auf diese Weise in der Kindheit vorgeschädigte Erwachsene für Dysregulationen besonders vulnerabel. Die Selbstregulation und der Umgang mit äußeren Stressoren im Alltag sind erschwert. Besonders schwere und wiederkehrende emotionale Belastungen entstehen häu?g durch Probleme in nahen zwischenmenschlichen Beziehungen, z. B. bei Kon?ikten und Trennungssituationen innerhalb einer Partnerschaft oder durch Kon?ikte am Arbeitsplatz. Nicht selten entwickeln sich bei von Entwicklungstraumatisierungen Betroffenen schon in der Adoleszenz Symptome einer Persönlichkeitsstörung, die sich als Bewältigungsversuche und als Reaktion auf die durch traumatische Erfahrungen induzierte Problematik verstehen lassen. Aus einer Synopsis von über 50 Artikeln in der aktuellen Ausgabe des Handbuchs der Borderline-Störungen (Dulz et al., 2011) lässt sich folgern, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung im ursprünglichen Sinne mit ihrer Problematik der Identitätsdiffusion, Angst vor dem Alleinsein, ge störten Fähigkeit zur Emotionsregulation auf erheblich gestörten Bindungs- und Beziehungserfahrungen bis hin zu massiven Beziehungstraumatisierungen in der Kindheit beruht. Die Behandlung von Borderline-Patienten wird aber erheblich erschwert, wenn sie als Kinder sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren (Zanarini et al., 2006), und die Langzeitentwicklungspro gnose von Patienten mit BPS und komor bider PTBS ist ähnlich belastet wie die jenige mit BPS plus Sucht. 3.4.2 Symptome der BPS als Versuche der Traumabewältigung Alle Kriterien und Phänomene einer BPS sind psychodynamisch auch als Traumabewältigungsversuche verstehbar (Sachsse, 1995). Nach psychoanalytischen Kriterien ist ein Trauma ein Ereignis, das aufgrund seiner Heftigkeit und/oder Plötzlichkeit das Ich in seiner Reizverarbeitungsfähigkeit massiv überfordert. Die Fähigkeiten des Ich, Außen und Innen angemessen wahrzunehmen, klare Affekte zu emp?nden und mit andrängenden Gefühlen etwa von Angst oder Ekel angemessen umzugehen, werden durch das traumatische Ereignis vorübergehend außer Kraft gesetzt. Ich-psychologisch gedacht, erfolgt eine Ich-Fragmentierung mit massiven Wahrnehmungseinengungen oder -verzerrungen. Das Selbst ist einer Über?utung mit diffusen, als katastrophisch empfundenen Panikreaktionen, einem Konglomerat aus Angst, Ekel, Wut, Demütigung, Verzwei?ung, Hass und Ohnmacht, ausgesetzt. Dieser Zustand wird subjektiv nur noch als Hochspannung oder unerträglicher »Druck« wahrgenommen. Die passagere Zerstörung des Ich und der Untergang des guten Objektes gehören zusammen. Bei Traumatisierten wie bei Borderline-Patientinnen und -Patienten ?ndet sich die pathognomonische Angst, die Welt des Guten könnte durch das Schlechte in der Welt und in den Menschen zerstört werden und endgültig untergehen. Der beschriebene Zustand während einer Traumatisierung ist unerträglich. Bereits während der Traumatisierung, zumindest aber unmittelbar danach, entwickelt das Ich Coping-Mechanismen. Dies geschieht insbesondere dann, wenn es nicht bei einem einmaligen Ereignis bleibt, das anschließend in einer tragfähigen zwischenmenschlichen Beziehung aufgefangen und bewältigt werden kann. Sofern ein Mensch mit Wiederholungen traumatischer Situationen rechnen muss, entwickelt er Bewältigungsmöglichkeiten, die er teils bewusst, teils re?exhaft einsetzen kann. Zentral ist hier insbesondere die menschliche Fähigkeit zur Dissoziation. Dissoziation definiert das Lexikon der Psychologie (Arnold et al., 1980, S. 383) als einen »Prozeß, durch den bestimmte Gedanken, Einstellungen oder andere psychologische Aktivitäten ihre normale Relation zu anderen, bzw. zur übrigen Persönlichkeit verlieren, sich abspalten und mehr oder minder unabhängig funktionieren. So können logisch unvereinbare Gedanken, Gefühle und Einstellungen nebeneinander beibehalten und doch ein Konflikt zwischen diesen vermieden werden.« Ein Beispiel für das Vorliegen einer Dissoziation ist ein Kind, das gerade von seinem Vater misshandelt wurde und unter Tränen stammelt »Papa ist lieb«. Besonders wirksam und besonders folgenreich ist die Fähigkeit, per Dissoziation aus dem eigenen Körpererleben auszusteigen und so De personalisationszustände herbeizuführen. Induzierte Depersonalisation mit der Möglichkeit, aus dem schmerzhaft-demütigenden Körpererleben auszusteigen, und in duzierte Derealisation mit einer Flucht in die Phantasie sind Möglichkeiten, die widersprüchliche, konfuse Realität eines Missbrauchs oder einer Misshandlung durch ein emotional unverzichtbares Elternobjekt auszublenden, sind also wesentliche Überlebensstrategien. Da das kindliche Ich die Widersprüchlichkeit der einerseits fördernden, andererseits misshandelnden ElternObjekte emotional noch nicht vereinbaren kann, bildet es Fantasien von nur bösen und nur guten Objekten, um sich ein Objekt mit nur guten, nie frustrierenden und nie traumatisierenden Eigenschaften als Hoffnungsträger zu erhalten. Erinnerungen an Traumata können auch abgespalten und durch eine rigide neurotische Abwehr aus dem Bewusstsein ausgeschlossen werden, möglicherweise um den Preis einer psychosomatischen Symptombildung oder einer heimlichen, selbstinduzierten Krankheit, einer Zwangsstörung oder einer Suchterkrankung. Können sie aber nicht stabil abgewehrt werden, dann bleiben traumatische Erinnerungen bewusstseinsnah und können durch Schlüsselreize ausgelöst, »getriggert« werden. In solchen Situationen bieten Suchtmittel, ein reiz-volles Agieren oder selbstverletzendes Verhalten (SVV) Möglichkeiten, eine Retraumatisierung durch die Über?utung mit unverarbeiteten Erinnerungen an Traumata doch noch zu verhindern. Alle wesentlichen Symptombildungen der BPS sind also nicht nur als Fixierung auf der kindlichen Entwicklungsstufe der Wiederannäherungsphase verstehbar, sondern auch als Traumafolgen und PTBS-Coping. 3.4.3 kPTBS und BPS als Entwicklungstraumafolgestörung Empirisch und von der Klinik der Symptombildungen her liegt es also nahe, bei einer Persönlichkeitsstörung, insbesondere einer BPS, aber auch bei einer Suchtkrankheit, einer schweren Depression, eine schweren Somatisierungsstörung oder einem Schmerzsyndrom sowie bei allen dissoziativen Störungen zu überprüfen, ob es sich um eine kPTBS handeln könnte. Die Wiederentdeckung des Traumas als psychodynamisch wirksames Ereignis war ein wichtiger Impuls für Forschung und Therapie. Schon eine erste Betrachtung der Diagnosekriterien zeigt, dass erhebliche Überschneidungen zwischen der kPTBS und der BPS bestehen (siehe Tab. 1). Wenn der Überschneidungsbereich der Störungsbilder BPS und kPTBS - einschließlich komplexer dissoziativer Störungen - so groß ist, liegt es nahe, beide Diagnosen als Ausprägungen einer gemeinsamen, durch Entwicklungstraumatisierungen ausgelösten Grundproblematik zu fassen. Diesen Vorschlag machen Miller und Resick, die Tab. 1: Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Symptomkriterien von Borderline-Persönlichkeitsstörung und komplexer Posttraumatischer Belastungsstörung Borderline-Persönlichkeitsstörung Impulsivität in mindestens 2 potentiell selbstschädigenden Bereichen Wiederholte suizidale Handlungen, Suiziddrohungen Affektive Instabilität und Stimmungsschwankungen komplexe Posttraumatische Belastungsstörung Störung der Affektregulation mit impulsiven und risikoreichen Verhaltensweisen Selbstverletzendes und suizidales Verhalten Störung der Affektregulation, Impulsivität und autodestruktives oder risikoreiches Verhalten Chronisches Gefühl von Leere Unangemessene heftige Wut Ausgeprägte Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung Vorübergehende paranoide oder dissoziative Symptome Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen (Idealisierung und Entwertung) Schwierigkeiten, Ärger zu modulieren Selbstvorwürfe, Schuldgefühle, Scham, Gefühl, isoliert von anderen Menschen zu sein Dissoziative Symptome Extremes Misstrauen, Tendenz, erneut zum Opfer zu werden Somatoforme Köperbeschwerden Verzweifeltes Bemühen, Verlassenwerden zu vermeiden Fehlende Zukunftsperspektive, Verlust von persönlichen Grundüberzeugungen bei sexuell traumatisierten Frauen und bei Kriegsveteranen zwei Typen posttrauma tischer Symptomatik in Form externalisierender und internalisierender Symptome fanden. Externalisierende Symptome sind durch Impulsivität, Substanzmissbrauch und Züge einer Cluster-B-Persönlichkeitsstörung charakterisiert. Internalisierende Symptome entsprechen depressiven Re aktionen, Selbstverletzungen , dissoziativen Symptomen sowie ängstlichem Ver meidungs verhalten und sozialem Rückzug. Die BPS wäre demnach als externalisierender Typus einer komplexen Traumafolgestörung zu verstehen, während die von Herman (1992) vorgeschlagene Diagnose kPTBS der internalisierenden Ausprägung einer Traumafolgestörung entspricht. Konsequenterweise wird derzeit die Strategie verfolgt, die Diagnose einer Entwicklungstraumafolgestörung (Developmental Trauma Disorder) , die sowohl externalisierende als auch internalisierende Symptome und auch dissoziative Symptome umfasst, in das Kinder-Jugend-Kapitel des DSM-V einzuführen. Das Konzept einer komplexen Traumafolgestörung mit externalisierenden und internalisierenden Ausprägungen deckt sich gut mit der klinischen Beobachtung, dass es Mischformen zwischen den beiden Extrempolen der Symptomausprägung gibt und dass sich internalisierende und externalisierende Symptomatik beim gleichen Patienten zeitlich abwechseln können. Dies ist typischerweise dann zu beobachten, wenn auch erhebliche dissoziative Symptome vorliegen. 3.5 Konsequenzen für die Behandlung von traumatisierten Patienten mit einer kPTBS Die Befunde haben eine hohe Relevanz für die Konzeption der psychotherapeutischen Behandlung. Nach unserer Erfahrung ist eine speziell auf die Traumafolgesymptomatik ausgerichtete Psychotherapie bei diesen Patienten von großem Nutzen (Sachsse, 2004; Sack, 2010). Die Diagnose einer PTBS oder einer komplexen Traumafolgestörung bei Patienten mit einer BPS zu stellen sollte unmittelbare Bedeutung für die Differentialindikation zur psychotherapeutischen Behandlung haben, so dass Patienten gezielt mit traumatherapeutischen Methoden behandelt werden können. Neben einer optional immer möglichen stabilisierenden, die Ich-Funktionen fördernden Behandlung stehen inzwischen schonende konfrontative Behandlungsstrategien zur Verfügung, die ?exibel an die Belastungsfähigkeit von Pa tienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen angepasst werden können (Sack, 2010). Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die Behandlung der komorbiden dissoziativen Symptomatik, insbesondere dann, wenn Symptome von Fragmentierung vorliegen. Die psychotherapeutische Behandlung von Traumafolgesymptomen bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen muss sich einer spezi?schen Pro blematik stellen (Sachsse, 2004). Diese Problematik ist darin zu sehen, dass beide zentralen Stressbewältigungssysteme des Menschen schwer geschädigt sind: das Bindungs- Panik-System und das Furcht- Kognitions-System. Störungen im Bereich der Bindungsfähigkeit beeinträchtigen die Fähigkeit, in der Therapie eine sta bile, vertrauensvolle und belastbare Ar INGO SCHÄFER 8. Traumatisierung und Sucht 8.1 Einleitung Substanzmissbrauch und -abhängigkeit, im Folgenden als »substanzbezogene Störungen« bezeichnet, zählen zu den häu?gsten Folgen traumatischer Erfahrungen. Studien an der Allgemeinbevölkerung weisen darauf hin, dass nach sexueller und/oder körperlicher Gewalt in der Kindheit 14 - 35 % der Betroffenen während ihres Lebens an einer substanzbezogenen Störung leiden, verglichen mit 3 - 12 % der Personen ohne diese Erfahrungen (z. B. Mullen et al., 1993; MacMillan et al., 2001). Bei Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erhöht sich die Lebenszeitprävalenz substanzbezogener Störungen in der Allgemeinbevölkerung auf 22 % - 43 % (Jacobsen et al., 2001). Patienten, die sich aufgrund früher Traumatisierungen in Therapie befinden, leiden zu 30 - 35 % während ihres Lebens an einer substanzbezogenen Störung (z. B. Levitt & Cloitre, 2005), und mindestens 30 - 50 % der Patienten in Suchtbehandlung berichten von Gewalterfahrungen in frühen Lebensabschnitten (z. B. Simpson & Miller, 2002). Im Folgenden wird ein Überblick über Zusammenhänge zwischen traumatischen Erfahrungen und substanzbezogenen Störungen, über die Häu?gkeit und klinische Bedeutung von Traumatisierungen bei Personen in Suchtbehandlung und den aktuellen Stand traumatherapeutischer Ansätze für diese Patientengruppe gegeben. 8.2 Traumatisierung als Risikofaktor für Sucht 8.2.1 Substanzbezogene Störungen nach traumatischen Erfahrungen Sowohl Zwillingsstudien (z. B. Nelson et al., 2006) als auch populationsbasierte Studien belegen, dass frühe interpersonelle Traumatisierungen mit einer späteren Sucht assoziiert sind. Dies zeigt sich insbesondere im Hinblick auf den Beginn süchtigen Verhaltens im Jugendalter. So fanden etwa Shin et al. (2009) bei einer repräsentativen Stichprobe von mehr als 12 000 Jugendlichen, dass sexueller Missbrauch , Misshandlung und Vernachlässigung robuste Risikofaktoren für exzessiven Konsum (»binge drinking«) im Jugendalter waren, auch nach Kontrolle von soziodemographischen Variab len, Alkoholabhängigkeit der Eltern und elterlichem Aufsichtsverhalten. In einer prospektiven Studie begleiteten Fergusson und Kollegen (Fergusson et al., 1996; Fergusson & Lynskey, 1997) eine neuseeländische Geburtskohorte bis zum 18. Lebensjahr. Neben weiteren psychosozialen Belastungsfaktoren in der Kindheit wurden u. a. der sozioökonomische Status der Eltern, elterliches Erziehungs- und Bindungsverhalten sowie Substanzmissbrauch und andere psychiatrische Probleme der Eltern erhoben Im Alter von 18 Jahren wurden Zusammenhänge zwischen Gewalterfahrungen in der Kindheit und aktuellen substanzbezogenen Störungen untersucht. Im Hinblick auf sexuellen Missbrauch gab es dabei insbesondere bei schweren Formen deutliche Zusammenhänge mit substanzbezogenen Störungen, die auch nach Kontrolle der anderen Faktoren bestehen blieben. Die Zusammenhänge zwischen sexuellem Missbrauch und substanzbezogenen Störungen waren in Bezug auf den Missbrauch bzw. die Abhängigkeit von Drogen deutlicher ausgeprägt als in Bezug auf Alkoholabhängigkeit bzw. -abusus . Bei körperlicher Misshandlung gab es hingegen insbesondere mit Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit signi?kante Zusammenhänge, die ebenfalls mit der Schwere der Erlebnisse korrelierten und nach Kontrolle weiterer Risikofaktoren bestehen blieben. Dabei spielen weitere belastende Entwicklungsbedingungen offensichtlich ebenfalls eine Rolle bei der Entstehung späterer substanzbezogener Störungen (z. B. Dube et al., 2002). 