Entwicklungstheorien - Psychologische Theorien der menschlichen Entwicklung

Entwicklungstheorien - Psychologische Theorien der menschlichen Entwicklung

von: August Flammer

Hogrefe AG, 2017

ISBN: 9783456958101

Sprache: Deutsch

400 Seiten, Download: 5427 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Entwicklungstheorien - Psychologische Theorien der menschlichen Entwicklung



2 Die Kontroverse um die Anlage- und Umwelteinflüsse auf die Entwicklung

Sind wir so, wie wir sind, weil es so in unseren Genen geschrieben steht oder weil wir und weil vor allem andere auf unsere Entwicklung in bestimmter Weise Einfluss genommen haben? Und nachdem wir jetzt sind, wie wir sind: Wie viel Entwicklungsspielraum bleibt uns noch? Wie sehr ist unsere Entwicklung vorprogrammiert? Das sind Fragen, welche die Psychologie seit ihren Anfängen begleitet haben. Und sie interessieren nicht nur die wissenschaftliche Psychologie, sondern auch jene Menschen, die sich auf solche Erkenntnisse (und Annahmen) beziehen, wenn sie Einfluss auf Menschen und die Gesellschaft nehmen: Fachpersonen und Laien der Erziehung und Bildung, der Sozialpolitik oder der Rechtspflege.

Dabei folgt nicht immer das Handeln der Erkenntnis, sondern oft die Argumentation dem Handeln. Privilegierte können ein Interesse daran haben, ihre Privilegien durch Verweis auf die Unabänderlichkeit der Unterschiede zwischen den Menschen zu verteidigen. Unterprivilegierte sind mehr an der Beeinflussbarkeit und Bildungsfähigkeit der Menschen interessiert, um sich selbst und ihresgleichen eine Chance zu geben oder gar die Ungleichheiten als Ungerechtigkeiten zu entlarven und mit politischen Mitteln zu bekämpfen. Aber Habende mögen gelegentlich auch darauf verweisen, dass sie die Chancen der Verbesserung eben wahrgenommen hätten, während Nichthabende (z. B. Arbeitslose) sich einfach zu wenig anstrengten.

Das Gerechtigkeitsideal auf der Basis von allgemein gültigen Menschenrechten ist historisch eine neuere Errungenschaft. Im Altertum wurden schwach begabte und behinderte Menschen häufig abgeschoben (Haeberlin, 1985, S. 45). Und noch Rousseau (1762) hätte nicht ihr Erzieher sein wollen, wie er in seinem «Emil oder Über die Erziehung» (utb-Ausgabe 1975, S. 28) schrieb: Wer sich mit einem kränklichen und schwächlichen Zögling belastet, macht sich zum Krankenpfleger statt zum Erzieher. Mit der Sorge für ein unnützes Leben verliert er die Zeit, die der Wertsteigerung dieses Lebens gewidmet war … Ich mag keinen Zögling, der sich selbst und anderen unnütz ist, der allein damit beschäftigt ist, sich am Leben zu erhalten, und dessen Leib der Erziehung der Seele schadet … Mag ein anderer sich dieses Krüppels annehmen. Ich bin einverstanden und lobe seine Nächstenliebe; hier aber liegt nicht meine Stärke.

Es gab noch im letzten Jahrhundert ein Vernichtungsprogramm für Behinderte und Unpassende. Und berühmte Wissenschafter wie Terman (1916), Goddard (1920) und gar der Nobelpreisträger Shockley (1972) empfahlen eugenische Maßnahmen als «Entwicklungshilfe» für die Menschheit (vgl. Rosemann, 1979, S. 71). Auch forschungspolitisch wirkt sich dieses Ringen um Privilegien und Gerechtigkeit aus. Es gibt Forscher, die aufgrund ihrer Daten zu bestimmten Aussagen gelangten und dafür an Leib und Leben bedroht wurden1. Es existiert sogar der berechtigte Verdacht, dass ein prominenter Forscher seine empirischen Daten zugunsten des Einflusses der Vererbung auf die menschliche Entwicklung gefälscht hat.2 Aber nicht nur Fälschungen, sondern auch tendenziöse Definitionen können die klare Sicht auf die Befund - lage trüben. So wurde noch vor 25 Jahren von Scarr und Kidd (1983, S. 346) kurz und bündig definiert: «Entwicklung ist der Prozess, durch den der Genotyp zum Phänotyp wird. Die Forscherin Diana Baumrind (1993, S. 1313) hingegen vertrat z. B. die Position, dass wir primär die veränderbaren Bedingungen der menschlichen Entwicklung erforschen sollten, damit durch deren Manipulation allenfalls mehr Gerechtigkeit geschaffen werden könne.

Tatsächlich hat das Ausmaß der Anlagedeterminiertheit der menschlichen Entwicklung sehr viel mit Chancengleichheit zu tun. Aber was soll man tun, solange die Frage empirisch nicht verlässlich geklärt ist? Man könnte einfach von der Hypothese der maximalen Lernbarkeit aller Fähigkeiten und Eigenschaften ausgehen. Solange man nicht genau wisse, ob und wie die Anlagen wirken, sei es verantwortungslos, die Hände resigniert in den Schoß zu legen, meinen etwa Umweltwirkungsverfechter; systematische Umweltgestaltung eröffne der Menschheit wenigstens eine Chance für Verbesserungen.

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