Handbuch Schulpsychologie - Psychologie für die Schule

Handbuch Schulpsychologie - Psychologie für die Schule

von: Klaus Seifried, Stefan Drewes, Marcus Hasselhorn

Kohlhammer Verlag, 2015

ISBN: 9783170261310

Sprache: Deutsch

490 Seiten, Download: 4374 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Handbuch Schulpsychologie - Psychologie für die Schule



2          Wissenschaftliches Selbstverständnis schulpsychologischen Handelns


Marcus Hasselhorn, Stefan Drewes und Klaus Seifried


2.1 Einleitung

2.2 Grundlage: Theorien und Befunde der wissenschaftlichen Psychologie

2.3 Herausforderung: Handeln unter Unsicherheit bei hohem Handlungsdruck

2.4 Umsetzung: Hypothetisch-deduktives Denken

2.5 Ausblick

Literatur

2.1        Einleitung


Schulpsychologie ist »angewandte Psychologie für die Schule« (BDP, 2014, S. 3) und basiert als solche auf den Erkenntnissen der akademischen Psychologie. Sie bedient sich der Theorien, Befunde und Methodologie der gesamten Psychologie. Insbesondere die Klinische Psychologie, die Pädagogische Psychologie und die Entwicklungspsychologie spielen als zentrale Bezugsdisziplinen eine große Rolle. Zudem dienen die Inhalte der psychologischen Diagnostik, Sozialpsychologie, Arbeits- und Organisationspsychologie und anderer psychologischer Teildisziplinen als Bezugsrahmen.

Wissenschaftliche Forschungsergebnisse bilden die Handlungsgrundlage praktisch arbeitender Schulpsychologinnen und Schulpsychologen. Wie aber gelingt es, dass wissenschaftliche Forschungsergebnisse angemessen und erfolgreich in der Praxis genutzt werden? Hierfür müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein. So muss entsprechend relevante Forschung vorliegen, die systematisch aufbereitet und hinreichend verständlich verfügbar gemacht worden ist. Auch müssen praktisch tätige Schulpsychologen diese wissenschaftlichen Befunde kritisch reflektieren und hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit und Nützlichkeit bewerten. Um das angemessen und erfolgreich zu leisten, bedarf es solider Kenntnisse forschungsmethodologischer Grundlagen ebenso wie der Befähigung zur kritischen Reflexion wissenschaftlicher Forschungsbefunde.

Aber obwohl viele nützliche Theorien und Befunde in der wissenschaftlichen Psychologie vorliegen und die praktisch tätigen Schulpsychologinnen und Schulpsychologen über hinreichende forschungsmethodologische Kenntnisse verfügen und zur kritischen Reflektion wissenschaftlicher Forschungsbefunde befähigt sind, stehen sie in der Praxis immer wieder neu vor der Herausforderung, dass die Probleme, zu deren Lösung sie beitragen sollen, oftmals diffus, widersprüchlich, komplex und zumindest uneindeutig sind. Die Folge ist, dass das alltägliche schulpsychologische Handeln immer wieder unter großer Unsicherheit erfolgt und subjektiv als Theorie-Praxis-Dilemma wahrgenommen wird. Diese Unsicherheit ist ein inhärenter Bestandteil des beruflichen Handlungsspektrums in der Schulpsychologie, da die schulpsychologische Expertise immer dann angefragt wird, wenn im Bereich des Erlebens und Verhaltens von Schülern oder aber in der Interaktion zwischen Lehrkräften und Schülern Probleme auftreten, die sich nicht durch pädagogisch bewährte Maßnahmen haben lösen lassen und bei denen die beteiligten Schulverantwortlichen unter Handlungsdruck (oftmals auch unter Leidensdruck) stehen. Expertinnen und Experten der Schulpsychologie werden dann bei Krisen und Problemlagen einbezogen, wenn Standardlösungen nicht erfolgreich waren und bei den Verantwortlichen in der Schule große Unsicherheit herrscht.

Ein solcher Dauerzustand ist ein objektiver Belastungsfaktor für die Ausübung des Berufs einer Schulpsychologin bzw. eines Schulpsychologen, und damit ist das Risiko erhöht, sich permanent gestresst und überfordert zu fühlen. So verwundert es auch nicht, dass in verschiedenen Befragungen von praktisch tätigen Psychologinnen und Psychologen in den letzten Jahren auf das Theorie-Praxis-Dilemma hingewiesen und zum Ausdruck gebracht wurde, dass man weite Teile der Studieninhalte nicht für den beruflichen Alltag gebrauchen könne (z. B. Schneider & Roebers, 2000; Frensch, 2013; Hasselhorn, 2009). Oftmals führt das zu Debatten, ob überhaupt ein Vollstudium in Psychologie die bestmögliche Grundausbildung für Schulpsychologinnen und -psychologen sei. Wir sind der Überzeugung, dass eine solide psychologische Vollausbildung notwendige Voraussetzung ist, um die psychologische Expertise zu sichern, die maximal erfolgreiche Lösungen bei Problemen in der und um die Schule zu finden verspricht. Dazu wird ein wissenschaftliches Selbstverständnis schulpsychologischen Handelns skizziert, das seine Grundlage in den Theorien und Befunden der wissenschaftlichen Psychologie hat, die von Schulpsychologinnen und Schulpsychologen durch ihr im Studium geschultes Vermögen zum hypothetisch-deduktiven Denken reflektiert und für die Suche und Entwicklung von Problemlösungen im schulpsychologischen Alltag genutzt werden (können).