8.2.2 Mögliche Mechanismen Verschiedene Erklärungsansätze können einen Beitrag dazu leisten, den Ein?uss früher Traumatisierungen auf spätere Suchtprobleme zu verstehen. So können interpersonelle Traumatisierungen zu psychischen Folgen führen, die die Entwicklung substanzbezogener Störungen begünstigen. Dabei handelt es sich neben Problemen im Bereich der Emotionsregulation u. a. um Beeinträchtigungen des Selbstwerts und des Identitätsgefühls, um maladaptive kognitive Schemata und dysfunktionale Copingstrategien (Cohen & Hien, 2006). Auch die neurobiologischen Folgen früher Traumatisierungen, etwa Veränderungen der für substanzbezogene Störungen relevanten neuroendokrinen Stressantwort, wurden in jüngerer Zeit als mögliche Mediatoren diskutiert (z. B. Schäfer et al. 2010). Klinisch besonders bedeutsam ist die sogenannte »Selbstmedikations-Hypothese «. Alkohol- oder Drogenkonsum stellt ihr zufolge einen - teilweise erfolgreichen - Versuch dar, schmerzvolle oder in anderer Weise schwer erträgliche emotionale Zustände zu beein?ussen und weitere Traumafolgen, wie Rückzugsverhalten oder Probleme mit sozialen Kontakten, erträglicher zu machen. Besonders in Bezug auf die Sym ptome der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) liegen bei Patienten mit substanzbezogenen Störungen inzwischen zahlreiche Befunde vor, die diese Hypothese untermauern. So befragten Stewart et al. (2000) 294 Personen mit Alko hol- bzw. Medikamentenabhängigkeit, von denen eine Untergruppe zusätzlich eine PTBS aufwies, zu typischen Konsumsituationen. PTBS-Symptome korrelierten signi?kant mit häu?gerem Konsum in negativen Situationen (z. B. belastende Emotionen, körperliches Unwohlsein, Kon?ikte) und seltenerem Konsum in positiven Situationen (z. B. geselliges Trinken, neutrale »Versuchungssituationen«). Ähnliche Zusammenhänge mit belastenden Emotionen fanden sich bei Patienten mit substanzbezogenen Störungen und PTBS in Bezug auf Rückfälle in Substanzkonsum (Ouimette et al., 2007). Weiter wurde die »Selbstmedikations- Hypothese« in jüngerer Zeit durch eine Reihe experimenteller Studien zum Ein?uss von posttraumatischen Symptomen auf das Suchtverlangen (»Craving«) gestützt. So fand sich bei Patienten mit Alkoholabhängigkeit und komorbider PTBS ein verstärktes Suchtverlangen bei Darbietung traumabezogener Reize. Bei Patienten mit einer PTBS, die eine traumabezogene Expositionstherapie absolviert hatten, ging das Suchtverlangen signi?kant zurück, im Vergleich zu Patienten, die keine entsprechende Behandlung absolviert hatten (Coffey et al., 2006). 8.3 Befunde bei Personen mit substanzbezogenen Störungen 8.3.1 Prävalenz traumatischer Erfahrungen in 20 Studien eine Rate von 16 %. Zu körperlicher Gewalt in der Kindheit wurden 19 Studien an weiblichen und 12 Studien an männlichen Patienten berücksichtigt. Erfahrungen früher körperlicher Gewalt waren darin von durchschnittlich 39 % der weiblichen und 31 % der männlichen Patienten berichtet worden. Personen, die sich aufgrund von Drogen - oder Mehrfachabhängigkeit in Behandlung be?nden, weisen zumeist noch höhere Raten früher körperlicher und/oder sexueller Gewalt auf. So fand etwa Schmidt (2000) bei 215 Opiatabhängigen in Substitutionsbehandlung, dass 60 % der Frauen und 25 % der Männer schwere Formen sexueller Gewalt in der Kindheit erlebt hatten. In einer Kontrollgruppe ohne Suchterkrankun gen waren lediglich 11 % der Frauen und 6 % der Männer betroffen. In der Gruppe der Opiatpatienten lagen zudem signi fikant schwerere Formen sexueller Gewalt vor, die in jüngerem Alter vorgefallen waren und häu?ger mit Inzest verbunden gewesen waren. Bei Personen mit substanzbezogenen Störungen ?nden sich gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhte Raten trau mati scher Erfahrungen. Die meisten Untersuchungen befassten sich dabei mit sexueller und/oder körperlicher Gewalt in der Kindheit. Je nach Art der Erhebung und der untersuchten Stichprobe berichten 30 - 90 % der befragten Patientinnen und Patienten von mindestens einer dieser Formen früher Gewalt. Simpson und Miller (2002) kamen in einer Übersicht über 47 Studien bei weiblichen Patientinnen mit sub stanzbezogenen Störungen zu einer durchschnittlichen Prävalenzrate früher sexueller Gewalt von 45 %. Bei männlichen Patienten fand sich Mindestens 30 % der Männer und 50 % der Frauen in Suchtbehandlung berichten von körperlicher und/oder sexueller Gewalt in der Kindheit. Bei Personen mit Drogen - oder Mehrfachabhängigkeit ?nden sich oft höhere Raten. Substanzbezogene Störungen sind nicht nur mit Erfahrungen früher Gewalt, sondern auch mit Gewalterfahrungen in späteren Lebensphasen assoziiert. So fanden etwa Kilpatrick et al. (1997) in einer Studie an der Allgemeinbevölkerung, dass bei Frauen, die in den zurückliegenden 12 Monaten Drogen genommen hatten , eine dreimal höhere Wahrscheinlichkeit bestand, in den folgenden 2 Jahren Opfer sexueller oder physischer Übergriffe zu werden. Die Gründe für diese Zusammenhänge sind komplex. Bestimmte Konsumsituationen machen den Kontakt zu potentiellen Tätern wahrscheinlicher und Risikosituationen können in intoxikiertem Zustand weniger gut eingeschätzt werden. Bei Drogenabhängigen führen Beschaffungsprostitution und die Gewaltbereitschaft in der »Szene« zu einem drastisch erhöhten Risiko traumatischer Erfahrungen. Beide Problembereiche, die Folgen früherer Traumatisierungen und die Begleitumstände der Abhängigkeit, sind also häu?g eng miteinander verwoben. Besonders klare Zusammenhänge bestehen zwischen Substanzproblemen und bestimmten Formen sexueller Gewalt. So konnte für Opfer sexueller Gewalt, bei der sich der Täter zunutze macht, dass das Opfer nach Substanzgebrauch schwer intoxikiert ist (engl. »Incapacitated rape«), oder die Intoxikation durch den Täter absichtlich herbeigeführt wurde (engl. »Drug-alcohol facilitated rape«), klar gezeigt werden, dass bei ihnen bereits vor den Delikten häu?ger Substanzmissbrauch vorlag als bei Opfern anderer Formen sexueller Gewalt. Weiter belegen zahlreiche Befunde die hohe Gefährdung von Personen mit substanzbezogenen Störungen durch häusliche Gewalt, zumeist durch ebenfalls suchtkranke Partner. Moore et al. (2008) kamen in einer Metaanalyse von 96 Studien zu Gewalt in der Partnerschaft von Drogenkonsumenten zu dem Ergebnis, dass das Ausmaß der Gewalt mit der Schwere des Drogenkonsums und der drogenbezogenen Probleme assoziiert war. Dieser Zusammenhang fand sich unabhängig vom Geschlecht der konsumierenden und/oder Gewalt ausübenden Person. Foran und O'Leary (2008) fanden ähnliche Zusammenhänge in einer Metaanalyse von Studien zu Gewalt in Partnerschaften bei Personen mit Alkoholproblemen . Allerdings waren Frauen hier stärker als Männer von Gewalt betroffen, insbesondere wenn sie sich in Behandlung befanden und stärkere Alkoholprobleme vorlagen. Zudem sind wie bei anderen Personengruppen auch bei Suchtkranken frühe Gewalterfahrungen und posttraumatische Störungen signi?kant mit weiteren Ge walt erfahrungen im Erwachsenenalter asso zi iert. Personen mit substanzbezogenen Störungen sind auch in späteren Lebensabschnitten häufiger körperlicher und/oder sexueller Gewalt ausgesetzt als die Allgemeinbevölkerung. Risikofaktoren sind die Schwere der Abhängigkeit, ebenfalls suchtkranke Partner, frühere Gewalterlebnisse und komorbide posttraumatische Störungen. 8.3.2 Komorbide psychische Störungen Bei traumatisierten Patienten mit substanzbezogenen Störungen ?nden sich hohe Raten weiterer psychischer Störungen. Die meisten Befunde liegen dabei zur Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vor. Wie die Häu?gkeit traumatischer Erfahrungen variiert auch die Häu?gkeit der PTBS in Abhängigkeit von der untersuchten Stichprobe. So ?nden sich bei Frauen mit Suchterkrankungen doppelt so hohe PTBS-Raten wie bei Männern (z. B. Mills et al., 2006), und es zeigen sich Zusammenhänge mit der Art der konsumierten Substanz. Auch in Bezug auf die PTBS ?nden sich höhere Raten bei Konsumenten »harter Drogen« oder Mehrfachabhängigen, verglichen mit Personen mit Alkohol- oder Cannabisabhängigkeit. In angloamerikanischen Studien wurde bei Suchtpatienten in Behandlung eine Punktprävalenz der PTBS von 15 - 41 % und eine Lebenszeitprävalenz von 26 - 52% gefunden (Schäfer & Najavits, 2007). Ähnliche Zahlen wurden in der bislang größten deutschen Untersuchung berichtet, in der insgesamt 459 Patientinnen und Patienten aus 14 Einrichtungen anhand etablierter Fragebögen und eines strukturierten klinischen Interviews auf das Vorliegen einer PTBS untersucht worden waren (Driessen et al., 2008). Unabhängig vom Geschlecht lag in dieser Studie bei 15 % der Alkoholabhängigen , 30 % der Drogenabhängigen und bei 34 % der Mehrfachabhängigen eine akute PTBS vor. Um die hohen PTBS-Raten bei Suchtpatienten zu erklären, wurden unterschiedliche Hypothesen aufgestellt (Schäfer & Najavits, 2007). Wie oben beschrieben, werden psychotrope Substanzen von vielen Betroffenen eingesetzt, um beeinträchtigende Symptome in der Folge traumatischer Erfahrungen zu lindern (»SelbstmedikationsHypothese« ). Weiter erhöht das Vorliegen einer Suchterkrankung die Wahrscheinlichkeit traumatischer Erfahrungen und damit das Risiko, eine PTBS zu entwickeln (»Hochrisiko-Hypothese «). Dabei ist auch von Bedeutung, dass bei Personen mit substanzbezogenen Störungen aufgrund einer veränderten Prozessierung traumatischer Erfahrungen eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht, die Störung nach einer Traumaexposition zu entwickeln (»Vulnerabilitäts-Hypothese «). Schließlich werden in jüngerer Zeit auch gemeinsame neurobiologische Grundlagen beider Störungen diskutiert. Suchtpatienten in Behandlung weisen eine Punktprävalenz der PTBS von 15 - 41 % und eine Lebenszeitprävalenz von 26 - 52 % auf. Erklärungsansätze bieten u. a. die »Selbstmedikations- «, die »Hochrisiko-« und die »Vulnerabilitäts-Hypothese «. Auch für weitere psychische Störungen bei Personen mit Suchterkrankungen - etwa Depressionen, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen - wurden Zusammenhänge mit frühen Traumatisierungen berichtet. So fanden Clark et al. (2003) in einer prospektiven Studie an 400 Jugendlichen mit alkoholbezogenen Störungen , dass sexueller Missbrauch und Misshandlung sowohl mit »primären« Depressionen als auch mit »sekundären« Depressionen, die nach Beginn der Suchterkrankung auftraten, assoziiert waren. Insgesamt stellen »Mehrfachdiagnosen« bei traumatisierten Personen mit substanzbezogenen Störungen offensichtlich eher die Regel als die Ausnahme dar. Mills et al. (2006) fanden in einer Studie an der australischen Allgemeinbevölkerung, dass zwei Drittel der Personen mit einer Suchterkrankung und einer komorbiden PTBS zusätzlich die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung aufwiesen, zwei Drittel die Kriterien für eine zusätzliche affektive Störung erfüllten und etwa die Hälfte die Kriterien für eine Angststörung. Angesichts dieser Zusammenhänge erscheint es bei vielen Betroffenen nur begrenzt als sinnvoll, substanzbezogene Störungen als »Komorbidität« posttraumatischer Störungen zu konzeptualisieren. Insbesondere nach frühen Traumatisierungen ist Substanzkonsum offensichtlich ein - klinisch nicht selten besonders bedeutsamer - Aspekt einer komplexen Gesamtproblematik. 