Wahrnehmung, Wahrnehmungsstörungen und Wahrnehmungsförderung im Grundschulalter

Wahrnehmung, Wahrnehmungsstörungen und Wahrnehmungsförderung im Grundschulalter

von: Tassilo Knauf, Petra Kormann, Sandra Hientzsch

Kohlhammer Verlag, 2006

ISBN: 9783170276901

Sprache: Deutsch

104 Seiten, Download: 10066 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Wahrnehmung, Wahrnehmungsstörungen und Wahrnehmungsförderung im Grundschulalter



3 Sinnessysteme und ihre Funktionsstörungen


In dem nun folgenden Kapitel werden die einzelnen Sinnessysteme und ihre Funktionen sowie Störungen dieser Funktionen geschildert.

3.1 Die Unterteilung des sensorischen Systems


Es ist immer der ganze Mensch, der wahrnimmt und nicht nur ein Teil von ihm.

Grundsätzlich sind die verschiedenen Sinnessysteme nicht voneinander zu trennen. Die Sinnesorgane arbeiten zusammen. Informationen aus der Umwelt gewinnen wir meistens gleichzeitig über mehrere Sinneskanäle (vgl. Zimmer 1995, S. 58). Es ist immer der ganze Mensch, der wahrnimmt, und nicht nur das Ohr, das hört, oder die Nase, die Gerüche wahrnimmt.

In der Literatur gibt es keine Einigkeit darüber, wie das sensorische System unterteilt wird. Wir haben uns für eine Unterteilung von Nah- und Fernsinnen entschieden und erläutern anhand dieser Differenzierung im Folgenden die verschiedenen Funktionsweisen der Sinnessysteme sowie ihre Funktionsstörungen.

Zunächst wird jedes System im Einzelnen dargestellt. Oft stellt man jedoch fest, dass eine Funktionsstörung nicht nur in einem System vorliegt, sondern dass sie auf andere Systeme übergreift. Daher folgt im Anschluss ein Kapitel, das die Wechselwirkungen der funktionsgestörten Systeme beschreibt.

3.1.1 Nahsinne


Nahsinne → Tast-, Gleichgewichts-, Bewegungs- und Geschmackssinn

Die Nahsinne, auch Körpersinne genannt, sind die Sinne, bei denen die Reizquelle einen unmittelbaren Kontakt zum Körper hat. Dazu zählen der Tast-, Gleichgewichts- und Bewegungssinn sowie der Geschmackssinn. Auf Störungen, die den Geschmackssinn betreffen, soll hier nicht näher eingegangen werden, da diese keine gravierenden Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung oder die kognitiven Leistungen eines Kindes haben.

Nahsinne arbeiten überwiegend unbewusst, ihre Reize werden vor allem im Hirnstamm verarbeitet.

Die taktile Wahrnehmung (Tast- und Berührungssinn)

Taktile Wahrnehmung → „Mutter der Sinne“

Zimmer bezeichnet die taktile Wahrnehmung als „die Mutter der Sinne“ (Zimmer 1995, S. 106). Der Grund für diese Bezeichnung leuchtet schnell ein; das Kind lernt über den Tastsinn, „den Berührungen entsprechende Bedeutung zu geben: Zärtlichkeit, emotionales Wohlbefinden, Wärme und Trost“ (Barth 1997, S. 66). Dieses System hat eine wichtige soziale und emotionale Funktion.

Unsere Sprache beschreibt mit Redewendungen wie „Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut“ als Ausdruck psychischen Unbehagens die unmittelbare Beziehung zwischen der Haut und den Gefühlen.

Die Haut ist das größte sensorische Organ. Auf ihr befinden sich Rezeptoren, die auf Druck, Berührung, Zug, Vibration und Temperatur reagieren. Durch die Berührung werden Impulse ausgelöst, die in Nervenbahnen über das Rückenmark zum Hirnstamm geleitet werden.

