Ausgeflogen

Ausgeflogen

von: Jochen Till

Ravensburger Buchverlag, 2015

ISBN: 9783473476947

Sprache: Deutsch

160 Seiten, Download: 377 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ausgeflogen



 

Und, siehst du ihn irgendwo?«, fragt Buffy und schaut sich um.

»Nein«, antworte ich. »Vielleicht ist er ja gar nicht ausgestiegen. Aber da drüben ist Furunkel. Zumindest scheinen wir hier richtig zu sein.«

»Sag ich doch die ganze Zeit. An der Hauptwache in die U6.«

»Ich dachte echt, wir müssten erst an der Konstabler in die U-Bahn.«

»Das geht auch, glaube ich. Aber hier weiß ich es eben genau.«

»Komm, lass uns noch weiter nach vorne gehen, da ist es nicht so voll.«

»Ja, guter Vorschlag. Du stehst wohl auch nicht so auf Menschenmassen?«

»Geht so.«

Zumindest stehe ich nicht auf Menschenmassen in U-Bahnhöfen. Ich weiß auch nicht genau warum, aber irgendwie fühle ich mich immer ein bisschen unbehaglich in U-Bahnhöfen. Wobei es eigentlich keinen Unterschied macht, ob sich dort nun sehr viele Menschen aufhalten oder ganz wenige, beides ist mir nicht unbedingt geheuer. Ich meine, mir ist nie irgendetwas passiert, es gibt also keinen direkten Anlass für meine Beklommenheit. Trotzdem kriecht es mir jedes Mal kalt den Nacken hinauf und krallt sich in meinem Hinterkopf fest. Wahrscheinlich geht einfach nur meine Film-Fantasie mit mir durch, wenn ich mich in einem U-Bahnhof befinde. In Filmen passiert dort so gut wie nie etwas Gutes. Mord und Totschlag, brutale Verfolgungsjagden, Terroranschläge, außerirdische Monster, all das habe ich in U-Bahnhöfen schon gesehen, wenn auch nur auf der Leinwand oder im Fernsehen, aber irgendwie hat sich dieses Negativ-Image in meinem Kopf festgesetzt und auf die Realität übertragen. Der Typ da rechts von mir zum Beispiel. Jeans, Parka, nicht mehr ganz so frische Pumas, nicht mehr ganz so viele Haare, sieht stinknormal aus. Aber ich wäre nicht im Geringsten überrascht, wenn sich plötzlich sein Kopf spalten und sein Körper in zwei Hälften teilen würde, um ein dreiköpfiges Alien-Monster mit sechs Fangarmen zum Vorschein zu bringen, das den kleinen quengelnden Schreihals neben sich samt genervter Mutter mit einem Happs als Appetizer verschlingt und sich dann an den Rest der Menschheit macht. Okay, die Wahrscheinlichkeit dafür ist sehr, sehr gering, aber man muss immer mit allem rechnen. Oder die Frau, die schräg hinter uns an der Wand sitzt. Kopftuch, dunkle Haut, Elfter-September-Paranoia. Ich will das nicht denken. Ich will keine Angst vor dieser Frau haben, nur weil sie arabisch aussieht. Aber wenn sie jetzt aufsteht, in Richtung Ausgang geht und die braune Tasche zwischen ihren Beinen unter dem Sitz zurücklässt, bin ich der Erste, der hier so schnell wie möglich verschwindet und das Bombenräumkommando alarmiert. Wie gesagt, ich will nicht so denken. Wahrscheinlich ist diese Frau eine supernette und hat in ihrem Leben keine Fliege auch nur böse angeguckt. Sie war gerade einkaufen und ist jetzt auf dem Heimweg zu ihren zwei Söhnen, von denen einer später vielleicht mal den Medizin-Nobelpreis für die komplette Ausrottung des Aids-Virus bekommt. Und ich habe Angst vor ihr. Das sollte nicht so sein. Aber genau so ist es leider.