2.2        Grundlage: Theorien und Befunde der wissenschaftlichen Psychologie


Vor mehr als 100 Jahren hat der große Hamburger Psychologe William Stern den Terminus »Angewandte Psychologie« als Sammelbegriff für die praktische Anwendung psychologischer Erkenntnisse eingeführt ( Kap. I-1 von Drewes in diesem Band). Der gleiche William Stern war es auch, der im Rahmen eines Jugendkongresses 1911 die Einsetzung von Schulpsychologen forderte – eine Forderung, die in den Reihen der Schulverantwortlichen und der Lehrerschaft noch jahrelang auf heftigen Widerstand stieß. In der Forschung hat William Stern 1911 mit seinem Buch Differenzielle Psychologie die Teildisziplin der Differenziellen und Persönlichkeitspsychologie begründet. Lange Zeit kannte die Forschungsdisziplin Psychologie daraufhin nur den Unterschied zwischen einer Allgemeinen Psychologie und einer Differenziellen Psychologie. Während erstere sich mit der Beschreibung und der für alle Menschen geltenden Erklärung des Verhaltens und Erlebens beschäftigte, war letztere an der Beschreibung und Erklärung systematischer interindividueller Unterschiede zwischen Menschen interessiert. Heute ist das Spektrum der auch für die Schulpsychologie relevanten Teildisziplinen der Psychologie ungleich breiter. Neben der Allgemeinen Psychologie der Wahrnehmung, des Lernens, des Denkens, der Motivation, der Emotionen und des Handelns spielen gerade für das Handlungsfeld der Schulpsychologie auch die Entwicklungspsychologie und die Sozialpsychologie eine große Rolle. Hinzu kommt die anwendungsorientierte Subdisziplin der Diagnostik, die Instrumente zur Verfügung stellt, um die interindividuellen Unterschiede zwischen Menschen in ihrem Erleben und Verhalten objektiv, reliabel und valide erfassen zu können. Aber auch die Anwendungsdisziplinen der Klinischen Psychologie, der Arbeits- und Organisationspsychologie und insbesondere der Pädagogischen Psychologie haben viele Theorien, Konzepte und Ansätze erarbeitet, die zur Grundlegung schulpsychologischen Handelns gut geeignet sind.

In allen diesen Teildisziplinen werden Phänomene des menschlichen Erlebens und Verhaltens beschrieben und mit Hilfe von Theorien zu erklären versucht. Der wissenschaftliche Wert einer psychologischen Theorie bemisst sich daher über seinen Erklärungswert. Dieser wiederum hängt ab von der Kohärenz und Eindeutigkeit der in der Theorie formulierten Zusammenhänge sowie vom Grad der empirischen Bewährung von Vorhersagen, die man aus der Theorie ableiten kann. Um Letzteres beurteilen zu können, ist eine gründliche methodische Ausbildung zu den Forschungsgrundlagen der Psychologie ( Kap. 1-5 von Fiege, Gawrilow, Schmid & Hasselhorn in diesem Band) erforderlich.

Aus der Perspektive der angewandten Psychologie ist ein hoher Erklärungswert allerdings nur die notwendige Bedingung dafür, dass die entsprechende Theorie eine geeignete Grundlage für professionell erfolgreiches Handeln ist. Hinzu kommt als zweites Kriterium die Nützlichkeit der Theorie. Erklärungsstarke psychologische Theorien unterscheiden sich im Grad ihrer Nützlichkeit für praktisches Handeln. So können beispielsweise zwei bewährte und erklärungskräftige Theorien über die Mechanismen, die bei Teilleistungsstörungen verantwortlich sind, für die Diagnostik und/oder die Intervention bei einer vorliegenden Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche unterschiedlich nützlich sein, weil aus der einen Theorie unmittelbar diagnostische Herangehensweisen oder Fördermaßnahmen ableitbar sind und aus der anderen nicht.

Aufgrund ihres Studiums sollten Schulpsychologinnen und Schulpsychologen einen guten Überblick über zentrale Theorien der oben genannten Teildisziplinen der Psychologie haben. Außerdem sollten sie gelernt haben, wo und wie sie sich über den jeweils aktuellen Stand der Theoriebildung und ihres empirischen Bewährungsgrades informieren können – denn niemand kann alle für schulpsychologisches Handeln relevanten Theorien der Psychologie verfügbar...

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