8.3.3 Auswirkungen von Trauma tisierungen und Traumafolgen auf den Verlauf substanzbezogener Störungen größere Häu?gkeit stationärer Aufenthalte, eine insgesamt höhere Inanspruchnahme von Hilfsangeboten und schlechtere Therapieergebnisse anhand verschiedener Outcome-Parameter (z. B. Ouimette et al., 2003). Umgekehrt zeigten sich in Traumatherapie-Studien, die auch Personen mit substanz bezogenen Störungen einschlossen, schlech tere Effekte traumatherapeutischer Verfahren als in Studien, die Patienten mit dieser Komorbidität nicht mit einschlossen (hierzu ist eine Publikation von T. Ehring et al. in Vorbereitung). Traumatisierungen und deren Folgen sind mit einem schweren Verlauf substanzbezogener Störungen asoziiert. Für Suchtpatienten mit einer PTBS wurden häu?g ein besonders früher Beginn der Abhängigkeit und eine längere »Suchtkarriere« mit häufigerem polyvalentem Konsum und mehr Vorbehandlungen berichtet sowie eine größere aktuelle Schwere der Abhängigkeit (z. B. Driessen et al., 2008). Weiter ?nden sich bei betroffenen Patienten größere kognitive Einschränkungen und mehr körperliche Probleme, mehr interpersonelle Probleme, Impulsivität und Suizidgedanken sowie erneute Opfererfahrungen (z. B. Cohen & Hien, 2006). Vergleichbare klinische Besonderheiten zeigen sich in Studien, die nicht posttraumatische Störungen, sondern interpersonelle Traumatisierungen als Prädiktorvariable wählten (z. B. Schäfer et al., 2009). Im Zusammenhang mit diesen Problemen sind sowohl frühe Traumatisierungen als auch posttraumatische Störungen mit einem schlechteren Ansprechen auf die Suchtbehandlung assoziiert. So wurde für Patienten mit der Diagnose einer komorbiden PTBS gezeigt, dass sie eine geringere Therapieadhärenz und kürzere Abstinenzphasen aufwiesen; berichtet wurden eine 8.4 Traumatherapie bei Personen mit substanzbezogenen Störungen Zu allen traumaspezi?schen Interventionen liegen auch bei Personen mit substanzbezogenen Störungen inzwischen positive Erfahrungen vor. Dabei wird eine integrative Behandlung, die von Anfang an Elemente aus der Sucht- und der Traumatherapie phasengerecht miteinander kombiniert, gegenüber sequentiellen Behandlungsansätzen als erfolgversprechender angesehen. Trauma- und Suchtproblematik sollten in der Regel integrativ behandelt werden. Sucht- und traumaspezi?sche Interventionen müssen dabei phasengerecht miteinander kombiniert werden. Bei traumatisierten Patienten, die in frühen Phasen der Behandlung nur schwer von Substanzen abstinent bleiben können, haben stabilisierende Behandlungsansätze einen wichtigen Stellenwert. Zu einem integrativen Therapieprogramm (»Sicherheit URSULA C. GASCH UND CHRISTOPHER P. KRESS 8. Sexualdelikte - eine kriminologische, juristische und psychotraumatologische Sicht Unabhängig von der professionellen Zugehörigkeit erlebt jeder, der beru?ich mit Sexualdelikten befasst ist, dass dem Phänomen selbst und vor allem Opfern und Tätern nur vor einem interdisziplinären Hintergrund angemessen begegnet werden kann. Sexualstraftaten sind Delikte, die in der Regel die körperliche Integrität und die Persönlichkeit der Geschädigten extrem tangieren. Dabei ist die juristische wie auch die psychische Aufarbeitung sexueller Gewalterfahrungen in der heutigen Zeit - nicht zuletzt auch wegen der großen Medienwirksamkeit - ein höchst sensibles Feld. Während der Geschädigte früher lediglich Zeuge und Beweismittel im Strafverfahren war, setzte die besondere Beachtung eines Opfers in Deutschland als eigenständige und mit eigenen Rechten ausgestattete Rechtspersönlichkeit erst Mitte der 1970er Jahre ein. Zu dieser Zeit gründete sich auch die Opferhilfevereinigung »Weißer Ring«, welche dazu beitrug, Aufgaben und An liegen der Opferhilfe auf breiter Ebene publik zu machen. Am 16. Mai 1976 trat das »Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG)« in Kraft. Eine wesentliche Verbes se rung des Opferschutzes im Strafrecht bzw. Strafverfahrensrecht folgte weiter durch das am 1. April 1987 in Kraft tretende »Erste Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Straf ver fahren (Opferschutzgesetz )«. Dadurch wurde der Geschädigte erstmals eigenständiger Pro zessbeteiligter und erhielt das Recht zur Akteneinsicht. Dank des Zeugen schutzgesetzes vom 1. Dezember 1998 gab es zahlreiche Verände rungen der Strafprozessordnung (StPO), die u. a. den »Opfer anwalt auf Staatskosten« möglich machten. Das seit 2002 geltende Gewaltschutzgesetz verbesserte vor allem die Situation von Opfern häuslicher Gewalt. Dem im Laufe der letzten Jahre in Deutschland zunehmend gestärkten Opferschutz läuft leider ein massives Diktat der Quote in den Medien zuwider, das darüber hinaus Ermittlungen zu erschweren und sich nicht zuletzt auch auf den Verlauf spektakulärer Gerichtsverfahren auszu wirken droht. Diese Entwicklungen sind als höchst kritisch einzustufen, könnten sie doch rechtsstaatliche Errungenschaften und Garantien betreffend Opferschutz und Strafverfahren aushöhlen. Nachfolgende Ausführungen widmen sich kriminologischen, psychotraumatologischen sowie juristischen Aspekten von Sexualdelikten. 8.1 Vorkommen und Häu?gkeit von Sexualkriminalität in Deutschland Im Jahr 2009 wurden in der Polizeilichen Kri minalstatistik (PKS) insgesamt 6 054 330 Delikte erfasst, von denen 3 368 879 aufgeklärt wurden. Der Anteil von Gewaltkriminalität in der BRD lag bei 208 446 Straftaten, was ca. 3 % aller Delikte entspricht. Die Wahrscheinlichkeit für eine in der BRD lebende Person, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, liegt derzeit bei etwa 0,1875 %. Bei den Straftaten gegen die se xuelle Selbstbestimmung - einer Untergruppe der Gewaltdelikte - wurden im Jahr 2009 49 084 Fälle gezählt. Dies entspricht 0,81 % aller Straftaten. Für das Jahr 2009 weist die PKS allein 7314 Vergewaltigung en und Fälle sexueller Nötigung (§§ 177 II, III und IV; § 178 StGB) aus. Nicht selten gelangen aber auch Sexualdelikte ohne Körperkontakt, wie beispielsweise exhi bi tio - nistische Handlungen und die Erregung öffentlichen Ärgernisses (§§ 183, 183 a StGB), zur Anzeige . Die Zahl lag hier für das Jahr 2009 immerhin bei 7340 Fällen. Die of?ziellen Kriminalstatistiken der Strafverfolgungsbehörden umfassen lediglich die zur Anzeige gebrachten und po lizeilich verfolgten Fälle. Die Fachwelt ist sich einig, dass es sich daher bei den statistisch erfassten Sexualstraftätern nur um einen Bruchteil aller Sexualstraftäter handelt, zumal Sexualdelikte mit ca. 10 % bis 15 % die geringste Anzeigerate aufweisen (vgl. Schwind, 2010; Göppinger, 2008; Gasch, 2010). Die von den Kriminalbehörden der Bundesländer veröffentlichten Fälle werden auch gerne von den Medien aufgegriffen. Der Anteil der Gewaltkriminalität macht in der medialen Presseberichterstattung über Kriminalität 50 % und mehr aus. Die Diktatur der Quote führt damit zu einer enormen Verzerrung der öffentlichen Wahrnehmung, schürt die Furcht der Bevölkerung vor Kriminalität und unterstützt das Anliegen mancher Gewalttäter, die Medien als Plattform zur Selbstdarstellung und Verbreitung gefährlichen Gedankengutes zu nutzen, was im Übrigen Trittbrettfahrer zur Nachahmung animieren kann (vgl. Schwind, 2010). Aus der Verurteilungsstatistik ist ablesbar, in wie vielen Fällen eine angezeigte Tat zur Verurteilung führte. Die Aufklärungsquote von Vergewaltigung und sexueller Nötigung - betreffend das gesamte deutsche Bundesgebiet - lag im Jahr 2009 laut PKS bei 81 %. Allerdings gelangen nicht alle Fälle, welche den Strafverfolgungsbehörden zur Kenntnis gelangen, vor Gericht, und so stimmen die Verurteilungsstatistiken weder mit den Strafverfolgungsstatistiken überein noch lassen sie einen Schluss auf die wahre Anzahl begangener Sexual delikte oder von Sexualstraftätern zu. Tatsächlich ist es ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen, sich ein Bild über das konkrete Ausmaß von Sexualstraftaten verschaffen zu wollen. Die vertrauliche Befragung stellt derzeit noch die valideste Option dar, um zu Prävalenzdaten zu gelangen. Aus über 50 Studien, die weltweit in unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) durchgeführt wurden, geht hervor, dass etwa jede vierte Frau in ihrem Leben mindestens einmal Opfer einer Vergewaltigung oder einer sexuellen Nötigung geworden ist (Fiedler, 2004). Eine aktuellere Studie von Kilpatrick et al. (2007) kommt auf der Grundlage einer Befragung von 5000 Frauen im Alter zwischen 18 und 86 Jahren zu dem Ergebnis, dass 18 % (ca. 20 Millionen) von 112 Millionen der in den USA lebenden Frauen im Laufe ihres Lebens Opfer einer Vergewaltigung wurden. Nur 16 % dieser Fälle wurden bei der Polizei angezeigt. Die Spannweite der anhand internationaler Befragungsstudien erfassten Missbrauchsfälle reicht bei Mädchen von 7 bis 36 % und bei Jungen von 3 bis 29 % (Fiedler, 2004). Die erheblichen Diskrepanzen zwischen den Zahlen der Statistiken der Strafverfolgungsbe hör den und denen der im Rahmen wissen schaft licher Studien durchgeführten Be fra gungen, denen unabhängig von einer Anzeige ge machte Selbstauskünfte von Opfern zugrunde liegen, zeigen deutlich auf, wie erheblich das Dunkelfeld betreffend Sexual delikte ist. Scham, wirtschaftliche Abhängigkeit, mangelnde Rechtskenntnisse und Beweisprobleme stellen besondere Hindernisse für ein Opfer dar, Täter anzuzeigen. Auch weiß man, dass mit zunehmendem Bekanntheitsgrad zwischen Täter und Opfer die Anzeigebereitschaft sinkt (Göppinger, 2008; Burgheim & Friese, 2008). PKS sowie Verurteilungszahlen bieten lediglich ein vages Abbild der objektiven Realität im Hinblick auf das gesamte Ausmaß der Sexualdelinquenz. Noch schwieriger wird eine Bezif ferung der Sexualstraftaten , wenn man diverse Opfergruppen berücksichtigt. 8.2 Sexuelle Übergriffe auf spezielle Opfergruppen Auf spezielle Gruppen, wie beispielsweise Kinder, Behinderte und ältere Menschen - besonders ältere Frauen -, zielende sexuelle Übergriffe weisen eine kaum mehr zu schätzende Dunkelziffer auf. Eine ebenfalls schwierige Situation ergibt sich im Zusammenhang mit Sexualdelikten, bei denen die Geschädigten aufgrund Alkohol- oder Drogenkonsums widerstandsunfähig waren bzw. vom Täter widerstandsunfähig gemacht wurden, damit er seine Tat begehen konnte. 8.2.1 Ältere Frauen als Opfer von Sexualdelikten Im Rahmen einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN, 2005) wurde offenkundig, dass sich Exhibitionisten häu?g auf Friedhöfen aufhalten, um sich vor älteren Frauen zu entblößen. Bundesweit waren es in der gesamten BRD im Jahr 2003 1000 ältere Opfer (Frauen), von denen ca. drei Viertel von Exhibitionismus bzw. Erregung öffentlichen Ärgernisses betroffen waren. Im Jahr 2008 stellten in ganz Deutschland gerade mal 146 Frauen im Alter von über 60 Jahren Anzeige wegen sexueller Nötigung . Bei allen Formen von Sexualstraftaten werden Frauen ab dem 60. Lebensjahr seltener als Opfer polizeilich registriert als jüngere Frauen und weibliche Jugendliche. Dieser Unterschied ist besonders bei schweren Sexualdelikten eklatant. Im Rahmen der durch das KFN durchgeführten Interviews mit PraktikerInnen aus verschiedenen Institutionen zeigte sich weiter, dass es unter älteren Frauen Fälle langjährig wiederholter sexueller Gewalt durch Ehe- und Lebenspartner gibt, die der Polizei nicht bekannt werden. Ein großes Problem bei älteren weiblichen Opfern, speziell den Jahrgängen, welche den Krieg bzw. die Nachkriegszeit erlebten, ist die Tatsache, dass viele von ihnen damals schon Opfer von Sexualdelikten waren. Dass sie neuerlich Opfer werden, stellt damit gleichsam eine Reviktimisierung mit erheblichem Retraumatisierungspotential für diese Opfergruppe dar. Fallbeispiel: Im Februar 2004 verurteilt das Landgericht Bielefeld einen 21-jährigen Mann zu 9 Jahren und 6 Monaten Jugendstrafe. Der Mann war zweimal in eine stationäre Altenp?egeeinrichtung eingedrungen und hatte dort eine 86-jährige und eine 94-jährige Bewohnerin vergewaltigt . Er konnte aufgrund einer DNA-Analyse überführt werden. 8.2.2 Kinder als Opfer von Sexualdelikten Beim sexuellen Missbrauch von Kindern lässt sich über die absoluten Zahlen der Fälle nur spekulieren, da die Opfer meist, wenn überhaupt, erst nach Jahren oder Jahrzehnten in der Lage sind, über ihre Missbrauchserfahrungen zu berichten. Außerdem entstammt die Mehrzahl der Täter in diesen Fällen dem sozialen Nahraum der Opfer. Es handelt sich dabei vor allem um Familienmitglieder, Nachbarn, Freunde der Familie, Babysitter und Erziehungs- sowie Autoritätspersonen (Haupt et al., 2003; Göppinger, 2008). Die Entscheidung darüber, ob Anzeige erstattet wird, wird darüber hinaus meist durch Eltern und Angehörige eines Opfers getroffen. Insofern hat die soziale Dynamik einen erheblichen Ein?uss darauf, wenn ein Täter nicht bzw. nicht zeitnah zum Tatzeitpunkt bei den Strafverfolgungsbehörden angezeigt wird. Es besteht außerdem das Problem, dass der Ablauf der Verjährungsfrist eine strafrechtliche Verfolgung unmöglich macht. Laut PKS von 2009 wies die Zahl der Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern (§§ 176, 176 a, 176 b StGB) mit 11 319 Fällen den niedrigsten Stand seit 1993 auf. Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester: Eine umfassende Studie des amerikanischen Kriminalitätsforschungsinstituts John Jay College im Auftrag der katholischen Bischofskonferenz ergab, dass zwischen 1950 und 2002 knapp 4400 US-amerikanische Priester mindestens 11 000 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht hatten. Etwa 4 % der in diesem Zeitraum tätigen katholischen Kleriker in den USA wurden nach dieser Studie zum Sexualverbrecher. Wegen der Verjährungsfristen konnten nur wenige Fälle strafrechtlich verfolgt werden. Rechtskräftig verurteilt wurden lediglich 138 Priester (Gasch 2010; John Jay College of Criminal Justice, 2004, 2006). 8.2.3 Behinderte als Opfer von Sexualdelikten Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) erfasst im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen sowie Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses nicht explizit, inwieweit behinderte Menschen Opfer dieser Delikte wurden, weil körperliche oder geistige Behinderungen kein separates Erfassungskriterium der PKS darstellen. Es wird lediglich die Gesamtheit der Personen, die Opfer einer Straftat gemäß § 179 Nr. 1 und 2 StGB (Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen) geworden sind, erfasst. Weder international noch für Deutschland liegen repräsentative Studien vor, die Aussagen über sexuelle Gewalt gegen be hinderte Menschen zulassen. Von der Fachhochschule für Sozialwesen Esslingen wurde 1994 eine bundesweite Fra gen bogenaktion durchgeführt, bei der Mit arbeiterInnen von Einrichtungen für behinderte Menschen zum Thema befragt wurden (vgl. Noack & Schmid 1994). Ein Großteil der 308 beantworteten (von 874 versandten) Fragebögen kam aus Wohnheimen mit erwach senen behinderten Menschen. Die Hälfte der Einrichtungen äußerte sich zum Thema sexuelle Gewalt in der Einrichtung, und es wurden insgesamt 443 weibliche Fälle und 131 männliche Fälle benannt. Danach wurden 574 betroffene behinderte Menschen aus 158 Einrichtungen Opfer von sexueller Gewalt in Institu tionen. Be zogen auf die verschiedenen Altersgruppen verteilten sich die Opferzahlen wie folgt: n 10,7 % Mädchen und 5,2 % Jungen, n 8,7 % weibliche Jugendliche und 2,9 % männliche Jugendliche, n 31,5 % Frauen und 16,6 % Männer. Als ein Fazit kann festgehalten werden, dass geistig behinderte Mädchen und Frauen 2- bis 3-mal mehr Opfer von sexueller Gewalt werden als geistig behinderte Jungen und Männer. Kritisch anzumerken ist, dass die Erhebung von Noack und Schmid (1994) nur auf einem Fragebogen beruht, der sich an Fachkräfte in der Einrichtung richtete, aber keine direkte Be fragung von Menschen mit geistiger Behinderung beinhaltete. 