»Oh, Scheiße!« Buffy zupft mich am Ärmel. »Dahinten ist er!«

»Wer?«

Ein Alien? Arnold Schwarzenegger? Ein Zombie?

»Na, Bönicke!«

Ach so, der. Keine akute Bedrohung, aber schlimm genug.

»Bönicke? Wo?«

»Da drüben. Nicht hingucken, sonst … Shit! Ich glaube, er hat uns entdeckt!«

»Wo denn? Ich seh ihn nicht.«

»Da, links! Er kommt direkt auf uns zu, verdammt!«

»Echt? Wo denn? Ich kann ihn immer noch nicht …«

»Mein Hexchen! Hab ich doch richtig gesehen. Na, das ist aber eine Überraschung! Was machst du denn hier? Mal wieder am Schwänzen? Auch keinen Bock auf diesen Scheißausflug, was?«

Okay, jetzt sehe ich ihn, ganz deutlich sogar. Er hat mich einfach beiseitegeschoben und meinen Platz neben Buffy eingenommen.

»Ich bin nicht dein Hexchen«, knurrt Buffy. »Das hab ich dir schon tausendmal gesagt, Stefan. Und jetzt verzieh dich.«

»Oh, mein Hexchen hat schlechte Laune. Aber das lässt sich ganz schnell ändern. Was wollen wir machen? Ha, ich weiß was! Wie wär’s, wenn ich dich zum Frühstück einlade? Ja, komm, das machen wir!«

»Wir machen schon mal gar nichts!« Buffy verdreht die Augen und zieht mich am Ärmel zu sich heran. »Ich fahre jetzt mit … Sorry, wie heißt du eigentlich?«

»Moritz«, antworte ich leise.

»Genau, Moritz«, nickt sie. »Ich fahre jetzt mit Moritz in den Zoo zu den anderen.«

»Was denn? Dieses Hemd gehört zu dir?« Bönicke streift mich kurz mit einem verächtlichen Blick. »Jetzt sag bloß nicht, du hast was mit dem.«

»Mit wem ich was habe oder nicht, geht dich mal null was an«, sagt Buffy und zieht mich noch ein Stück näher an sich heran.

Na, vielen Dank auch. Wenn sie ihm jetzt vormacht, dass zwischen uns etwas läuft, bin ich geliefert. Bönicke ist mit Sicherheit nicht der Typ, der mit Konkurrenz umgehen kann.

»Moment mal«, sagt Bönicke und sieht mich prüfend an. »Diesen Hosenscheißer kenne ich doch irgendwoher. Bist du etwa auch bei uns an der Schule?«

Nein, bin ich nicht. Ich bin auf überhaupt keiner Schule. Ich wurde schon bei meiner Geburt von der Schule befreit, für immer. Und wir haben uns noch nie im Leben gesehen, echt nicht.

»Klar ist er bei uns an der Schule«, sagt Buffy. »Sonst würde er ja wohl kaum mit in den Zoo fahren.«

So viel dazu. Jetzt stehe ich auf Bönickes Liste. Ob ich ihm gleich einen Euro in die Hand drücken soll?

»So, so.« Bönicke tritt ganz dicht an mich heran. »Wusste doch, dass ich die Fresse schon mal gesehen habe. Moritz, sagtest du?«

»Ja, Moritz«, nicke ich.

Verdammt, warum habe ich nicht irgendeinen anderen Namen genannt! Kevin zum Beispiel. Dann würde der jetzt auf der Liste stehen.

»Okay, dann pass mal auf, Moritz!« Er schnappt mich am Kragen und zieht mich ein Stück nach oben. »Da du auf unserer Schule bist, nehme ich an, du weißt, wer ich bin?«

Ich nicke wieder.

