Lernen - Ein Lehrbuch für Studium und Praxis

Lernen - Ein Lehrbuch für Studium und Praxis

von: Mike Rinck, Marcus Hasselhorn, Silvia Schneider, Wilfried Kunde

Kohlhammer Verlag, 2016

ISBN: 9783170260429

Sprache: Deutsch

145 Seiten, Download: 5357 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Lernen - Ein Lehrbuch für Studium und Praxis



1          Einleitung


 

 

 

 

 

Orientierungsfragen


 

•  Was ist Lernen, wie kann man es definieren?

•  Was bedeuten die einzelnen Komponenten der Definition von Lernen?

•  Was ist der Unterschied zwischen Kompetenz und Performanz, und warum ist der Unterschied für die Lernpsychologie wichtig?

•  Welche Verhaltensänderungen würde man nicht als Lernen bezeichnen?

1.1       Was ist Lernen?


»Lernen ist die Art der Ignoranz, welche die Fleißigen auszeichnet.«

Ambrose Bierce, The Devil’s Dictionary.

Die Definition von Ambrose Bierce hat sicherlich den Reiz, etwas boshaft zu sein, wie alle Definitionen in seinem »Lexikon des Teufels«. Als wissenschaftliche Definition taugt sie allerdings weniger, denn von Wissenschaftlern wird erwartet, dass sie genau wissen und sagen, was sie untersuchen. Wir brauchen deshalb eine wissenschaftliche Definition des Lernens. Man sollte meinen, dass diese leicht zu finden wäre, denn schließlich wissen wir ja alle, was Lernen ist, lesen Bücher darüber, reden miteinander darüber, und verstehen einander auch meist. In Wirklichkeit ist es aber so, dass eine allgemein akzeptierte Definition des Lernens nicht existiert, weil das Lernen – wie wir im Rest dieses Buches noch sehen werden – doch viel komplexer ist, als man gemeinhin annehmen würde. Es gibt allerdings einige Definitionen, mit denen zwar nicht alle, aber doch sehr viele Forscher übereinstimmen würden. Eine davon gefällt mir am besten:

Definition: Lernen


Lernen ist eine auf Erfahrung basierende, dauerhafte Veränderung in den Verhaltensmöglichkeiten eines Individuums.1

Diese Definition unterscheidet sich sicherlich deutlich vom umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes Lernen, und auch von Definitionen, die Nicht-Psychologen formulieren würden. Gehen wir sie einmal Stück für Stück durch, um zu sehen, warum viele Psychologen Definitionen wie diese bevorzugen.

Ein wichtiger Aspekt der Definition besteht darin, dass sie auf das Individuum, also das einzelne Lebewesen, bezogen ist. Das ist einerseits umfassender, als manche Laien es formulieren würden, denn nach dieser Definition lernen nicht nur Menschen, sondern auch die meisten anderen Lebewesen. Dazu gehören nicht nur die in der Lernforschung beliebten Ratten, Tauben und Hunde, sondern auch viel einfachere Lebewesen, z. B. Würmer. Andererseits ist die Definition auch enger, als Wissenschaftler aus anderen Disziplinen als der Psychologie es formulieren würden. Dies liegt daran, dass wir uns auf Lebewesen beschränken. Wenn also z. B. Wirtschaftswissenschaftler von »lernenden Organisationen« sprechen oder Informatiker von »lernenden Programmen«, dann macht das aus der Sicht dieser Disziplinen Sinn, für Psychologen allerdings nicht.

Ein zweiter wichtiger Aspekt der Definition ist der Begriff »Verhaltensmöglichkeiten«. Wir sprechen nicht davon, dass sich das Verhalten verändern muss, sondern es reicht, wenn sich die Fähigkeit oder Neigung zu einem bestimmten Verhalten verändert. Das ist wichtig, weil Lernen nicht sofort und direkt zu einer sichtbaren Veränderung des Verhaltens führen muss. Vielmehr reicht es aus, wenn eine Verhaltensänderung möglich wird. Dies bedeutet nicht mehr als die Alltagsweisheit, dass wir nicht alles tun müssen, was wir gelernt haben. Wenn wir beispielsweise gelernt haben, ein Gedicht aufzusagen, Fahrrad zu fahren, oder Quadratwurzeln auszurechnen, dann bedeutet das nicht, dass wir es auch ständig tun müssten. Es reicht, dass wir die Fähigkeit dazu erlernt haben und es tun könnten.