8.2.4 Aufgrund von Alkohol- oder Drogenein?uss widerstandsunfähige Opfer Es fällt auf, dass für Sexualdelikte auf der Täter- sowie auf der Opferseite überdurchschnittlich häu?g Alkoholein?uss eine Rolle spielt (Göppinger, 2008). Während die Alkoholisierungsrate im Durchschnitt für alle in Bezug auf Straftaten Tatverdächtigen bei unter 12 % liegt, beträgt sie bei den einer Sexualstraftat Verdächtigen etwa 25 %. Im Zusammenhang mit Vergewaltigung und sexueller Nötigung wird der Anteil der unter Alkohol stehenden Opfer mit ca. einem Drittel beziffert. Die Verurteilungsquote ist erfahrungsgemäß umso geringer, je stärker das Opfer zum Tatzeitpunkt alkoholisiert war. Bezüglich der Viktimisierung von Opfern, die zum Tatzeitpunkt stark unter Drogen- oder Alkoholein?uss standen, sowie möglicher Unterschiede in der Verarbeitung des Tatgeschehens - im Vergleich zu Sexualopfern, die nicht unter dem Ein?uss die Widerstandsfähigkeit herabsetzender Substanzen wie beispielsweise Rohypnol standen -, liegen nur wenig Anhaltspunkte vor. Weit verbreitet ist die Ansicht, dass die Traumafolgesymptomatik für zum Tatzeitpunkt widerstandsunfähige Vergewaltigungsopfer weniger gravierend sei als für Opfer, die unter Einsatz roher physischer Gewalt vergewaltigt wurden (vgl. Resnick et al., 1993). In diesem Zusammenhang sollen die Erkenntnisse einer vergleichenden Studie aus den USA aus dem Jahr 2009 (von Brown et al.) vorgestellt werden: Die unerwünschten sexuellen Erfahrungen von Betroffenen wurden in drei Gruppen aufgeteilt: n »verbal coercion«: Geschädigte wurden in diese Gruppe eingeordnet, wenn sie angaben, unerwünschten Geschlechtsverkehr (oral, vaginal oder anal) gehabt zu haben, da sie sich verbal unter Druck gesetzt und dadurch überrumpelt gefühlt hätten; n »incapacitated rape«: Opfer dieser Variante des sexuellen Übergriffs berichteten davon, unerwünschten Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, bei dem sie weder ihre Zustimmung gegeben hatten, noch Gegenwehr ausüben konnten, da sie unter dem Ein?uss von Alkohol oder Drogen standen; n »forcible rape«: In diese Kategorie ?elen Opfer, wenn sie durch Bedrohung oder die Anwendung von physischer Gewalt zum unerwünschten Geschlechtsverkehr gezwungen wurden. Eine erste Studie, die Brown et al. auswerten (Abbey et al., 2004), basierte auf einer Stichprobe von 265 Frauen im Alter von 18 bis 22 Jahren. Von den Untersuchungsteilnehmerinnen ?elen 10,9 % unter die Kategorie der »Forcible-rape«-Opfer, 41,9 % konnten als »Incapacitated-rape«-Opfer und 47,2 % als »Verbal-coercion«-Opfer klassifiziert werden. Die drei Gruppen unterschieden sich erwartungsgemäß signi fikant bezüglich der Intensität ihrer Traumafolgesymptomatik. Allerdings betraf der Unterschied zwischen Opfern von Vergewaltigun gen , die unter Gewaltanwendung verübt worden waren (bei denen die Opfer nicht im beschriebenen Sinne widerstandsunfähig waren), und den zum Tatzeitpunkt widerstandunfähigen Opfern lediglich eine Subskala der Cognitive Distortions Scale, deren Werte bei Ersteren stark erhöht waren (vgl. Briere, 2000). Diese Subskala (preoccupation with danger-subscale) bezieht sich auf die generelle Annahme einer Person, dass die Welt sowie insbesondere zwischenmenschliche Beziehungen gefährlich seien. Bezüglich der Skalen »Selbstvorwürfe«, »Selbstkritik«, »Hil?osigkeit« und »Hoffnungslosigkeit« gab es hingegen keine Unterschiede. Beide Opfergruppen unterschieden sich deutlich von der Gruppe, die mittels verbalen Drucks »überrumpelt« wurde. Dieser Effekt konnte allerdings mittels multivariater Analyse kontrolliert werden: Da die Opfer bezüglich ihrer gravierendsten Erfahrung als Opfer befragt wurden, hatten die zu den Kategorien forcible rape und incapacitated rape zählenden Untersuchungsteilnehmerinnen eine erhöhte Ausprägung der Items angegeben - höher als die mittels verbalem Druck überrumpelten Opfer. Vor dem Hintergrund, dass dieses Phänomen auch eine Folge davon sein könnte, dass Personen durch wiederholte »Forced-rape«- und »Incapacitated-rape«-Viktimisierung hohe Werte aufweisen, wurde der Effekt multipler Viktimisierung en durch Sexualdelikte überprüft. Im Ergebnis zeigten sich im Hinblick auf die Traumafolgesymptomatik dann für alle drei Kategorien unerwünschter sexueller Erfahrungen nur unerheblich differierende Konsequenzen. Die zweite Studie führten Brown et al. selbst mit einer Stichprobe von 1014 Frauen im Alter von 18 bis 30 Jahren aus der allgemeinen Bevölkerung durch. Von den Teilnehmerinnen berichteten 244 Frauen, einschlägige Erfahrungen gemacht zu haben. Es ?elen 30,0 % unter die Kategorie der »Forcible-rape«-Opfer, 20,0 % konnten als »Incapacitated-rape«-Opfer und 50,0 % als »Verbal-coercion«-Opfer klassi?ziert werden. Weitere Ergebnisse der vergleichenden Studie von Brown et al. (2009) sind: n Die Vergewaltigung bei durch Alkohol oder Drogen induzierter Widerstands unfähigkeit ist in College-Stichproben weiter verbreitet als in der allgemeinen Bevölkerung. n Die Traumafolgesymptomatik eines aufgrund von Alkohol- oder Drogenkonsum widerstandsunfähigen Opfers unterscheidet sich nicht signi?kant von der eines mittels Bedrohung oder physischer Gewalt zum Geschlechtsverkehr gezwungenen Opfers. n Zum Tatzeitpunkt widerstandsunfähige Vergewaltigungsopfer haben eine geringere Bereitschaft, den Täter anzuzeigen, als »Forcible-rape«-Opfer. n »Forcible-rape«-Opfer gaben häu?ger an, dass die Erfahrung ihr soziales Leben und ihre Partnerschaft beeinträchtige; auch suchten sie häu?ger Hilfe bei Fachleuten als andere Vergewaltigungsopfer. n Die Intensität der Traumafolgen von widerstandsunfähigen Opfern ließ ebenso wie die der »Forcible-rape«-Opfer über die Zeit nach. Bei Ersteren war die Abnahme allerdings weniger dramatisch und die Traumafolgen beider Gruppen lagen schließlich nach einiger Zeit auf einem Niveau. n Zum Tatzeitpunkt widerstandsunfähige Opfer geben sich selbst mehr Schuld als »Forcible-rape«-Opfer, was sehr negative Folgen für die Bewältigung hat. Brown et al. (2009) schlussfolgern, dass es gerechtfertigt sei, die Vergewaltigung mittels Drohung und physischer Gewalt sowie die Vergewaltigung Widerstandsunfähiger zu einer Kategorie zusammenzufassen. 8.3 Juristische Systematik der Sexualdelikte 8.3.1 Einführung Das Sexualstrafrecht umfasst die Strafnormen für Verhaltensweisen mit Sexualbezug. Nach mittlerweile herrschender Auffassung dient das Sexualstrafrecht insbesondere dem Schutz der individuellen sexuellen Selbstbestimmung . Diese Selbstbestimmung ist Teil des allgemeinen, der Menschenwürde entspringenden Persönlichkeitsrechts. Sie ist in vielfältiger Weise mit der intellektuellen, moralischen und sozialen Identität der Person verknüpft. 8.3.2 Materielles Recht im Überblick Kern des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs ist die sexuelle Selbstbestimmung also die Freiheit der Person, über Ort, Zeit, Form und Partner sexueller Betätigung zu entscheiden (vgl. Fischer, 2011, Vor § 174, Rn. 5). Das Sexualstrafrecht diente vormals wesentlich dem Schutz der öffentlichen Sittlichkeit (Sittlichkeitsdelikte), der Gesellschaftsordnung, der Ehre der Familie und der Ehe. Man denke in diesem Zusammenhang an die Strafbewehrung (das Unter-Strafe-Stehen) homosexueller Kontakte, die zunächst 1973, erst aber 1994 durch das 29. Strafrechtsänderungsgesetz vollständig aus dem Strafrecht getilgt wurde, oder da ran, dass Vergewaltigung in der Ehe bis zum Jahr 1997 nicht strafbar war. Derartige Überlegungen sind mit einem modernen Verständnis des Strafrechts nicht zu ver einbaren. Insbesondere sind Rechtfertigungs strategien im Zusammenhang mit sog. »Ehrenmorden«, wonach die Tat aus ANNETTE STREECK-FISCHER 2. Traumafolgestörungen bei Kindern und Jugendlichen 2.1 De?nition: Trauma in der Entwicklung Ein psychisches Trauma ist ein Ereignis, das sowohl die psychischen als auch die biologischen Bewältigungsmechanismen einer Person überfordert und das nicht durch die Unterstützung einer anderen Person, die die Unfähigkeit dieses Menschen bzw. Organismus ausgleichen könnte, kompensiert werden kann (van der Kolk & Streeck- Fischer, 2002). Ein Trauma ist damit kein objektives Ereignis, dessen Wirkungen für alle Menschen gleich wären, sondern eine Erfahrung, die aufgrund der persönlichen Interpretation des Opfers und seines Entwicklungsstandes sowie seiner konstitutionellen Voraussetzungen überwältigend ist. Fischer und Riedesser (1998) haben darauf aufmerksam gemacht, das es wichtig ist, zwischen der traumatischen Situation (dem Zusammenspiel von Innen- und Außenperspektive, von traumatischen Umweltbedingungen und subjektiver Bedeutungszuschreibung), der traumatischen Reaktion und dem traumatischen Prozess zu unterscheiden. Im Falle der Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen - d. h. bei einer Traumatisierung in der Entwicklung - bekommen die (traumatischen) Umweltbedingungen eine hervorgehobene Bedeutung. Sie beein?ussen, wie die traumatische Belastung verarbeitet wird und ob es zu Chroni?zierungen kommt. Leonore Terr (1991) hat als Erste Traumafolgestörungen im Kindes- und Jugendalter systematisch untersucht. Aufgrund ihrer Daten hat sie vorgeschlagen, zwischen Trauma-Typ I und Trauma-Typ II zu unterscheiden (Terr 1991). Der Trauma-Typ I liegt bei akuter einmaliger Traumatisierung vor, während Typ II bei Folgen chronischer Traumatisierungen auftritt (siehe Abb. 1). Generell konnte sie feststellen, dass traumatisierte Kinder veränderte Einstellungen gegenüber Menschen, dem Leben und der Zukunft entwickeln. Auch kommen bei diesen Kindern in der Regel - egal, ob sie akut oder chronisch traumatisiert sind - wiederholte optische oder anders wahrgenommene Erinnerungen, repetitive Verhaltensweisen und traumaspezi?sche Ängste, vor. Ob sich eine akute Belastungsreaktion zu einer länger anhaltenden Störung auswächst, hängt von der Fähigkeit des Kindes ab, mit Belastungen umzugehen, aber auch davon, ob es der unmittelbaren Umwelt bzw. der P?egeperson gelingt, die akute BeWiederholte optische und anders wahrgenommene Erinnerungen Repetitive Verhaltensweisen Traumaspezifische Ängste Veränderte Einstellungen gegenüber Menschen, dem Leben und der Zukunft Typ I (akut) Detaillierte Erinnerungen Schlimme Vorahnungen Verzerrte Wahrnehmungen Typ II (chronisch) Verleugnung, psychische Betäubung Selbsthypnose und Dissoziation Wut Abb. 1: Traumafolgestörungen bei Trauma-Typ I und II (nach Terr 1991) lastungsreaktion angemessen aufzufangen. Die normale Verarbeitung reicht auch bei Kindern über den Aufschrei, bzw. Panik, über Konstriktion, Intrusion, Flashbacks bis hin zur Integration. Ob der Verarbeitungsprozess vollständig verläuft, zeigt sich erst in der Adoleszenz, wo die Gefahr von Reaktivierungen und Reinszenierung en besteht. Oft stellen sich jedoch anhaltende Störungen ein, die die Entwicklung bestimmen. Wir können zwischen traumatischen Belastungen, die primär den Entwicklungsprozess beein?ussen, und dem Bindungstrauma unterscheiden, das nicht nur Folgen für die Entwicklung hat, sondern auch mit einer basalen Schädigung der Bindungsfähigkeit verbunden ist. Beides kann sich jedoch auch vermischen. Bei traumatischen Belastungen - z. B. bei Schmerzen und Überwältigtsein durch Operationen oder Aufwachen unter der Narkose, bei Unfällen mit Körperverletzungen, Missbrauch , Misshandlung durch fremde Täter - kann die frühe bedeutsame P?egeperson gegebenenfalls das Ausmaß der Traumatisierung »abpuffern«, wenn sie es erkennt. Häu?g gelingt dies jedoch nicht. Zum einen, weil die Traumatisierung unerkannt bleibt, zum anderen, weil die frühe P?egeperson überfordert ist oder weil das Ausmaß der Traumatisierung daran hindert, ausreichende Kompensationsangebote zu machen - mit der Folge, dass sekundär traumatisierende Interaktionen auftreten, womit wiederum die Gefahr einer sekundären Bindungstraumatisierung verbunden ist. Solche malignen Interaktionen können bereits nach einmaligen akuten Traumatisierungen auftreten, wie beispielsweise bei einem zweijährigen Kind mit Zustand nach Operation seiner Oberlippenspalte, das unter Narkose erwachte und seither schwere Angstzustände entwickelte, die mit dem Ereignis nicht in Verbindung gebracht werden konnten und mit immer harscher werdenden pädagogischen Trainings beantwortet wurden. Bei einem primären Bindungstrauma fügt demgegenüber eine der bedeutenden frühen P?egepersonen (z. B. Mutter/Vater) dem Kind Traumatisierungen zu (man-made disaster). Ein Kind, das z. B. Misshand lungen durch Personen ausgesetzt ist, die für seine Entwicklung wichtig sind, erfährt mit seinem noch rudimentären Ich trauma tische Überwältigungen im Aufbau einer Bindungsbeziehung, Erfahrungen, die es mit massiver Bedrohung, Schmerz und Panik konfrontieren (Streeck-Fischer, 2010). Traumatische Belastungen und Bindungswünsche kon?igieren miteinander - mit komplexen Folgen (Fonagy, 2008). 2.2 Kurzer geschichtlicher Überblick Freud (1916/17, 1920) ist in seinen frühen Theorien davon ausgegangen, dass reale traumatische Belastungen in der Kindheit zu neurotischen Störungen führen. Diese Ansicht hat er später relativiert, jedoch nicht aufgegeben. Mit der Beschreibung des Wiederholungszwangs und mit der Bläschenmetapher hat er auf wichtige Phänomene hingewiesen, die zum Verständnis von Traumafolgestörungen im Kindes- und Jugendalter beitragen. Die Bläschenmetapher verwendet das Bild einer Schutzhülle, die den psychischen Apparat umgibt und bei traumatischen Einwirkungen durchbrochen wird. Ferenzci (1933) hat auf charakteristische Persönlichkeitsveränderungen aufmerksam gemacht, die das Verhalten in den Beziehungen dieser Kindern und Jugendlichen erklären. Der Mechanismus der Identi?kation mit dem Angreifer und die oft damit einhergehende Mimikryentwicklung auf die noch genauer eingegangen werden soll, sind Phänomene, deren Beobachtung zum Verständnis solcher Kinder und Jugendlichen wichtig war. Andere Autoren haben Folgen von Traumata in der Entwicklung beschrieben, ohne dass den realen Umständen eine besondere Bedeutung beigemessen wurde. Dies lässt beispielsweise der Begriff des kumulativen Trauma s (Khan, 1974), des Strain-Trauma s (Kris, 1956) oder auch des sogenannten stillen Trauma (Hoffer, 1953) erkennen. Sie alle verweisen auf anhaltend unterschwellige Dauerbelastungen, die traumatisierend wirken, ohne dass den faktischen Umständen eine besondere Bedeutung beigemessen würde. Keilson (1979) war einer der Ersten, der mit seiner Beschreibung des sequenziellen Traumas detailliert dargestellt hat, wie ungünstig sich Belastungen durch wiederholte Trennungen, den Verlust von Bezugspersonen und Zuhause für die kindliche Entwicklung auswirken. Dennoch sind die Folgen von Traumata, die in der Entwicklung auf eine unreife Psyche treffen, im Unterschied zu Traumafolgestörungen bei Erwachsenen bislang wenig ausführlich beschrieben. Wenn weder ein Zeitgefühl noch die Objekte sicher verankert sind, hat dies grundlegende Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung (Krystal, 1978). 