An den Handtellern und Fingerkuppen, Lippen und Fußsohlen ist die Anzahl der Rezeptoren besonders hoch.

Die Dichte der Rezeptoren liegt zwischen 7 und 135 pro Quadratzentimeter. Das bedeutet, dass sie sehr unterschiedlich verteilt sind. An den Handtellern und Fingerkuppen, Lippen und Fußsohlen ist die Anzahl der Rezeptoren sehr hoch, am Rücken ist sie besonders niedrig (vgl. Zimmer 1995, S. 99f.). Durch die niedrige Zahl der Rezeptoren am Rücken fällt es z. B. manchmal schwer, Buchstaben, die uns jemand auf den Rücken zeichnet, zu entschlüsseln.

Durch taktile Eindrücke kann ein genaues Bild über die Ausdehnung und Grenzen eines Körpers entwickelt werden. Das Kind erhält Informationen über die Oberflächenbeschaffenheit, Konsistenz, Proportion, Maße und geometrische Form eines Gegenstandes.

Der Tastsinn spielt eine wichtige Rolle bei der Fähigkeit zur Formwahrnehmung und -unterscheidung.

Der Tastsinn spielt daher eine wichtige Rolle bei der Fähigkeit zur Formwahrnehmung und -unterscheidung (vgl. Barth 1997, S. 65f.). Im Alter von drei bis vier Jahren können Kinder ihnen vertraute Gegenstände wie Bälle durch Tasten wiedererkennen. Mit fünf bis sechs Jahren sollten sie bereits abstraktere Formen wie Dreiecke erkennen können, wenn diese z. B. in die Handfläche gezeichnet werden.

Besonders kleine Kinder wollen alles mit ihren Händen berühren. Auch Erwachsene haben oft den Wusch nach einer Bestätigung durch Berührung. Weist ein Schild auf eine frisch gestrichene Fläche hin, verspüren wir oft den Wunsch, mit dem Finger nachzuprüfen, ob die Farbe wirklich noch nicht trocken ist (vgl. Zimmer 1995, S. 98).

Dieses geschieht meistens unbewusst. Der visuelle Eindruck überdeckt den taktilen. Richtig bewusst wird uns dieser erst, wenn wir den visuellen Sinn ausschalten, indem wir z. B. die Augen schließen.

Beim taktilen System unterscheidet man zwischen dem protopathischen und dem epikritischen System.

Bei dem taktilen System wird weiter zwischen dem protopathischen (schützenden) und dem epikritischen (beurteilenden) System unterschieden (vgl. Saetre 1995, S. 33f.).

Das protopathische System ist anthropologisch älter und dient dem Schutz des Menschen. Wenn wir manche Berührungen protopathisch nicht genau lokalisieren können, werden automatisch unterschiedliche Schutzreaktionen, wie Zurückziehen, Abwehr, Flucht oder Angriff, ausgelöst. Diese Abwehrreaktionen werden beispielsweise aktiviert, wenn unsere Haut leicht mit einer Feder berührt wird oder aber die Hand mit einem heißen Ceranfeld in Berührung kommt.

Mit dem epikritischen System hingegen wird die qualitative Beurteilung eines Reizes und somit das Begreifen der Umwelt durch Ertasten ermöglicht. Bereits in der achten Schwangerschaftswoche beginnt das taktile System sich zu entwickeln. Von allen Sinnessystemen ist dieses als erstes ausgereift. Mit etwa zweieinhalb Jahren hat ein Kind ein vollständig ausgeprägtes taktiles System (vgl. Barth 1997, S. 65).

Die gute Verarbeitung taktiler Sinneseindrücke ist die Voraussetzung dafür, dass Kinder Körperkontakt als angenehm empfinden. Dadurch werden sie befähigt, Sicherheit und Geborgenheit zu empfinden.

Das emotionale Empfinden ist von großer Bedeutung für die Entwicklung der Lernfähigkeit.

