Kinder, die nicht aufgeben - Förderung der Resilienz in der pädagogischen Praxis

Kinder, die nicht aufgeben - Förderung der Resilienz in der pädagogischen Praxis

von: Marion Kipker

Tectum-Wissenschaftsverlag, 2013

ISBN: 9783828856301

Sprache: Deutsch

108 Seiten, Download: 594 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Kinder, die nicht aufgeben - Förderung der Resilienz in der pädagogischen Praxis



2 Kindheit im Wandel

Mit dem Fortschreiten des Zeitalters der Informations- und Kommunikationstechnologie vollzieht die Gesellschaft mit enormer und ständig wachsender Geschwindigkeit einen Wandel, der das Individuum in allen Lebensbereichen, in persönlichen, familiären sowie beruflichen, vor neue Aufgaben und Herausforderungen stellt. In der wegweisenden Studie „Risikogesellschaft – auf dem Weg in eine andere Moderne“ von Ulrich Beck (2001) werden die sich damit verändernden Risiken in der Gesellschaft beschrieben. Auch Familien mit ihren Kindern sind von diesen Veränderungen und neuen Herausforderungen betroffen. Beck (2001, S.163) gibt hierzu einen Überblick: „Noch in den sechziger Jahren besaßen Familie, Ehe und Beruf als Bündelung von Lebensplänen, Lebenslagen und Biographien weitgehend Verbindlichkeit. Inzwischen sind in allen Bezugspunkten Wahlmöglichkeiten und –zwänge aufgebrochen.“. Veränderungen und Umbrüche in vielen Lebensbereichen kennzeichnen die gesellschaftliche Situation. Dieser Wandlungsprozess kann als ein Ergebnis eines langfristig stattfindenden Individualisierungsprozesses aufgefasst werden. Individualisierung bedeutet einerseits einen Gewinn an vorher unbekannten Handlungsspielräumen, erweiterten Freiheiten, Wahlmöglichkeiten der Mobilität und Gewinn an individuellen Entscheidungsfreiheiten. Alte Abhängigkeiten und Zwänge verlieren an Einfluss. Andererseits bedeutet Individualisierung einen Verlust an Sicherheit und Handlungswissen. Der Mensch kann sich immer weniger an traditionellen Familien- und Berufsmodellen orientieren und muss individuelle Entscheidungen treffen, die Ängste erzeugen können (vgl. Peukert 2002, S.316). Ein besonders beachtliches Beispiel dafür sind die familiären Lebensformen. Dies zeigt ein Blick auf eine zweifellos noch unvollständige Liste der verschiedenen Lebensformen. Die vierköpfige Familie ist längst in eine Minderheit geraten. Dagegen gibt es eine wachsende Anzahl von Stieffamilien, Adoptivfamilien, Patchworkfamilien, Inseminationsfamilien, es gibt die Ehen mit Doppelkarriere, die Commuter-Ehe, egalitäre Ehen, Hausmänner-Ehen, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften, transkulturelle Familien und die Migrantenfamilien.

Die Welt, in die die Kinder heute hineinwachsen, verliert an Eindeutigkeit und Klarheit. Auch den Erwachsenen fällt es zunehmend schwer, die Kompetenzen zu benennen und zu fördern, die zur Lebenssicherheit erforderlich sind. Die wachsende Fülle von Erlebnis- und Erfahrungsbezügen lassen sich in kein Gesamtbild mehr fassen (vgl. Keupp 1996, S.132 f.).

Klaus Hurrelmann (1990, S.59) beschreibt diese Erfahrungen so:

„Die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen ist heute ebenso wie die von Erwachsenen in der sozialen Lebenswelt durch eine eigentümliche Spannung gekennzeichnet: Einerseits sind auch schon für Kinder und Jugendliche die Freiheitsgrade für die Gestaltung der eigenen individuellen Lebensweise sehr hoch. Andererseits werden diese ‚Individualisierungschancen‘ erkauft durch die Lockerung von sozialen und kulturellen Bedingungen. Der Weg in die moderne Gesellschaft ist so gesehen auch ein Weg in eine zunehmende soziale und kulturelle Ungewissheit, in moralische und wertemäßige Widersprüchlichkeit und in eine erhebliche Zukunftsunsicherheit. Deswegen bringen die heutigen Lebensbedingungen auch so viele neue Formen von Belastung mit sich, Risiken des Leidens, des Unbehagens und der Unruhe, die teilweise die Bewältigungskapazität von Kindern und Jugendlichen überfordern“.

Die Einbettung des Individuums in Zusammenhänge traditioneller Gemeinschaften schrumpft und geht mit dem Verlust von Geborgenheit und Gemeinschaftsempfinden einher. Diese Veränderungen führen dazu, dass Kinder stärker als in früheren Zeiten, immer mehr mit neuen Herausforderungen konfrontiert werden.

Die Folgen zeigen sich für die Heranwachsenden häufig im Verlust psychosozialer Schonräume und einer von immer mehr Kindern erlebten Einsamkeit und „seelischen Verarmung“ (Peterander & Opp 1996, S.17) inmitten medialer Reizüberflutung.

