Psychologie der Jugendsexualität - Theorie, Fakten, Interventionen

Psychologie der Jugendsexualität - Theorie, Fakten, Interventionen

von: Nancy M. Bodmer

Hogrefe AG, 2013

ISBN: 9783456752266

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 2726 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Psychologie der Jugendsexualität - Theorie, Fakten, Interventionen



[18][19]1. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Sexualität als Entwicklungsaufgabe des Jugendalters

Um das Sexualverhalten Jugendlicher zu verstehen, werden im Folgenden die vielfältigen Entwicklungsaufgaben dieser Lebensphase ausgeleuchtet. Das Kapitel beginnt mit einer Definition von Entwicklung. Dar auf aufbauend wird das Konzept der Entwicklungsaufgaben erläutert; Entwicklungsaufgaben beschreiben die konkreten Entwicklungsschritte in spezifischen Lebensphasen. Die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters werden dargestellt und es wird diskutiert, welche Bedeutung diese für das Erlernen eines verantwortungsvollen Umgangs mit Sexualität haben. Es folgen Modelle zur Erklärung des Sexualverhaltens sowie die Darstellung biologischer Reifeprozesse in der Pubertät. Die Bedeutung des Gesundheits- und Risikoverhaltens im Jugendalter für die sexuelle Entwicklung Jugendlicher und junger Erwachsener wird abschließend thematisiert.

1.1 Der entwicklungspsychologische Kontext

Eine moderne Auffassung von Entwicklung beschreibt Entwicklungsverläufe als komplexe Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren.2 Die genetischen Grundlagen und biologischen [20]Reifungsprozesse stellen dabei den Rahmen sowie die Basis dar. Gleichzeitig bewegt sich das sich entwickelnde Individuum in Umweltsystemen (zu denen die genannten sozialen, psychischen etc. Faktoren gehören): Es beeinflusst diese Systeme und wird selbst von diesen mitgestaltet. Solche Systeme sind für Jugendliche beispielsweise die Familie, der Freundeskreis, die Schule und/oder Arbeit sowie die Freizeit. Diese Systeme werden ihrerseits von der sich wandelnden Gesellschaft geformt. Der Jugendliche3 bewegt sich im Verlaufe seiner Entwicklung zunehmend kompetenter und selbstständiger in diesen Systemen und eröffnet zunehmend weitere Räume, beispielsweise im Freizeitbereich oder durch die Aufnahme von Kontakten mit neuen Gleichaltrigen. Durch eine aktive und gezielte Auseinandersetzung mit seiner Umwelt gestaltet der Heranwachsende seine Entwicklung zunehmend mit.

1.1.1 Entwicklungsaufgaben

Eine wechselseitige Beeinflussung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt steht im Zentrum einer Betrachtung von Entwicklung in den verschiedenen Lebensphasen. In diesen finden über die Lebensspanne altersspezifische Lernprozesse statt. Diese Lernprozesse lassen sich mit dem Konzept der Entwicklungsaufgaben von Robert Havighurst (1948, S. 6) beschreiben:

«Eine Entwicklungsaufgabe ist eine Aufgabe, die sich in einer bestimmten Lebensperiode des Individuums stellt. Ihre erfolgreiche Bewältigung führt zu Glück und Erfolg in Bezug auf spätere Aufgaben, während eine nicht erfolgreiche Bewältigung das Individuum unglücklich macht, es auf Ablehnung durch die Gesellschaft stoßen lässt und zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung späterer Aufgaben führt.»

Eine Entwicklungsaufgabe ist eine an ein bestimmtes Alter gebundene Entwicklungsanforderung in einem bestimmten Lebensbereich. Es werden drei sogenannte Quellen für Entwicklungsaufgaben definiert:

  • [21]Die physische Reifung des Organismus bildet die Ausgangslage für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. (Die zur physischen Reife führenden biologischen Prozesse werden in Kapitel 1.3 dargestellt.) Im Jugendalter erfolgen mit dem Beginn der Pubertät, der Zeit der eintretenden Geschlechtsreife, Veränderungen in den Einstellungen gegenüber sich selbst beispielsweise Anpassung des Selbstwerts, Geschlechterrollenidentität und Körperbild sowie bezüglich der Handlungen gegenüber der sozialen Umwelt beispielsweise Kontaktaufnahme zu gegengeschlechtlichen Gleichaltrigen oder Autonomiebestrebungen gegenüber den Eltern.

  • Die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben untersteht weiter einem kulturellen Druck respektive den mehr oder weniger ausgesprochenen Erwartungen und Wertvorstellungen der Gesellschaft. Hinsichtlich der Pubertät können beispielsweise vorherrschende Schönheitsideale, geschlechtsstereotype Verhaltenserwartungen oder auch Vorstellungen darüber, wie sich ein Jugendlicher überhaupt zu verhalten hat, solche Erwartungen sein.