Lernforscher unterscheiden hier zwischen zwei Begriffen, die uns in diesem Buch noch häufiger begegnen werden: Einerseits Kompetenz (was wir tun können) und andererseits Performanz (was wir tatsächlich tun). Von Lernen sprechen wir, wenn sich die Kompetenz verändert, und das ist ein großes Problem: Wissenschaftler können die Kompetenz genau so wenig messen, wie man sie im Alltag sehen kann, sie ist ein theoretisches Konstrukt. Beobachten oder messen kann man nur die Performanz, also das Verhalten selbst, nicht die Verhaltensmöglichkeit. Und das ist nun wirklich doof: Wir können das, wovon wir reden, was wir wissenschaftlich untersuchen wollen, und worüber wir Bücher schreiben (u. a. dieses) gar nicht selbst erfassen. Stattdessen müssen wir uns damit zufrieden geben, Verhalten zu beobachten und zu messen, durch welches sich unser Konstrukt zeigen soll. Ein gewisser Trost besteht darin, dass dieses Problem weit verbreitet ist: Auch psychologische Konstrukte wie Intelligenz, Persönlichkeit, Temperament und physikalische Konstrukte wie Schwerkraft oder ähnliches sind nicht direkt beobachtbar. Zum Glück für die Lernpsychologie ist hier der Zusammenhang zwischen Konstrukt und Verhalten sehr eng, so dass es nicht so abwegig ist, von einer genau definierten Veränderung des Verhaltens auf Lernen zu schließen, z. B. wenn ein Verhalten wie Hebeldrücken unter bestimmten äußeren Umständen häufiger wird und unter anderen Umständen seltener. Man sollte jedoch immer im Hinterkopf behalten, dass Kompetenz und Performanz nicht das gleiche sind: Nicht jede Verhaltensänderung muss auf einer Veränderung der Kompetenz beruhen, und wenn ein Verhalten nicht gezeigt wird, bedeutet das keineswegs, dass es nicht gezeigt werden könnte.

Definition: Kompetenz versus Performanz


Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit eines Lebewesens, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, Performanz bezeichnet hingegen die tatsächliche Ausführung des Verhaltens. Es kann Kompetenz ohne Performanz geben, aber nicht Performanz ohne Kompetenz. Ein Problem der Lernpsychologie besteht darin, dass sie sich mit Veränderungen der Kompetenz beschäftigt, aber nur Veränderungen der Performanz beobachten kann.

Das Beispiel des Hebeldrückens zeigt noch etwas Wichtiges: Mit »Veränderung der Verhaltensmöglichkeiten« ist nicht gemeint, dass sich das Verhalten selbst verändern muss, z. B. indem das Hebeldrücken kräftiger wird. Es reicht vollkommen aus, wenn ein und dasselbe Verhalten häufiger oder seltener gezeigt wird. Solch eine Veränderung in der Verhaltenshäufigkeit oder -wahrscheinlichkeit kann ebenso eine Form des Lernens darstellen wie das Erlernen eines neuen Verhaltens. Und tatsächlich beschäftigen sich viele Lernpsychologen nicht mit dem Erlernen neuer Verhaltensweisen, sondern mit der Frage, wie man lernt, ob man ein bestimmtes Verhalten zeigen oder besser unterlassen sollte.

Ein weiterer wichtiger Teil der Definition besagt, dass wir bei Veränderungen der Verhaltensmöglichkeiten nur von Lernen sprechen, wenn sie einigermaßen dauerhaft sind und auf Erfahrungen beruhen. Diese Einschränkung ist wichtig, weil es viele Veränderungen der Verhaltensmöglichkeiten gibt, die nichts mit Lernen zu tun haben, weil sie nur kurzzeitig sind und/oder nicht durch Erfahrung entstanden sind. Dazu gehören zum Beispiel zufällige Veränderungen oder Veränderungen, die auf Reifung, Medikamenten, Drogen, Müdigkeit etc. beruhen. Zum Beispiel gilt es nicht als Lernen, wenn ein Kind vor einem Jahr einen Klingelknopf nicht drücken konnte, in diesem Jahr aber wohl: Vermutlich hat es in der Zwischenzeit nichts über das Drücken von Klingeln gelernt, sondern ist einfach so weit gewachsen, dass es den Knopf nun erreichen kann. Fast alle Menschen zeigen auch regelmäßige, tägliche Wechsel des Verhaltens, welche nicht durch Lernen zu erklären sind, weil sie weder auf Erfahrungen beruhen noch dauerhaft sind: Nachts verhalten wir uns anders als tagsüber, weil wir nachts schlafen. Ebenso sind die von vielen Menschen gern hervorgerufenen Veränderungen des Verhaltens durch den Konsum von Alkohol (z. B. lallende Sprache) ebenso wenig auf Lernen zurückzuführen wie die Veränderungen, die auftreten, wenn der Alkoholspiegel wieder sinkt (z. B. das Klagen über Kopfschmerz). Trotz dieser Einschränkungen ist die wissenschaftliche Definition von Lernen aber in mancherlei Hinsicht umfassender als umgangssprachliche Definitionen: Zum einen umfasst sie auch Lernformen, die dem Laien eher ungewöhnlich erscheinen, z. B. die weiter unter erklärte Habituation. Zum anderen schließt sie Veränderungen zum Schlechteren ein, d. h. Lernen führt keineswegs immer zu einer Optimierung von Kompetenz und Performanz. Hiermit wird die Lernpsychologie für andere Disziplinen relevant, z. B. für die Klinische Psychologie, wo sich viele klinische Störungen zumindest teilweise durch Lernprozesse erklären...

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