Die 15. Shell-Jugendstudie „Jugend 2006“, die am 21.09.2006 von Klaus Hurrelmann, dem Leiter des wissenschaftlichen Teams, in Berlin vorgestellt wurde, bestätigt die beschriebenen gesellschaftlichen Risiken und zeichnet das Bild einer heranwachsenden Generation, die zwischen Leistungswillen und Zukunftsangst steht. Durch die Zunahme kultureller und sozialer Spannungsfelder sowie einer ständig wachsenden Zahl junger Menschen, die von Armut betroffen sind und gleichzeitig hohe gesellschaftliche Erwartungen an Leistung und Qualifikationen erleben, wächst der Druck auf Jugendliche, die diesen Diskrepanzen nicht einmal durch Ehrgeiz oder Fleiß entgehen können (vgl. Heinzelmann 2006, S.11). Zusätzlich ist zu erwarten, dass drohende Arbeitslosigkeit, eingeschränkte Bildungschancen und schlechte Wohnverhältnisse sich weiterhin negativ auf die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten Heranwachsender auswirken werden (vgl. www.shell.com 22.09.06, S.1).

Die Shell-Jugendstudie basiert auf der Befragung von über 2500 Jugendlichen und befasst sich detailliert mit den Perspektiven, den Werten und Befindlichkeiten der 15 bis 25-Jährigen. Die Ergebnisse der Studie stellen deutlich heraus, dass sich die Jugend im Jahr 2006 nach Harmonie, Geborgenheit, Sicherheit, Bildung und Erfolg sehnt und zugleich tief verunsichert ist, ob sich die Wünsche überhaupt erfüllen lassen. Zwei Drittel der jungen Menschen fürchten sich vor Armut und sozialem Abstieg. Mehr als zwei Drittel befürchten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder keine Beschäftigung zu finden. Das Erwachsenwerden sehen die Heranwachsenden nicht nur als wilde Zeit, sondern vielmehr als Risiko und befürchten, an den zukünftigen Herausforderungen zu scheitern. Die Zuversicht hat sich im Vergleich zur vorangegangenen Shell Jugendstudie 2002 verdüstert und in weiten Teilen der Jugend wächst die Unruhe (vgl. Heinzelmann 2006, S.11).

Besondere Bedeutung für die vorliegende Arbeit erzielen die Befunde zu der wachsenden Gruppe von Jugendlichen mit psychischen und sozialen Problemen.

In einem Interview mit der „ZEIT“ berichtet Hurrelmann: „Gut zehn Prozent der Jugendlichen verlassen die Hauptschule gar ohne Abschluss, neun Prozent haben ein schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern; Fehlernährung, Nikotinkonsum, mangelnde körperliche Bewegung und eine extrem schädliche Mediennutzung kumulieren in dieser Gruppe“ (Gaschke 2006, S.9). Der hohe Druck führt zu vermehrten gesundheitlichen Problemen, erklärt Hurrelmann: „Mädchen reagieren darauf mit depressiven Verstimmungen und psychosomatischen Störungen, Jungen versuchen den Druck aggressiv nach außen loszuwer-den“ (Gaschke 2006, S.9). Hurrelmann weist darauf hin, dass es etwa 15 Prozent überforderte Elternhäuser gibt. Er zählt darunter nicht nur bildungs- oder sozialschwache Haushalte, sondern ebenso Familien, die die „notwendige Mischung aus liebevoller Zuwendung und notwendiger Distanz“ nicht aufbringen (Kahlweit 2006, S.2). Dennoch sieht er eine Überforderung im engen Zusammenhang mit mangelnder Bildung und materieller Armut und erklärt: „Armut macht die Menschen unsouverän, Väter verlieren ihre Rolle, Mütter ihre Gelassenheit, es entsteht eine Atmosphäre der Haltlosigkeit, oft kommen Alkoholprobleme hinzu, und die Kinder wachsen an der Grenze der Verwahrlosung auf“ (Gaschke 2006, S.9). Natürlich gibt es Jugendliche, die sich auf wundersame Weise selbst auch aus den schwierigsten Verhältnissen retten, „aber auf 10 bis 15 Prozent müsse man die Zahl der schwer belasteten jungen Leute – darunter deutlich mehr Jungen als Mädchen – durchaus schätzen, Tendenz steigend“ (Gaschke 2006, S.9). Angesichts der relativ schlechten Wirtschaftslage weist Hurrelmann darauf hin, dass ökonomisch schwache Eltern mitunter problematische Erzieher sind (vgl. Gaschke 2006, S.9) und dass die soziale Herkunft wesentlich über Verhaltensweisen und Einstellungen der Jugendlichen entscheidet. ‚Ein benachteiligtes Elternhaus produziert benachteiligte Kinder‘, zitieren die Westfälischen Nachrichten Hurrelmann (Averdunk 2006, S.4).

Traditionellerweise haben in wissenschaftlichen Studien vor allem die weniger erfolgreichen Entwicklungen von Kindern Aufmerksamkeit erfahren. Dies erklärt sich wohl durch die zunehmenden Belastungen, denen Kinder in der heutigen Zeit ausgesetzt sind. So gingen bisher Wissenschaft und Politik demnach eher der Fragestellung nach, mit welchen Mitteln und Fördermaßnahmen Beeinträchtigungen und Defizite reduziert oder verhindert werden können. Diese Risikoperspektive ist zunächst mit der Erwartung negativer Konsequenzen für die Entwicklung der Kinder verknüpft. Seit einigen Jahren zeichnet sich jedoch ein Perspektivenwechsel ab. Dies zeigt sich z. B. in Thesen von Prof. Dr. Dr. Dr. Wassilios E. Fthenakis am Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP) in...

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