  • Die dritte Quelle für Entwicklungsaufgaben sind individuelle Verhaltensabsichten, Zielsetzungen und Werte des Individuums. Sie können als «treibende Kraft» für die aktive Gestaltung des eigenen Lebens betrachtet werden. (Die Bedeutung des Individuums als Mitgestalter seiner Entwicklung wird in den Modellen zur Erklärung des Sexualverhaltens im Jugendalter in Kapitel 1.2 diskutiert.)

Die Festlegung einer umschriebenen Gruppe von Entwicklungsaufgaben lässt vermuten, dass jedes Individuum einer Gesellschaft oder eines Kulturkreises in einer bestimmten Lebensphase die gleichen Aufgaben zu lösen hat. Dies trifft jedoch nicht zwangsläufig zu. Es wird gemeinhin zwischen drei Typen von Entwicklungsaufgaben unterschieden: Dies sind:

1.

normative Entwicklungsaufgaben, deren Bewältigung von allen Individuen einer Gesellschaft erwartet wird. Es wird beispielsweise von einem 3-jährigen Kind erwartet, dass es trocken wird;

[22]2.

nicht verbindliche Entwicklungsaufgaben, die für Gruppen von Individuen realisierbar sind, für andere nicht, beispielsweise aufgrund mangelnder Kompetenzen, sowie

3.

Entwicklungsaufgaben, die als Entwicklungsangebote zu betrachten sind, wie beispielsweise Elternschaft.

Die beiden letzten Gruppen von Entwicklungsaufgaben können als nonnormativ bezeichnet werden, da sie nicht von allen Individuen einer Gesellschaft wahrgenommen werden.

Die Lösung von Entwicklungsaufgaben in späteren Lebensphasen baut auf einer erfolgreichen Bewältigung vorgängiger Entwicklungsaufgaben auf. Diverse Längsschnittstudien belegen, dass nachfolgende Entwicklungsanforderungen dann besser bewältigt werden, wenn die vorausgehenden Anforderungen erfolgreich angegangen wurden.4 Beispielsweise konnte gezeigt werden, dass das Bewältigen der Entwicklungsaufgabe «Aufbau eines sicheren Bindungsverhaltens» im Säuglingsalter (6 bis 12 Monate) in der Kindheit zu größeren sozialen Kompetenzen im Umgang mit Gleichaltrigen führt. Selbstverständlich ist ein sicheres Bindungsverhalten nicht ein einseitiger, ausschließlich vom Säugling gesteuerter Prozess, sondern wird in Interaktion mit nahen Bezugspersonen und dank ihres einfühlsamen Verhaltens erreicht. Die primären Bezugspersonen schaffen ein Klima in der frühen Entwicklung, in welchem das Kind die Sicherheit gewinnt, dass es unterstützt wird, wenn es die Situation erfordert. Während in der frühen Kindheit die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in einem hohen Maße von der sozialen Umgebung des Kindes abhängig ist, nimmt die Abhängigkeit im Verlaufe der Entwicklung ab. Sicher gebundene Kinder nehmen ihre nahen Bezugspersonen als sicheren Bezugspunkt wahr und sind in der Lage, die Umwelt zunehmend selbstgesteuert zu erkunden. Selbstständiges Explorationsverhalten ist für die weitere Entwicklung eines Kindes zentral.

Havighurst hat in den späten 1940er-Jahren dem Jugendalter elf Entwicklungsaufgaben zugeordnet; diese werden im Folgenden (Kasten 1) aufgelistet. [23]Nicht alle Entwicklungsaufgaben sind während der gesamten Adoleszenz gleich aktuell. Auch gehen Jugendliche nicht alle Aufgaben gleichzeitig an, sondern fokussieren in bestimmten Lebensphasen auf einzelne Aufgaben, während sie andere außer Acht lassen.

Kasten 1: Entwicklungsaufgaben des Jugendalters (adaptiert nach Havighurst 1948 sowie Dreher & Dreher 1985)

1.

Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung und effektive Nutzung des Körpers,

2.

Übernahme der männlichen respektive weiblichen Geschlechterrolle,

3.

Aufbau neuer und reiferer Beziehungen zu Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts,

4.

Gewinnen emotionaler Unabhängigkeit von den Eltern und von anderen Erwachsenen,

5.

Vorbereitung auf eine berufliche Karriere,

6.

Vorbereitung auf eine anhaltende Partnerschaft (respektive auf ein Ehe- und Familienleben),

...

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