2.3 Prävalenz von Traumata Folgende Traumatisierungen spielen in der Kindheit und Adoleszenz eine besondere Rolle: n sexueller Missbrauch n familiäre Gewalt, Misshandlung /Gewalt in der Schule, im Umfeld, subkulturellen Milieu, n komplexe Traumatisierung, n Vernachlässigung ,1 n Trennung, schwerwiegende Verlusterlebnisse, n Traumatisierung durch medizinische Eingriffe, schwere Erkrankungen mit Schmerz erfahrungen, n Naturkatastrophen, Unfälle, n Kriegsfolgen, Migration, Flucht. 1 Vernachlässigung wird u. a. auch als eine Sonderform der Misshandlung angesehen. Als Traumaart wird sie unter den traumatischen Belastungen (s. PTSD im DSM IV/V) nicht aufgeführt, jedoch bei reaktiven Bin dungsstörun gen (Störungen im Kleinkindalter, in der Kindheit und Adoleszenz) erwähnt (enthemmt/ ge hemmt). Im Vergleich zu anderen Staaten wurden in den deutschsprachigen Ländern die Folgen von kindlicher Misshandlung , Missbrauch und Vernachlässigung aus wissenschaftlicher Perspektive erst spät aufgegriffen. Ende der 80er-Jahre fanden Misshandlungen von Kindern verstärkte Aufmerksamkeit, in den 90er-Jahren zunehmend auch der sexuelle Missbrauch . Heute wird mehr und mehr den Folgen von Vernachlässigung auch von wissenschaftlicher Seite Beachtung geschenkt. Of?ziellen Statistiken zufolge werden jedes Jahr zwischen vier und 16 von 100 Kindern körperlich misshandelt , vernachlässigt oder emotional missbraucht 5 - 10 % der Mädchen und über 5 % der Jungen werden sexuell durch Penetration missbraucht , und mehr als dreimal so viele Kinder sind anderen Formen sexuellen Missbrauchs ausgesetzt (Gilbert et al., 2009). Annähernd drei von vier Erwachsenen haben in ihrer Kindheit Gewalterfahrungen gemacht (Jahrgänge 1932 - 75), davon waren 10 % Opfer elterlicher Misshandlung , 40 von 100 wurden häu?ger körperlich gezüchtigt und 5 % wurden häu?ger misshandelt (Wetzels, 1997). Gegenüber diesen epidemiologischen Daten zu frühen Vernachlässigungen , Misshandlungen oder zum Missbrauch von Kindern ist angesichts einer hohen Dun kel zif fer allerdings Zurückhaltung geboten; die tatsächliche Häu?gkeit liegt wahrscheinlich weit höher. Chronisch traumatisierte Kinder und Jugendliche wachsen oft bei Eltern und auch Großeltern auf, bei denen körperliche oder seelische Erkrankungen wie Suchterkrankungen, affektive Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen oder Psychosen vorliegen. Auch Transmissionen traumatischer Erfahrungen von der ersten und zweiten Generation auf die dritte Generation können eine Rolle spielen. Häu?g werden diese Kinder und Jugendlichen mit massiven Ehekrisen ihrer Eltern, mit Trennungen, Scheidungen, ungünstigen sozio-ökonomischen Verhältnissen, mit Dissozialität, Alkoholismus und Gewalt konfrontiert. Nicht selten sind sie anhaltend Misshandlung und Vernachlässigung ausgesetzt, was massive Beeinträchtigungen in ihrer Entwicklung zur Folge hat. Eine genauere Erfassung des tatsächlichen Ausmaßes an Traumatisierungen im Kindes- und Jugendalter ist aus verschiedenen Gründen erschwert. n Kinder und Jugendliche verschweigen ihre traumatischen Belastungen häu?g aufgrund von Loyalitätskon?ikten und der Angst vor drohenden Konsequenzen. Summit (1983) hat diese Problematik als Akkomodationssyndrom beschrieben. n Da fälschlich angenommen wird, dass Kinder mit traumatischen Belastungserfahrungen eine erkennbare PTBS-Symptomatik (ICD-10, DSM-V) zeigen, wird ihre Problematik nicht erkannt. Kinder und Jugendliche reagieren, wie von verschiedenen Autoren deutlich gemacht wird, mit vielfältigen Symptomen und Störungsbildern, die nicht unmittelbar als Folge einer traumatischen Belastung erkennbar sind. Ackerman et al. (1998) haben in ihrer Untersuchung festgestellt, dass Ängste, depressive Störungen, Einnässproblematik und ADHS als Störungsbilder auftauchen, während Sym ptome einer PTBS oft nur partiell feststellbar sind. Die derzeitigen diagnostischen Klassi?kationssysteme bilden die Problematik der Traumafolgestörungen bei Kindern nur sehr eingeschränkt ab. Auch ein akutes Trauma kann in seiner Symptomatik anders als im Erwachsenenalter aussehen. Das hat Folgen für die Erkennung und auch die Erforschung dieser Problematik. Im DSM-V liegt nun ein Vorschlag vor, die entwicklungsspezifischen Bedingungen von Traumafolgestörungen einzuarbeiten. Unter der Diagnose einer Entwicklungstraumastörung (developmental trauma disorder) wurden anhand eines Samples von mehr als 6000 Kindern und Jugendlichen charakteristische Merkmale der Traumafolgestörungen bei Kindern und Jugendlichen zusammengestellt. Eine Arbeitsgruppe (NCTSN = National Child Traumatic Stress Network) erarbeitet derzeit entwicklungsspezi?sche Aspekte der Symptome in den verschiedenen Altersstufen. Personen mit früher und anhaltender Traumatisierung in ihren Beziehungen entwickeln eine Kombination von DESNOS-Symptomen , PTBS und Borderline -Stö rungen, ohne dass in den gängigen diagnostischen Klassi?kationssystemen wie dem ICD 10 und DSM IV die Entwicklungsperspektive der Symptombildung berücksichtigt wird. 2.4 Traumafolgen Es gibt mittlerweile eine überwältigende Datenlage, wonach Kindheitsbelastungen zu psychiatrischen Störungen führen und bei Kindern und Jugendlichen für gravierende Verhaltensprobleme verantwortlich sind (z. B. Gilbert et al., 2009). In welchem Ausmaß traumatische Erfahrungen wie Misshandlung die weitere Entwicklung prägen, hängt vom Entwicklungsstand des Kindes, von den bisherigen Entwicklungsbedingungen, der Konstitution, der genetischen Ausstattung, den Ressourcen, von der sozialen Umwelt des Kindes und vor allem von der Verfügbarkeit einer Vertrauensperson ab. Prospektive und retrospektive Studien zeigen, dass misshandelte Kinder und Jugendliche massive Verhaltensprobleme haben, von Depressionen, Suizidversuchen, Drogenmissbrauch, Alkoholproblemen und posttraumatischen Stressstörungen belastet sind und zu späterem kriminellem Verhalten, zu Fettsucht, Prostitution und Promiskuität neigen (Gilbert et al., 2009). Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Jugendlicher inhaftiert wird, liegt bei Misshandelten doppelt so hoch wie bei Jugendlichen insgesamt (Gilbert et al., 2009). Weiter hat eine Kindesmisshandlung ausgeprägte De?zite im Erwerb schulischer Fertigkeiten zur Folge. Heranwachsende mit Misshandlungserfahrungen haben niedrigere Schulabschlüsse als andere Gleichaltrige. Ein Viertel der Kinder und Jugendlichen braucht eine spezielle Beschulung, bei Nichtmisshandelten sind es lediglich 14 %. Immerhin erreichen 42 % der misshandelten Kinder das Abitur, bei einer Kontrollgruppe ohne Misshandlungserfahrung sind es allerdings etwa 70 % (Gilbert et al., 2009). Leistungsabfall und Schulverweigerung sind unmittelbar mit dem Zeitpunkt der Misshandlung verbunden und wirken sich kumulativ aus. Insofern haben Misshandlungen nicht zuletzt auch erhebliche ökonomische Folgen für die Gesellschaft (Gilbert et al., 2009). Eine neuseeländische Langzeitkohorte aus einer Untersuchung von Fergusson et al. (1996) zeigt, dass sexueller Missbrauch , der vor dem16. Lebensjahr stattgefunden hat (bei 17,3 % der Mädchen und 3,4 % der Jungen), zu erheblichen psychischen Folgen führte. Das Risiko, zusätzlich an einer Depression zu erkranken, lag bei den missbrauchten Probanden 3,6-fach, bei denen, die mit Penetration missbraucht wurden, um das 5,4-Fache höher. Das Risiko für Suizidversuche war um das 5-Fache erhöht, ebenfalls deutlich erhöht waren Risiken für Alkoholabhängigkeit und andere Substanzmissbrauchserkrankungen. Insgesamt stieg das Risiko, an irgendeiner Verhaltensauffälligkeit zu leiden, auf das 12-Fache. Hochrisikogruppen sind junge Menschen in Behandlungseinrichtungen für Alkohol- und Drogensucht. In Heimen, Wohngemeinschaften oder anderen betreuten Lebensformen der Jugendhilfe be?ndet sich eine große Zahl von Kindern und Jugendlichen, welche extreme traumatische Lebenserfahrungen gemacht haben. Neuere amerikanische und britische Untersuchungen mit Heimkindern gehen davon aus, dass über 60 % dieser Kinder Missbrauchs -, Misshandlungs - oder Vernachlässigung serfahrungen gemacht haben (Meltzer et al., 2003; Hurlburt et al., 2004). Ähnliches gilt vermutlich auch für Heimkinder in Deutschland.2 Misshandlungen und Vernachlässigungen finden sich allerdings gerade in dieser Population selten isoliert, sondern resultieren aus Erfahrungen in einem dysfunktionalen Familiensystem (Nash et al., 1993), so dass mehrere Risikofaktoren kumulieren (Cichetti & Manly, 2001; Ihle et al., 2002). Auch in Jugendstrafanstalten und bei Stichproben junger Rechtsbrecher sind in der Regel die Anteile traumatisierter Probanden deutlich erhöht. Steiner et al. (1997) sehen einen Zusammenhang zwischen chronischer Traumatisierung im Kindes- und Jugendalter und der von ihnen so bezeichneten »hot aggression«, einer im 2 Vgl. Runder Tisch ?ehemalige Heimkinder?. pul siven, wenig kontrollierten, nicht manipulativ-proaktiv eingesetzten Aggressivität. Die WHO hat Gewalt als einen tödlichen ?rite de passage ? für Jugendliche bezeichnet. Der ?rite de passage? meint die Übergangszeit des jungen Menschen von der Kindheit in das Erwachsenenalter. Werden in dieser Zeit ausgeprägte Erfahrungen mit Gewalt gemacht, ob als Opfer oder Täter, kann das langfristige psychobiologische Störungen bei Stressbelastungen nach sich ziehen; davon sind vor allem männliche Jugendliche betroffen. Je größer das Ausmaß an erlittener Gewalt, desto massiver sind die konsekutiven psychosozialen Probleme wie Kriminalität und süchtiges Verhalten. Eine frühe Bereitschaft zu körperlicher Gewalt prädestiniert in der weiteren Entwicklung zu einer Gewalt-Karriere (Farrington & Loeber 2000). 2.5 Symptomatologie n Gemäß dem derzeitigen Entwicklungsstand im DSM V (Proposed Revision, APA, DSM V) werden in einer vorgeschlagenen Revision acht Kriterien vorgegeben. Obwohl den entwicklungsbedingten Manifestationen nicht ausreichend Rechnung getragen wird, scheinen Vorschläge zur Diagnose der Entwicklungstraumastö rung mit eingearbeitet worden zu sein. A Eine Person ist folgenden Ereignissen ausgesetzt; Tod oder drohender Tod, aktuelle oder drohende schwere Gewalt oder aktuelle oder drohende sexuelle Gewalt, bei Kindern soll der Verlust des Elternteils oder einer Bindungsperson mit einbezogen werden. B Intrusionen sind mit traumatischen Ereignissen verbunden: n wiederholte intrusive Erinnerungen an das traumatische Ereignis. Bei Kindern ist es das repetitive Spiel, in dem das traumatische Ereignis deutlich wird; n wiederholte Alpträume. Bei Kindern werden sie oft nicht erkannt; n dissoziative Reaktionen (z. B. Flashbacks), in denen die Person fühlt oder sich verhält, als ob das traumatische Ereignis wieder auftaucht. Bei Kindern können traumaspezi?sche Reenactments im Spiel und im Kontakt mit Gleichaltrigen oder Erwachsenen auftauchen. Bei Jugendlichen kommen aktive Wiederholungen traumatischer Belastungen oftmals in unterschiedlichen Konstellationen mit wechselnden Positionen: vor z. B. zunächst als Opfer sexuellen Missbrauchs , dann als gewaltbereiter Täter; n intensiver und verlängerter psychische Stress, ausgelöst durch äußere oder innere Reize; n physiologische Reaktionen wie z. B. Blutdruckkrisen, Fieberschübe u. a. C Vermeiden von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind: Rückzug, Verlust bisher entwickelter Fähigkeiten, Betäubung, Starre. Bei Kindern und Jugendlichen zeigen sich deutliche Zeichen für Entwicklungsstopps (in der psychischen, körper lichen und/oder kognitiven Entwicklung). D Negative Veränderungen in den Kognitionen und Affekten, die mit dem traumatischen Ereignis verbunden sind. Unfähigkeit, wichtige Aspekte der traumatischen Ereignisses zu erinnern, anhaltende und übertriebene negative Erwartungen in Bezug auf sich selbst und andere, vermindertes Interesse oder geringere Teilnahme an Aktivitäten usw. Dies führt insbeson- dere bei Kindern und Jugendlichen zu ausgeprägten Lern- und Leistungsstörungen. E Neigung zu erhöhter Erregung: Unruhe, F erhöhte Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, erhöhte Schreckhaftigkeit. Ein- und Durchschlafstörungen, selbstdestruktives Verhalten, bei Kindern und Jugendlichen häu?g als ADHS-Problematik verkannt. Dauer der Störung mehr als ein Monat. G Die Störung verursacht klinisch signi?kanten Stress oder Beeinträchtigungen in sozialen, beru?ichen oder anderen Funktionen. H Die Störung ist nicht Folge eines direkten physiologischen Effektes eines Substanzmittels. 