»Sehr gut. Also, Hosenscheißer, gut zuhören jetzt: Sollte ich irgendwie mitkriegen, dass du nicht nett zu meinem Hexchen bist, wenn du sie nicht gut behandelst oder hinter ihrem Rücken auch nur einen miesen Satz über sie loslässt, dann werden dir alle Geschichten, die du bis jetzt über mich gehört hast, so harmlos und friedlich vorkommen wie Weihnachten in Disneyland. Und …«

»Ey, lass den Scheiß!« Buffy packt ihn am Handgelenk. »Erstens kann ich bestens auf mich selbst aufpassen und zweitens ist Moritz völlig in Ordnung! Wieso musst du dich eigentlich immer so ekelhaft aufspielen? Glaubst du etwa, das imponiert mir, oder was?«

»Nein, Hexchen«, sagt Bönicke eindringlich, ohne die Augen von mir zu nehmen. »Ich stelle nur sicher, dass dir nichts passiert. Ich will dir nur helfen, okay?«

»Ich brauche deine Hilfe aber nicht, okay? Und jetzt lass ihn bitte los!«

»Sofort, Augenblick noch, Hexchen«, sagt er und hebt mich noch einmal ein Stück nach oben. »Ich hoffe, ich habe mich deutlich ausgedrückt, Hosenscheißer!«

»Absolut!«, nicke ich. »Klar und deutlich, kein Problem!«

Ich werde immer nett zu Buffy sein, für den Rest meines Lebens. Ich hatte zwar nie vor, nicht nett zu ihr zu sein, aber okay. Hoffentlich besteht er nicht noch darauf, dass ich sie heirate.

Er lässt mich endlich los.

»Braver Junge!«, sagt er, drängt sich zwischen Buffy und mich und legt uns jeweils einen Arm um die Schulter. »Und wenn ihr unbedingt darauf besteht, in den Scheißzoo zu fahren, dann komme ich eben mit! Hab eh nichts Besseres zu tun.«

Na prima, auch das noch. Buffy und ich werfen uns einen gequälten Blick zu.

Ich höre die U-Bahn kommen und schaue nach links. Die Scheinwerfer im Tunnel sind schon zu sehen. Die Leute treten von der Bahnsteigkante zurück, wir auch. Der erste Wagen erscheint im Licht des Bahnhofs. Ich kann den Fahrer sehen. Der Fahrer ist der Hauptgrund, warum ich möglichst immer ganz vorne einsteige. Der Fahrer ist irgendwie offiziell, der U-Bahn-Marshall quasi. Ich fühle mich dann ein bisschen sicherer. Wenn man weiter hinten ist, kriegt der Fahrer nicht mit, falls etwas … Ach du Scheiße! Was macht der denn da? Das kann doch nicht … Oh, Shit!

Die Bremsen der U-Bahn kreischen und quietschen. Zu spät. Entsetzte Schreie über den ganzen Bahnsteig. Fassungslos offene Münder. Ein Mann zückt wie in Trance sein Handy. Kinder mit Mütterhänden über den Augen. Niemand bewegt sich. Nur die Köpfe folgen dem ersten Wagen, der direkt vor uns zum Stehen kommt.

Nicht nach unten gucken. Bloß nicht nach unten gucken. Ich will das nicht sehen. Das ist kein Film. Das ist viel zu echt. Nicht nach unten gucken. Ich gucke geradeaus. Da ist der Fahrer. Bewegungslos, starr auf seinem Platz. Nicht nach unten gucken, Marshall. Tun Sie sich das nicht an.

Bönickes Arme lösen sich von Buffy und mir. Er tritt ein Stück nach vorne und beugt sich über die Bahnsteigkante.

»Der ist hin«, sagt er leise. »Krass.«

Einige andere Leute kommen langsam zu uns herüber und werfen ebenfalls einen Blick nach unten. Du nicht, Moritz. Du nicht.

»Ist das ein Arm da?«

Furunkel steht plötzlich ganz vorne und zeigt nach unten.

»Könnte auch ein Schienbein sein«, sagt Bönicke.

»Nein, dann wäre ja noch ein Fuß dran.«

»Wenn es ein Arm ist, wo ist dann die Hand?«

»Da drüben liegt eine, glaube ich.«

Und ich glaube, mir wird schlecht. Dabei heißt es doch immer, unsere Generation wäre durch die ganzen Gewaltfilme so...

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