Das emotionale Empfinden ist u. a. von großer Bedeutung für die Entwicklung der Lernfähigkeit. Ist das emotionale Empfinden eines Kindes gestört, kann es kein Vertrauen aufbauen. Es fühlt sich unwohl. Ohne das Vertrauen zu Bezugspersonen in Familie und Schule fällt das Lernen schwerer. Es kann in den wenigsten Fällen dem Lernprozess seine volle Aufmerksamkeit schenken.

Störungen der taktilen Wahrnehmung

Fallbeispiel:

Nico ist bei den anderen Kindern in der Klasse nicht sehr beliebt. Auf dem Schulhof wird er schnell aggressiv, wenn andere ihn berühren oder er in einer Reihe stehen muss. Meistens steht er allein am Rande des Pausenhofs herum. In der Klasse kann Nico nicht lange ruhig auf seinem Stuhl sitzen. Jede Kleinigkeit scheint ihn abzulenken. Häufig zieht und zupft er an seiner Kleidung herum und steht oft einfach auf. Nicos Lehrerin ist mit seinem Verhalten nicht einverstanden und experimentiert mit verschiedenen Strategien, um Nico zur Ruhe zu bringen und um ihn in den Unterrichtsprozess zu integrieren.

Bei einer Störung im taktilen System hat das Kind Schwierigkeiten, Sinneseindrücke, die über die Haut ins Gehirn gelangen, angemessen zu verarbeiten.

Taktile Abwehr → Vermeidung von Körperkontakt

Barth vermutet bei solchen Störungen entweder die Überempfindlichkeit oder die Unterempfindlichkeit des taktilen Systems (vgl. ebd., 66f.). Die Überempfindlichkeit wurde erstmalig von Ayres als „taktile Abwehr“ beschrieben (vgl. Ayres 1998, S. 187). Taktile Reize werden bei einer Überempfindlichkeit im Gehirn nicht genügend gehemmt und werden zu stark wahrgenommen. Der Berührungsreiz wird von den Kindern folglich als unangenehm, schmerzhaft oder nicht genau lokalisierbar empfunden (vgl. Barth 1997, S. 66f.).

Abb. 6: Kinder mit Störungen der taktilen Wahrnehmung fühlen sich oft nicht wohl in ihrer Haut

Die Folge ist die von Ayres bezeichnete taktile Abwehr, eine Vermeidung von Körperkontakt. Das Kind lehnt Berührungen ab, weil es sie nicht gut aushalten kann. Außerdem vermeiden taktil überempfindliche Kinder oft die Berührung mit bestimmten Materialien, greifen z. B. nicht gerne mit den Fingern in Sand, Fingerfarbe oder Kleister und gehen nur ungern barfuß über Sand oder Gras. Besonders unangenehm ist es für sie im Gesicht und am Kopf berührt zu werden. Dies führt zu Problemen beim Waschen, Zähne putzen oder Haare schneiden. Ihre Haut reagiert auf Druck besonders empfindlich, schon bei leichtem Druck entstehen Rötungen (vgl. Ayres 1998, S. 187ff.).

Durch die ständige Zurückweisung bei Berührungen fühlen sich die Menschen im Umfeld der betroffenen Kinder häufig vor den Kopf gestoßen. Auch im Spiel können die Berührungsängste zu Problemen führen. Aus Angst vermeidet das Kind bestimmte Spiele (z. B. Fangen) und wird schnell unbeliebt und zum Außenseiter.

Bei zu engem Körperkontakt kann es zu scheinbar „unbegründeten“ Schrei- und Wutanfällen kommen.

Manchmal kommt es zu scheinbar „unbegründeten“ Schrei- und Wutanfällen, besonders in Situationen, in denen das Kind zu engem Körperkontakt gezwungen wird (z. B. in einem vollen Fahrstuhl). Diese Reaktionen können als eine...

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