2.6 Traumafolgen in der weiteren Entwicklung Gordon und Wraight (1993) haben eine Verlaufsstudie zu Traumafolgestörungen bei Kindern und Jugendlichen durchgeführt und verdeutlicht, wie Traumatisierungen im Langzeitverlauf verarbeitet werden: Aus States werden Traits (siehe dazu die folgende Box). Die traumatische Belastung wird in die Persönlichkeit gleichsam eingewoben - eine Veränderung, die in Richtung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung weist. Gordon und Wraight (1993) beschreiben n die Kurzzeitantworten, die innerhalb der ersten Wochen auftreten: Rückblenden, Angst und Unsicherheit, emotionale Reaktionen wie Rückzug, Traurigkeit, Ärger, schlechte Stimmungen, Anspruchsverhalten, Starre, Aufregung, regressives und desorganisiertes Verhalten mit Verlust von bereits erreichten Fähigkeiten wie motorischen und kognitiven Fähigkeiten, wie Interessen, der Fähigkeit sich zu beruhigen, Sprache, Spiel und exploratorischer Aktivität, Neigung zu er höhter Erregung mit auffälligem Verhalten und übersteigertem Schreckre?ex, mit sensorischer Hyperaktivität, Schlafstörungen, Ruhelosigkeit, magische Vorstellungen, Verwirrungen, Desorientierung; n die mittelfristigen Effekte im ersten Jahr: Die Kurzzeiteffekte persistieren, generelle Stresszeichen, schlechte Gesundheit, Somatisierungsneigung, Schla?osigkeit, emotionale Instabilität, Konzentrationsmängel, eingeschränkte Beziehungen, Stimmungen und Einstellungen haben sich in Richtung einer erhöhten Irritabilität verändert, chronische Unzufriedenheit, Rückzug, eingeschränkte Kommunikation, Einzelgängertum, antisoziales und delinquentes Verhalten, unstetes Verhalten mit erhöhter Anspannung, Angstreaktionen, Negativismus, destruktives Verhalten, Kon?iktbereitschaft, pseudoneurotische Symptome, Verlust von bisherigen Entwicklungspfaden, neue Herausforderungen werden vermieden, Veränderungen in den Beziehungen zu Gleichaltrigen. n und die Langzeiteffekte: Kurz- und Mittelzeiteffekte können persistieren, Schulversagen, Persönlichkeitsveränderungen, Lebensbedingungen, die danach eingetreten sind, stehen im Mittelpunkt, chronische Probleme im Kontakt mit Gleichaltrigen, schlechte körperliche Gesundheit, Beschäftigung mit dem Trauma, Veränderungen der Identität und Veränderungen in den philosophischen Ansichten, die die ganze Weltanschauung bestimmen. Die Störungen haben in der weiteren Entwicklung Folgen für die Gesundheit: Es treten generelle Stresszeichen auf, und es kommt zu einer erhöhten Somatisierungsneigung. Die Einstellungen zu Beziehungen verändern sich, verbunden mit einem erkennbaren sozialen Rückzug, Einzelgängertum oder auch antisozialen Tendenzen. Es kann selbst- und fremddestruktives Verhalten auftreten. Bisherige Entwicklungspfade gehen verloren, und es kann zu einem Schulversagen kommen. Alkohol und Drogen werden als Selbsthilfemaßnahmen eingesetzt. Jugendgruppen mit destruktiven Ritualen unterstützen eine Fortführung der Traumatisierung. Es kommt zu Veränderungen der Identität. Die Persönlichkeitsveränderungen chroni?zieren zunehmend, verbunden mit verzerrten Wahrnehmungen in Beziehungen, im Denken, einer feindlichen und misstrauischen Haltung gegenüber der Welt, Gefühlen von Leere und Hoffnungslosigkeit, einer gesteigerten Reizbarkeit und Entfremdungsgefühlen (Gordon & Wraight, 1993; Kiser et al., 1991). Das Ausmaß der Belastungsstörung und der prämorbiden Persönlichkeitsentwicklung steht in einem negativen Verhältnis zur Resilienz. Einen ungünstigen Ein?uss auf die Resilienz hat auch die mangelnde soziale Einbettung: Das gilt für Kinder, die oft Außenseiterpositionen haben, und für Jugendliche mit ihren Ablösungsbestrebungen von der Familie und dem bisherigen Umfeld. Sie sind daher besonders vulnerabel für traumatische Belastungsstörungen, die oft als solche vom Umfeld nicht erkannt und verborgen gehalten werden. Jugendkulturen mit Gewaltverherrlichungen und satanischen Ritualen sind »besondere Orte« für traumatische Belastungserfahrungen, die, wenn sie aufgesucht werden, Neu- oder auch - bei bisher verborgen gehaltenen traumatischen Belastungsstörungen - Retrau matisierungen bewirken. 2.7 Ätiologie und Pathogenese Folgen komplexer Traumatisierungen haben einen zentralen Platz in der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung. Sie werden allerdings bisher wenig rezipiert. Bei Traumatisierungen in der Entwicklung müssen drei verschiedene Aspekte beachtet werden: die Traumafolgen im engeren Sinne, die Bindungs- und die Entwicklungsfolgen. Freud (1920) hat, wie angedeutet, die Bläschenmetapher verwendet, um zu verdeutlichen, dass eine traumatische Einwirkung die Schutzhülle des psychischen Apparates durchbricht. Die Zerstörung der Grenzschicht oder Grenzmembran des psychischen Apparates geht mit einer mangelnden Grenzziehung zwischen Selbst und anderen, Innen und Außen einher. So lässt sich erklären, warum Kinder und Jugendliche mit komplexen Traumatisierungen in ihrer Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung von anderen und der Umwelt gestört sind. Infolge einer mangelnden Grenzziehung zwischen Realität und Fantasie sind ihre Mitteilungen oft verwirrend. Es bleibt unklar, was der Wirklichkeit und was der Fantasie entspringt. In Ihrem Zeitgefühl sind sie beeinträchtigt. Darüber hinaus hat Freud (1916 - 17) auf die Bedeutung der traumatischen Reinszenierung infolge des Wiederholungszwang s hingewiesen. Er hat aufgezeigt, wie es bei traumatischen Neurosen zur Fixierung in Bezug auf den Moment des traumatischen Unfalls kommt: »Es ist so, als ob diese [...] [Personen, A. S.-F.] mit der traumatischen Situation nicht fertig geworden wären, als ob diese noch als unbezwungene Aufgabe vor ihnen stände« (Freud, 1916 - 17, S. 284). Freud verweist auf den Umstand, dass traumatische Erfahrungen handelnd im Sinne von Reenactment s und Repetitionen wiederhergestellt werden. Kinder und Jugendliche zeigen eine ausgeprägte Tendenz zu Reinszenierungen (Reenactment s) und Repetitionen, so dass die Vergangenheit in der Gegenwart mit Reviktimisierung und Vik timisierung in der Interaktion mit anderen - dem Wiederholungszwang folgend - fortgeführt wird, ohne dass sich daraus eine Veränderung ergeben würde. Insbesondere in der Adoleszenz, in der die Neigung, sich handelnd mitzuteilen, bedeutsam ist, besteht eine große Gefahr der Re- und Neutraumatisierung. Eine bedeutsame Folge früher und komplexer Traumatisierungen ist der Verlust von Kohärenz. Dabei geht die Einheit des Selbst verloren. Integrationsfähigkeiten, über die der Säugling von Geburt an verfügt, wie z. B. die sensomotorische Integration oder die Verbindung von Körper und Psyche, brechen unter derartigen traumatischen Belastungen zusammen (vgl. Dornes, 1993). Die Kohärenz des Selbst zerbricht. Es kommt zu einer Verdoppelung der Persönlichkeit, zur Aufspaltung in verschiedene Selbstzustände im affektiven Erleben, in den kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten und der somatosensorischen Integration. Ferenzci (1933) hat diese Spaltung des Ichs in einen beobachtenden und preisgebenden Teil, die Lähmung von Affekten und insbesondere die Tendenz zur Identifikation mit dem Täter beschrieben. 3 Stern (1985) hat sie auf das körperliche Ganze als Handlungszentrum bezogen, Karl Jaspers (1913) de?niert sie umfassender als Einheit der Identität und des Ich. Der Verlust des Einheiterlebens als Folge früher traumatischer Übergriffe geht über die Aufspaltung in Teilobjektbeziehungen - wie bei Borderline-Störungen - weit hinaus. Kinder im Latenzalter mit traumatischen Belastungenserfahrungen erscheinen infolge ihrer Notreifung häu?g als eigenartig unauffällig. Ferenzci (1933) hat auf die Mimikryentwicklung , die mit vordergründigen Anpassungen an die traumatisierende Person einhergeht (vgl. ANP: Apparentley Normal Personality : Myers, 1940), aufmerksam gemacht. In Identi?kation mit vermeintlichen Angreifern passen sich Kinder re flex- und chamäleonhaft an äußere Bedingungen an und sind zugleich infolge ihrer dissoziativen Abwehr unerreichbar und affektiv unzugänglich. Andere hinterlassen unterschiedliche Bilder bei den Personen, mit denen sie zu tun haben, und sind oft infolge ihres aggressiv-destruktiven Verhaltens in sozialen Bezügen unintegrierbar. Sie stellen Interaktionen her, die von traumatisierenden Wiederholungen, ob als Opfer oder als Täter. In der Adoleszenz werden ?schlummernde? Traumatisierungen, die hinter der vordergründigen Anpassung verborgen waren, reaktiviert und inszeniert. Vordergründige Anpassungen des Latenzalters können sich in charakteristische Symptome einer Borderline-Störung mit traumatischen Reinszenierungsmustern verwandeln. Eine weitere zentrale Problematik liegt in den Störungen der Selbst-, Affekt- und Impulsregulierung. Die abwesende dysregulierende oder misshandelnde frühe P?egeperson hat die Aufgaben eines neuropsychobiologischen Regulators nicht übernommen. Eine mangelnde Fähigkeit zur Stressregulation mit Rückgriff auf Notregulationen und ?missglückte? Selbsthilfemaßnahmen ist die Folge, was sich in selbst- und fremddestruktivem Verhalten zeigt (Haare ausreißen, an der Haut pulen, häu?ge Unfälle, Nägelkauen im Kindes alter, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Aufsuchen von Thrill- und Kickerlebnissen, z. B. U-Bahn-Surfen im Jugendalter). Traumatische Belastungen führen zu gestörtem Bindungsverhalten. Nach Cicchetti und White (1990) sind 80 % der traumatisierten Kinder desorganisiert gebunden. Darüber hinaus zeigen sich Bindungsmuster vom unsicher gebundenen Typ, vom ambivalent verstrickten oder vermeidenden Typ mit jeweils unterschiedlichen Coping-Strategien (emotionsorientiertes Coping oder kognitionsorientiertes Coping; Crittenden, 1997). Infolge des »Bindungsloches« in der Adoleszenz können Traumatisierungen vorliegende Bindungsstörungen verschärfen und zu einem Abdriften aus sozialen Bezügen führen. Entwicklungen, die zur Zugehörigkeit in destruktiven Jugendgruppen führen, können die Folge sein. Kommt es zu Traumatisierungen innerhalb der Bindungsbeziehung, wird einerseits die Bindung gesucht, andererseits jedoch ist die Fähigkeit, sich vor Traumatisierungen zu schützen, verstellt; das Bindungsobjekt, das Sicherheit geben soll und deshalb gesucht wird, ist das traumatisierende Objekt. Das hat besonders schwerwiegende Folgen für das Kind bzw. den Jugendlichen. Selma Fraiberg (1982) hat anhand von klinischen Fällen von sehr jungen Kindern systematisch untersucht, was missbrauchendes und misshandelndes Verhalten der frühen P?egeperson bewirkt. Sie beschreibt verschiedene Arten von mangelhaft reguliertem Bindungsverhalten, bis hin zu einer aktiven Teilnahme des Kindes an einer traumatischen Beziehung. Im extremen Fall sind solche Kinder in einem das Bindungstrauma aktivierenden Bindungssystem gefangen, das mit Suchtneigungen verbunden ist (Insel, 2003; Schore, 2002).4 Es handelt sich dabei um einen biologischen Teufelskreis. Die Hemmung der zur Selbstre?exion erforderlichen Mentalisierung ist kombiniert mit einer das Trauma verursachenden Hyperaktivierung des Bindungssystems (Fonagy, 2008). Dieser Sog, der vom Bindungstrauma ausgeht, erklärt, warum es während der Therapie misshandelter Kinder und Jugendlicher mitunter zu malignen Entwicklungen kommt. Das ganze traumatische Geschehen wird verinnerlicht. Das Kind bleibt in einer Gut-böse-Konfusion an den Täter als sein bedeutsames Objekt gebunden, dem es sich per Mimikry, per Anpassung und Angleichung, unterwirft. Bei einem Bindungstrauma ist - anders als im Erwachsenenalter - die gesamte Persönlichkeit davon erfasst. Wir suchen hier auch keine traumatischen Erinnerungen, sondern werden in traumatische Beziehungskonstellationen hineingezogen (Davies, 1997), die durch Angst auslösende Situationen immer wieder aktiviert werden. Die Dauer der Traumatisierung beeinflusst das Ausmaß der kognitiven De?zite (Arnsten, 1998; Beers & DeBellis, 2002). Als Folge von traumatischen Belastungen treten Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen auf, insbesondere Beeinträchtigungen in der kognitiven Flexibilität und im planenden Verhalten. Die sensomotorischen Störungen sind vor allem im taktilen System, der Lateralisation und einer beein 4 Dies könnte erklären, warum so viele Süchtige eine Traumakarriere haben. trächtigten Hemisphärendominanz erkennbar (Streeck-Fischer, 2006). Eine chronische Traumatisierung im Kindesalter zerstört die Fähigkeit, sensorische, emotionale und kognitive Informationen zu integrieren und kohärent zu organisieren. Sie führt zu unfokussierten und unpassenden Reaktionen auf Stressbelastungen. Bei einer Traumatisierung in Gegenwart einer unterstützenden, aber hil?osen P?egeperson wird das Kind überwiegend die Reaktion des Elternteils übernehmen - je mehr der Elternteil desorganisiert ist, umso mehr ist das Kind desorganisiert. Die Sicherheit einer Bindung schwächt demgegenüber den traumainduzierten Schrecken ab. 2.8 Zur Neurobiologie des Traumas Traumatisierte Kinder und Jugendliche neigen infolge von Sensibilisierungs- und Kindlingsprozessen zu massiven Antworten bei relativ geringen Reizen (Post et al., 1998). Diese Prozesse gehen vermutlich mit beidem einher, einer herabgeminderten Funktionsfähigkeit des Frontallappens und einer gesteigerten Reizbarkeit des limbischen Systems (Amygdala). Die gesteigerte Reizbarkeit der Amygdala garantiert zwar schnelle protektive Handlungen, sobald Gefahr wahrgenommen wird, umgeht jedoch ein kortikales Prozessieren, das ein differenzierteres Erfassen der jeweiligen Situation ermöglichen würde. Traumatische Belastungen in der Entwicklung führen zu Entwicklungsblockaden mit Störungen in der Informationsaufnahme und -verarbeitung (Arnsten, 1998). Verzerrte Wahrnehmungen (Dodge & Somberg, 1987) haben immer gleiche Reaktionsformen (z. B. Flight/ Fight) zur Folge. Wegen der Reizgeneralisierung antworten misshandelte Kinder auf geringe Trigger mit einer Vielfalt von katastrophischen Reaktionen (Perry & Pollard, 1998). Normaler Stress wird zum Disaster. Die traumabedingte Störung exekutiver Funktionen führt sowohl zu einem erhöhten Reizbarkeits- und Gewaltpotential wie auch zu einer geringeren Ansprechbarkeit in Bezug auf die Konsequenzen des eigenen Verhaltens. Die impulsiven Reaktionen können sich auf verschiedenen Ebenen im Gehirn darstellen: Der Hirnstamm zeigt fixierte Aktionsmuster, das Kleinhirn aktiviert sensomotorische Schemata, während die lim bische Schleife kontextabhängige Flight-/?ght- oder Freeze-Antworten in Gang setzt. Misshandlung und Missbrauch in der Kindheit führen offenbar zu breiten Störungen in der Hirnentwicklung (Teicher et al., 2002, DeBellis, 1999b, Bremner, 2002). MRT-Messungen von DeBellis et al (1999b) bei 44 Kindern ergaben ein geringeres Hirnvolumen bei größeren Ventrikeln und einem schmaleren Balken. Diese Befunde stimmen mit Untersuchungen von Rutter (Sandberg et al., 2001) überein, der an schwerst traumatisierten und deprivierten Kindern aus Rumänien ein eingeschränktes Hirnwachstum festgestellt hat. Nach Untersuchungen von Castellanos et al. (2002) bei gesunden Kindern und Jugendlichen entwickeln sich vor allem die midsagittallen Areale des Balkens im Alter von 5 bis 18 Jahren. Jungen, die missbraucht oder vernachlässigt wurden, zeigten eine Reduktion der mittleren Bereiche des Balkens (Teicher et al., 2002). Dabei scheint Vernachlässigung bei Jungen einen weit größeren Effekt zu haben als Misshandlung . Bei Mädchen zeigte sich ebenfalls eine deutliche Reduktion in den mittleren Bereichen des Balkens - insbesondere bei solchen, die körperlich oder sexuell missbraucht wurden (DeBellis et al., 1999b, Teicher et al 2002). Die Funktion des Balkens, eine Verbindung zwischen den beiden Hemisphären herzustellen, ist eingeschränkt, was mit Störungen in den exekutiven Funktionen und Dissoziation in Verbindung gebracht wird. DeBellis et al. (1999b) vermuten, dass ein früher Neuronenverlust in parietalen und temporalen Hirnregionen dazu geführt haben könnte, dass die mittleren und hinteren Bereiche des Balkens sich mangelhaft entwickelt haben . Die meisten biologischen Forschungen zu entwicklungsbezogenen Traumata basieren auf Tierexperimenten. Nur eine kleine Anzahl von Studien hat sich bisher mit den biologischen Auffälligkeiten bei missbrauchten und vernachlässigten Kindern befasst. (Putnam & Trickett, 1997; Teicher et al., 2002; DeBellis & Putnam, 1994; DeBellis et al., 1999a, b). Wiederholter früher Stress führt zu Veränderungen im zentralen neurobio logischen Regulationssystemen, insbesondere im CRF-System (Corticotropin- Releasing-Faktor) mit einer erhöhten Antwortbereitschaft auf Stressbelastungen. In der Hypophyse wird durch den im Hypothalamus gebildeten CRF ACTH (adrenocorticotropes Hormon) gebildet, das in der Nebennierenrinde die Ausschüttung von Cortisol aktiviert. Dieses Cortisol wirkt wiederum zurück auf das Gehirn. Zunächst hat Cortisol eine stressentlastende Wirkung, lang anhaltender Stress führt bei entsprechender Cortisolausschüttung jedoch zu Schädigungen von Neuronen und ihren Verschaltungen. Untersuchungen von DeBellis et al. (1999a, b) zeigen, dass die Katecholaminaktivierung durch Misshandlung bei Kindern den Befunden bei traumatisierten Erwachsenen entspricht. Demgegenüber zeigen sie eine höhere Cortisolsekretion als Erwachsene, ein Ergebnis, das DeBellis et al. (1999a) mit dem Alter und den Wachstumsbedingungen in Verbindung bringt. 2.9 Behandlungsansätze Bei der Behandlung von Folgen traumatischer Belastungen von Kindern und Jugendlichen gibt es vielfältige Ansätze (mindestens 200), die hier nicht alle erwähnt werden können. Folgende Therapiemethoden lassen sich grob benennen: ntraumafokussierte Therapieansätze mit Entspannung, Desensibilisierung, Exposition, Korrektur der negativen Erfah rungen mit verhaltenstherapeutischen Interventionen oder kognitiv-behavioralen Techniken; n die einsichtsorientierte Psychotherapie, wie etwa die psychodynamische, klientenzentrierte und systemische Psychotherapie; n EMDR ; diese Methode kann als Behandlung in die verschiedenen Therapiemethoden integriert werden; n außerdem gibt es familientherapeutische Ansätze, sei es die traditionelle Familientherapie oder auch eine traumafokussierte Elterntherapie, bei der die Ex ploration und Bearbeitung der gefühlsmäßigen Bedingungen in Bezug auf das traumatische Ereignis bei den Eltern eine Rolle spielt, es um Identi?kation und Korrektur unpassender Attributionen geht und Eltern bei positivem elterlichen Verhalten unterstützt werden; n in den Gruppentherapieverfahren werden traumafokussierte oder auch psychoedukative Methoden verwendet; n schließlich spielen Psychopharmaka mit Antidepressiva, Stimulanzien und Anxiolytika eine wichtige Rolle. Bei den Kindern ist es besonders wichtig, an den Ressourcen zu arbeiten; zudem muss den Eltern Unterstützung gegeben werden, damit sie ihrem Kind dabei helfen können, dass die Lebensumstände wieder normal werden. Es ist nicht hilfreich, Kinder zu behandeln, die keine oder geringe Symptome zeigen. Der Forschungsstand in der Behandlung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen ist, verglichen mit der Behandlung von Erwachsenen, noch spärlich entwickelt. Im Rahmen von randomisierten kontrollierten Studien zu Behandlungsergebnissen liegen die meisten Studien zu kognitiv-behavioralen Therapieformen (CBT) vor, einzelne zu »Eye Movement Desensitization and Reprocessing« (EMDR ), zur Familientherapie (FT), eine zur psychoanalytisch orientierten Therapie (PA) sowie ebenfalls eine Studie zur Spieltherapie (ST). Die meisten Studien verwendeten das Ausmaß der PTBS-Symptomatik als Ergebnismaß. Es wurden internalisierende und externalisierende Verhaltensprobleme sowie depressive und Angstsymptome des Kindes erfasst, zudem in einigen Studien Veränderungen (Verhalten, Emotionen, Attributionen) bei den Eltern erhoben. Am besten untersucht ist bislang die kognitivbehaviorale Therapie. Randomisierte kontrollierte Studien liegen hierbei vor allem zur Traumatisierung durch sexuellen Missbrauch (Cohen et al., 2007; Cohen, 2004; Deblinger & Stauffer, 2001; Jaberghaderi et al., 2004; King et al., 2000), aber auch zur Traumatisierung durch Naturkatastrophen (Chemtob et al., 2002) vor. In Bezug auf das Setting wurden vor allem Einzeltherapien JOCHEN PEICHL 6. Ego-State-Therapie 6.1 Einleitung Für Traumatherapeuten, die das Übertragungsparadigma der Psychoanalyse hinter sich lassen wollen, ist es heute selbstverständlich geworden, mit ihrem Patienten, der wegen traumainduzierten Symptomen in die Therapie kommt, eine Beziehung auf Augenhöhe herzustellen. Natürlich sind Übertragung und Gegenübertragung ein - in Beziehungen zwischen Menschen - alltägliches Phänomen, aber auch analytisch orientierte Kollegen arbeiten in der Traumatherapie mittlerweile nicht mehr damit, d. h. Übertragung ist für sie nicht mehr der Hebel zur Heilung von Patienten mit trau mabasierten Persönlichkeitsstörungen. Um es noch deutlicher zu sagen und zuzuspitzen: Viele ?nden eine Traumatherapie, die auf die Reinszenierung des Traumas in der Übertragung zum Therapeuten setzt, nicht nur wenig effektiv, sondern schlicht und einfach falsch. Zum einen ist die Gefahr der ungesteuerten Regression bei der Übertragungszentrierung zu wenig kal kulierbar und es droht eine Retraumatisierung - zum anderen brauchen diese Patienten weniger Beziehungsanalyse und eine stärkere Anleitung zum Selbstmanagement und Ressourcen aktivierung. In den letzten Jahren haben sich drei »Stoppschilder« in der Traumatherapie bewährt, die den hier vorgestellten Therapiestrategien zugrunde liegen: n »Trauma ?rst!«: Dies bedeutet, dass jeder kon?iktzentrierten oder verhaltensmo difizierenden Therapie eine Behandlung der neurophysiologischen Traumasym ptomatik vorausgeht. n »Safety ?rst!«: Jede Traumatherapie beginnt mit der Herstellung innerer und äußerer Sicherheit, d. h. kein Täterkontakt; und n »Boss comes ?rst«: Vor einer Arbeit mit verletzten inneren kindlichen Selbstanteilen ist es notwendig, alle täterloyalen oder täteridenti?zierten Anteile und Introjekte ins Arbeitsbündnis einzubinden. Indem wir uns an das Erwachsenen-Selbst des Patienten wenden, beschreiben wir die psychotherapeutische Beziehung zu uns auch als eine Dienstleistungsbeziehung. Damit stehen die Transparenz jedes therapeutischen Tuns und die Psychoedukation an erster Stelle. Es ist wichtig, dem Patienten so verständlich wie möglich und so ausführlich wie nötig die physiologischen Zusammenhänge von Trauma, Gedächtnis, Stressreaktion des Körpers und Symptombildung zu erklären - und ihn zu ermutigen, Fragen zu stellen. Diese verständnis- und vertrauensbildenden Maßnahmen führen zum nächsten wichtigen Schritt, dem Aufbau einer positiven Beziehung. Die eigene therapeutische Haltung wird immer wieder im Schrifttum als »parteiliche Abstinenz« beschrieben, eine Haltung, die sich bei dieser Klientel von der Neutralität und Abstinenz der Psychoanalyse störungsspezi?sch abheben muss. Der nächste und letzte Schritt in der Vorbereitung des Patienten ist die Entwicklung des gemeinsamen Behandlungsplans. 1 Man könnte auch sagen »Alltags-Selbst« oder »ANP« (anscheinend normaler Per sön lich keitsanteil). Bevor das SARI-Modell der stufenweise Planung und Durchführung einer hypnoanalytischen Langzeitbehandlung für Patienten mit psychischer Traumatisierung beschrieben wird, soll dem eine kurze Einführung in die Ideenwelt der Ego-StateTherapie nach John und Helen Watkins (2003) vorausgehen. 6.2 Ego-State-Therapie: Die Theorie von John und Helen Watkins Paul F edern, ein Schüler Sigmund Freuds, war es, der Mitte des letzten Jahrhunderts ein Energiemodell vorschlug, das unterscheidbare Ich-Zustände (Ego-States ) innerhalb des Egos erfasste und damit über die Freudsche Auffassung vom ICH hinausging. Die in den 70er Jahren von John und Helen Watkins in den USA entwickelte Ego-State-Therapie verbindet dieses Energiemodell mit der postmodernen Annahme, dass die Persönlichkeit aus verschiedenen Ich-Anteilen (Ego States) besteht, und spricht von einer Polyphonie unseres Selbst - in der Literatur auch Polypsychismus oder Multiplizität des Selbst genannt. Dieses innovative psychotherapeutische Konzept berücksichtigt psychoanalytische Theorien, hypnotherapeutische Techniken und neuere Erkenntnisse aus der Behandlung dissoziativer Störungen. Die Arbeit des Autorenpaars steht an einer Schnittstelle zwischen Psychoanalyse und Hypnose: Sie ist eine Erweiterung der klassischen tiefenpsychologischen Ausrichtung und kann als Grundlage einer modernen Hypnotherapie angesehen werden. 6.2.1 Was sind »Ego-States«? Die »Ego-States« genannten Anteile sind um grenzte und beschreibbare »Unter-Persönlichkeiten«, auch als »Sub-Selbste« bezeichnet. Nach Watkins ist ein Ego-State wie folgt de?niert: »Ein Ich-Zustand kann de?niert werden als organisiertes Verhaltens- und Erfahrungssystem, dessen Elemente durch ein gemeinsames Prinzip zusammengehalten w erden und das von anderen Ich-Zuständen durch eine mehr oder weniger durchlässige Grenze getrennt ist« (Watkins & Watkins 2003, S. 45). Die Grenzen zwischen den Ego-States werden durch den Grad der Dissoziation bestimmt: zwischen Alltagsdissoziation und pathologischer Dissoziation (siehe dazu Abb. 1). Ergänzend zu dieser klassischen De?nition verstehen wir heute ein Ego-State als ein neuronales Netzwerk, welches den Zustand des neuronalen System zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Lebensentwicklung eines Menschen repräsentiert (Schulkind-Ego-State usw.) oder welches ein Reaktions- und Antwortmuster umfasst, Kontinuum der Dissoziation Abb. 1: Dissoziationskontinuum, Ego-States und diagnostische Zuordnung Zunahme von Trauma und Dissoziation Normal Akute Belastungsreaktion PTSD Komplexe PTBS DDNOS DIS »Ego-State Disorder« Normal Ausgeglichen Anpassungsstörung DESNOS »Multiple Persönlichkeit« Neurotisch »Borderline« Angepasste Differenzierung Abwehrhaltung Pathologische Dissoziation welches ein Mensch auf eine bestimmte Herausforderung im Leben zur Überlebenssicherung entwickelt h at. Es ist immer ein kohärentes, d. h. ein in sich zusammenhängendes und geschlossenes System aus Denken, Fühlen und Handeln, das auf einen bestimmten Sachverhalt bezogen ist und ein System entsprechender Verhaltensweisen motiviert. Jeder dieser Ego-States wird als anpassungsfähig angesehen und existiert in einer Familie von »Sub-Selbsten«, die in einer funktionellen Weise handeln und, wie viele reale Familien, unterschiedliche Grade an Dysfunktion aufweisen können. Gewöhnlich zeigt sich eine Pathologie dann, wenn Uneinigkeiten oder ein Mangel an Kooperation zwischen den Ego-States a uftritt. Das Ziel der Ego-State-Therapie ist die Integration, d. h. Co-Bewusstheit. 6.2.2 Was ist der Ursprung der Ego-States? Nach A nsicht von J. u. H. Watkins kommen dafür drei Prozesse in Frage: 1. normale Differenzierung unserer Persönlichkeit, 2. die Verinnerlichung wichtiger, prägender Bezugspersonen in der Kindheit (Introjektion) und 3. die Reaktion auf ein erlebtes Trauma. Zum ersten Prozess, der Differenzierung unserer Persönlichkeit: Das Kind lernt in seiner normalen Entwicklung, zwischen Dingen, die guttun, und solchen, die schlechte Gefühle hervorrufen, zu differenzieren; es entwickelt ein Verhaltensrepertoire für den angepassten U mgang mit den Eltern, Geschwistern, Lehrern, Sportkameraden usw. Diese in der Regel nicht so stark ausdifferenzierten Ego-States dienen der schnellen Anpassung an wechselnde Herausforderungen des täglichen Lebens und erlauben dem Kind - und später uns Erwachsenen - Rollen?exibilität. Zum zweiten Punkt, der Verinnerlichung von Bezugspersonen: »Aufgrund der Introjektion bedeutsamer anderer e rrichtet das Kind Verhaltensmuster, die, sobald sie eine Ich-Besetzung erfahren, zu Rollen werden, die es selbst erfährt, und sobald sie eine Objekt-Besetzung erfahren, innere Objekte repräsentieren, mit denen es in Beziehung treten und interagieren muss« (Watkins & Watkins 2003, S. 52, Hervorhebung im Original). Wenn ein Kind bemerkt, dass seine Mutter sich immer abwendet, auf kühle Distanz geht oder ungeduldig wird, wenn es den Ausdruck von körperlichem oder seelischem Schmerz zeigt, wird es diese missbilligende Mutter introjizieren. Um das Introjekt (Objekt-Besetzung) wird es einen bestimmten Ego-State organisieren, es fühlt sich schlecht, abgelehnt und denkt vielleicht: »Immer wenn ich traurig bin, mag Mama mich nicht«. In ihm tobt ein verzweifelter Kampf um Liebe und die Angst, nicht gewollt zu sein. D ieser Ego-State könnte den Namen tragen: »Das ungewollte innere Kind« . Macht das Kind später mit anderen Menschen ähnliche Erfahrungen, würde sich die Aussage des Ego-States weiter generalisieren, und das Kind könnte denken: »Kein Mensch mag mich, wenn ich traurig bin« (Allaussage). Erfährt dieser Ich-Zustand später eine Ich-Besetzung, d. h. die Person identi?ziert sich mit der Botschaft der Mutter (»Man darf keine Schwächen zeigen«), dann hört die Person auf, darunter zu leiden, beginnt aber, die eigenen Kinder ähnlich hart und teilnahmslos zu behandeln. Zum dritten Prozess, der Reaktion auf ein erlebtes Trauma: Durch eine Traumatisierung, e twa aufgrund von Vernachlässigung, physischer oder sexueller Gewalt, kann es zur Dissoziation kommen. »Ein einsames Kind zieht häu?g die Ich-Besetzung von einem Teil seiner selbst ab, besetzt diesen Teil mit einer Objekt-Besetzung und schafft sich so einen imaginären Spielgefährten« (Watkins & Watkins 2003, S. 52). Diese Abspaltung, die das Überleben in schwierigen Zeiten sichert, wird nach Beobachtung der beiden Watkins häu?g zur Zeit der Einschulung verdrängt, ist aber durch späteren traumatischen Stress reaktivierbar, häu?g dann aber in bösartiger, bestrafender Form. Diese entwertenden und verfolgenden EgoStates ?nden wir häu?g bei Patienten mit physischer und/oder sexueller Gewalt er fahrung in der Kindheit, oft bei Patienten mit den Diagnosen Borderline-Persönlichkeitsstörung, komplexe PTBS und, noch deutlicher akzentuiert, b ei der DIS (dissoziativen Identitätsstörung) . 6.3 Vorbereitung der Arbeit mit traumatisierten Anteilen Bevor wir mit der eigentlichen hypnoanalytischen Teilearbeit beginnen, müssen wir, wie in jeder verantwortungsvollen Psychotherapie, eine Abschätzung der momentanen Lebenssituation und der Problemlage des Patienten vornehmen und unsere Therapiestrategien, therapeutischen Fähigkeiten und persönlichen Variablen dazu in Beziehung setzen - nicht jeder Patienten passt gleich gut zu uns und wir zu ihm. Die implizite Heilungsstrategie, die dem hier vorgestellten polypsychischen TeileAnsatz zugrunde liegt, kann vereinfacht so beschrieben werden: Das Ziel der Traumatherapie ist es, das traumatische Material, welches in neuronalen Netzwerken gespeichert ist, zu prozessieren. Dazu muss das vor allem rechtshirnig gespeicherte Gedächtnismaterial für den Patienten schonend in den Arbeitsspeicher geladen und in einem sicheren Hier und Jetzt mit einem aktivierten Ressourcennetzwerk verbunden werden. Dieses entspricht der normalen Verarbeitung traumatischer Erfahrungen: durch die immer wieder vollzogene Erzählung traumatischer Erfahrung durch das Opfer im Zusammenhang sicherer Bindung, wodurch das Traumamaterial mit der Gegenwart verbunden wird und somit seine furchtbare, überwältigende Wucht verliert. Aus der Sicht der Hypnotherapie ist die Tatsache der Traumaerfahrung eine »Restriktion« - eine nicht mehr veränderbare Erfahrung aus der Vergangenheit, die vom Gehirn in der Gegenwart auf einen Auslösereiz hin rekonstruiert wird. Das Traumaerleben entsteht unwillkürlich, das heißt, eine Erfahrung von Hil?osigkeit und Verlust der Kontrolle ereignet sich im Gegenwartsmoment: Ich will es nicht, aber es passiert. Alle unwillkürlichen Prozesse im Gehirn sind schneller und wirksamer als die bewussten Entscheidungen des Großhirns. Aus diesem Anlass ist es besser, das Trauma als Restriktion zu betrachten, welche nicht veränderbar ist, und der therapeutische Umgang damit zielt dann auf einen opti malen Umgang mit dieser Restriktion. Somit können wir sagen: Das Trauma ist eine Restriktion - die Therapie des Traumas ist der Versuch, einen optimalen Umgang mit dieser Restriktion zu ?nden. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es klarer Prozessmarken, um einzuschätzen, ob der Patient für eine Prozessualisierung des Traumamaterials bereit ist und welche Übungen in den einzelnen SARI-Phasen (siehe unten) besonders beachtet und vermittelt werden müssen. Hilfreich dafür ist eine von Sandra Paulsen (2009) vorgeschlagene Checkliste, die sich vor allem bei komplex traumatisierten und dissoziativen Patienten bewährt hat (siehe Abb. 2). 1. Ist der Patient sicher? 2. Ist das Umfeld des Patienten stabil? 3. Beherrscht der Patient die Imagination des sicheren inneren Ortes und hat er Selbstberuhigungsstrategien gelernt? 4. Gab es eine Aufklärung der wichtigen inneren Anteile des Systems in Bezug auf selbst verletzendes Verhalten und ist dieses seltener geworden? 5. Sind die Täterintrojekte zum gegenwärtigen Zeitpunkt zum Ort, zur Person orientiert - mindestens zu gewissen Zeiten? 6. Ist das Selbst-System des Patienten bereit, zwischen den Sitzungen Unerledigtes in einem sicheren Speicherort, z. B. dem »Tresor«, aufzubewahren? 7. Hat der Patient genug Ich-Stärke, um intensive Affekte zu tolerieren und abzureagieren? 8. Sind ältere, stärkere und ressourcenvollere Teile des Patientensystems bereit, für traumatisierte Kindanteile zu sorgen? 9. Ist der Teil, der den Vordergrund organisiert (das Alltags-Ich), bereit, auch mal zur Seite zu treten und anderen Teilen zu gestatten, dem System zu helfen? 10. Sind ärgerliche/schützende Teile dafür gewonnen worden, bei der Durcharbeitung des Traumas mitzumachen? 11. Verstehen die zentral wichtigen Anteile, dass sie alle im gleichen Körper leben und in der gleichen Gegenwart; sind sie bereit, alle zusammen in Richtung Heilung und Integration des ganzen Systems zu arbeiten? 12. Versteht eine hinreichend große Anzahl von inneren Anteilen den Gebrauch von EMDR und/oder Screentechnik zur Traumaarbeit? 13. Beherrscht der Patient die Prozedur des Notfallausstiegs? Abb. 2: Checkliste für den Therapeuten - modifiziert nach S. Paulsen (2009) 6.4 Praxis der Ego-State-Therapie im Einzelnen - das SARI-MODELL 6.4.1 Überblick über die vier Behandlungsphasen Hatte Judy Herman (1994) noch von drei Phasen der Traumatherapie gesprochen, so orientiert sich die Hypnotherapie an den sehr ähnlichen vier Behandlungsphasen des SARI-Modells von Maggie Phillips und Claire Frederick (2003), um die einzelnen Punkte der oben vorgestellten Checkliste (Abb. 2) mit den Patienten zu erarbeiten. Diese vier Phasen stehen für die Abkürzung SARI-Modell : n Sicherheit und Stabilisierung (Safety and Stabilisation), n Schaffung eines Zugangs zum Trauma material und den damit verbunden Ressourcen (Accessing), n Durcharbeiten der Traumaerfahrung und Restabilisierung (Resolving and Restabilization), n Integration in die Persönlichkeit und Festigung der Identität (Integration and Identity). Es ist wichtig, dem Patienten klarzumachen, warum wir uns zu Beginn vor allem um Sicherheit und Stabilisierung kümmern werden, bevor die Arbeit am traumatischen Material beginnen kann (»Stoppschilder« eins und zwei). Bedeutsam dabei ist die Haltung des Therapeuten in dieser Phase: Stabilisierung zu lernen ist die Aufgabe und die Verantwortung des Patienten, wir begleiten ihn nur auf seinem Weg - damit stärken wir das erwachsene Selbst. Wir sehen in der Praxis aber immer wieder Traumapatienten, die auf das Angebot von Imaginationsübungen, Lernen von Dissoziationsstopp, Schreiben eines »Freude tage buchs«, regelmäßiger guter »Selbstbemutterung« usw. etwas abfällig antworten: »Das kenne ich schon, das wirkt bei mir nicht«. Diese Entwertung geht häu?g von einem täterin?zierten Introjekt aus, welches nachhaltig versucht, die Therapie zu »sabotieren«2 - Täterintrojekt arbeit, wie ich sie später erwähnen werde, kann helfen, die Motivation für das Erlernen der imaginativen Techniken zu verbessern (»Stoppschild« drei), und das Arbeitsbündnis stärken. 6.4.2 SARI-Schema: Phase 1 - Sicherheit und Stabilisierung Diese Phase konzentriert die Arbeit darauf, dem Patienten zu helfen, innere und äußere Sicherheit zu ?nden, das Management seiner Symptome zu verbessern und seine Funktionstüchtigkeit im Alltag zu steigern. Wenn wir das in der Sprache der strukturellen Dissoziation (van der Hart et al. 2008) ausdrücken: Der anscheinend normale Teil der Persönlichkeit (ANP) muss lernen, mehr Kontrolle über die EPs (Einzelpersönlichkeiten) zu bekommen, und dazu muss der mediale präfrontale Kortex gestärkt werden. Eine tragfähige therapeutische Beziehung hat - ausgelöst durch die Aktivierung des Bindungssystems durch das Bezie hungsangebot des Therapeuten, - eine direkte, regulative Funktion in Bezug auf die Neurobiologie des Patienten; die Folge ist, dass der Patient ruhiger wird, was wiederum dazu führt, dass der präfrontale Kortex besser arbeitet. Abbildung 3 zeigt die dazu notwendigen Therapiestrategien. 1. Vorbereitung, Psychoedukation und Aufbau 2 Hinter dieser »Sabotage« steckt meist eine gute Absicht, die es zu würdigen und anzuerkennen gilt. der therapeutischen Beziehung 2. Anamnesegespräch und Testpsychologie (DES, IES-R) 3. Herstellung von innerer und äußerer Sicherheit 4. Erlernen der Selbsthypnose 5. Übungen zur Ich-Stärkung und Stabilisierung n Der inneren Kraft begegnen n Hypnotische Altersregression zu wichtigen nährenden Bezugspersonen n Innere Selbstberuhigung n Parenting 6. Patient muss lernen, mehr emotionale Selbstregulation zu lernen (Stärkung des präfrontalen Kortex) n Der innere sichere Ort n Die inneren Helfer n Der Tresor n Kontrolle von selbstschädigendem Verhalten (Drogen, Suizidalität, Selbstverletzung) n Gegensteuerung mit Joggen, Atemtechniken, Massage, Yoga, Qi Gong, AT usw. 7. Beachtung somatischer Aspekte der PTBS im Alltag Abb. 3: SARI-Modell: Die Phase der Sicherheit und Stabilisierung Qi Gong, autogenes Training oder Progressive Muskelrelaxation (PMR, nach Jacobson) und funktionelle Entspannung (nach Marianne Fuchs). In dieser ersten Phase des SARI-Modells steht die Ego-State -Arbeit unter den Überschriften: Stärkung, Stabilisierung, Schaffung von Schutz und Sicherheit. Wir beginnen mit unserer Arbeit an der Stelle, an der wir beim Patienten die positivsten und ressourcenvollsten Ego-States vermuten. Der Weg dorthin führt über die Imagina tionsübungen, die ich an anderer Stelle (Peichl 2007, 2010) beschrieben habe. Mit ihnen verstärken und bahnen wir schon vorhandene, aber vergessene, sicherheit- und haltgebende Ego-States (die guten Mutterintrojekte) oder helfen dem Patienten, im Zuge der Imagination neue zu bilden. Die imaginäre Kontaktaufnahme mit dem »Inneren Kind « und die zunehmende Dialogbereitschaft helfen, das »Unaussprechliche« der geschehenen Ereignisse zu visualisieren und sich aus einer Erwachsenenposition heraus dazu in Bezug zu setzen. In dieser Therapiephase ist mehr bewusste Kontrolle über das emotionale Gehirn (limbisches System) erforderlich. Die wichtigsten Pathways einer bewussten Gegensteuerung sind: nAktion, d. h. Mobilisierung, sich bewegen; n Aktivierung des mediofrontalen Kortex und n Steigerung des Tonus des X.-Hirnnervs, des Nervus Vagus. Alles, was dazu dient, ist gut: joggen und sich bewegen, ein Fördern der Bindungsressourcen , Atemtechniken, Massage, Yoga, 6.4.3 SARI-Schema: Phase 2 - Schaffung eines Zugangs zum Traumamaterial und den damit verbunden Ressourcen Wenn wir nun den Eindruck haben, der Patient habe ein ausreichendes Maß an Stabilität und Sicherheit im Inneren und Äußeren erreicht, dann können wir uns an die Offenlegung der traumatischen Erfahrungen machen, aber immer mit einem Blick auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Es gilt dabei ein wichtiger Merksatz: Ein traumatischer Ego-State kann nur die Bühne betreten, wenn schon ein ressourcenvoller Ego-State da ist; Yvonne Dolan (1991) hat das einmal »sicheres Erinnern« (safe remembering) genannt. Ich bevorzuge einen Wechsel in den Themenschwerpunkten der Sitzungen: eine Sitzung weiter konsequente Ressourcenarbeit, eine Sitzung Offenlegung und Rekonstruktion traumatischen Materials. Neben den vorhanden und reproduzierbaren Erinnerungen an das Trauma im autobiogra?schen Gedächtnis ist es das Körpergedächtnis, welches die traumatische Erfahrung festhält - »The body keeps the score«, hatte van der Kolk (1994) eine Arbeit zur Traumaerinnerung überschrieben. Um schonend mit dem Körpergedächtnis des Patienten zu arbeiten, kann man sich dabei des »Con?ict-Free Somatic Imagery Protocol« von Maggie Phillips (Peichl 2007, S. 191 ff.) bedienen. Jetzt ist es auch Zeit, sich einen Überblick zu verschaffen, welche Ego-States der Patient selbst in sich verorten kann. Zur Identi?kation der inneren Anteile können verschiedene Methoden eingesetzt werden, um zu helfen, die innere Vielfalt zu visua lisieren und zu personalisieren. Die »Landkarte der Ego-States« kann in leichter Trance imaginiert und dann an der Flipchart aufgemalt, aus Knete geformt, durch Stühle im Raum dargestellt oder mittels Gegenständen (z. B. Handpuppen) auf dem Tisch gezeigt werden (siehe dazu Abb. 4). Eine weitere Möglichkeit, um einen schonenden Zugang zum Traumamaterial zu eröffnen, sind die Brücken-Techniken. Der Grundgedanke dahinter ist, dass durch die Dissoziation unter traumatischem Stress Teile des ganzheitlichen Erlebens abgespalten wurden und dass diese Elemente nun einzeln oder gemischt in den traumagenerierten Ego-States der Opfer wieder auftauchen. Ziel bei der Nutzung der Brücken-Technik ist es, die Manifestation eines 1. Destabilisierung und Restabilisierung n »Con?ict-Free Somatic Imagery Protocol« von Maggie Phillips n Erlernen von Flashback-Kontrolle n Enthüllende und ich-stärkende Sitzungen im Wechsel 2. Kontaktaufnahme zu Ego-States n Teile-Landkarte n Übungen zur inneren Selbst-Familie n Einführung der Bühnenmetapher, »Kon ferenzraumtechnik«, Kinoleinwand n Home Base (sicheren Erholungsort) und Work Base (Arbeitsraum für die Ego-Sta te-Therapie) imaginieren 3. Brücken-Techniken n Kognitive Brücke n Affektbrücke n Somatische Brücke Abb. 4: SARI-Schema - Schaffung eines Zugangs zum Traumamaterial und den damit verbundenen Ressourcen Affektes, einer körperlichen Emp?ndung, eines Bildes, Verhaltens oder einer Kognition im Hier und Jetzt bewusst wahrzunehmen, diese Ego-State -Komponente in Trance zu verstärken und eine spontane Assoziation zu anderen Ego-State -Komponenten, inklusive historischer und anamnestischer Bruchstücke, zu initiieren. 6.4.4 SARI-Schema: Phase 3 - die Auflösung der traumatischen Erfahrungen In den letzten Jahren setzt sich immer mehr die Meinung durch, dass ein Wiedererleben des Traumas mit anschließender kathartischer Abreaktion alleine nicht ausreiche, um die traumatische Erinnerung langfristig ins biogra?sche Gedächtnis zu integrieren. Im Gegenteil kann eine ungesteuerte Abreaktion auch zu einer Retraumatisierung führen, mit Verschlechterung der Symptomatik.

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