Deutschland, gefühlte Heimat - Hier zu Hause und trotzdem fremd?!

Deutschland, gefühlte Heimat - Hier zu Hause und trotzdem fremd?!

von: Elke Reichart

dtv, 2015

ISBN: 9783423428033

Sprache: Deutsch

172 Seiten, Download: 3903 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Deutschland, gefühlte Heimat - Hier zu Hause und trotzdem fremd?!



Marla Kayacik


Heimat ist kein Ort,

Heimat ist ein Gefühl

HERBERT GRÖNEMEYER, MUSIKER

Mit ihrem Vater, dem Kino- und TV-Schauspieler und Regisseur Aykut Kayacik, und dessen Lebensgefährtin wohnt Marla in einer großen Altbau-Wohnung, dritter Stock, Hinterhof. Die Eltern sind geschieden, die Mutter lebt gleich gegenüber – Marla hat auch bei ihr ein Zimmer.

Charlottenburg ist hier sehr schön und sehr bunt: Bänke und Grünanlage um die Ecke, jede Menge Bars und Restaurants, Kinos und Kneipen drumherum. Gleich gegenüber die ägyptische Galerie, an der Ecke der türkische Obstladen, der chinesische Möbelhändler neben dem fernöstlichen Akupunkteur, schräg gegenüber die Filiale einer griechischen Bank, unten im Haus der italienische Pasta-Koch. Alt-Berliner Häuser mit imposanten Eingangstüren und internationalen Namen auf endlosen Klingelleisten.

An diesem Sommernachmittag scheinen die Probleme anderer Berliner Multikultibezirke wie Kreuzberg, Neukölln oder Wedding plötzlich weit weg. Neukölln zum Beispiel: Dort war 2006 die Rütlischule mit dem Hilferuf ihrer Rektorin in die bundesweiten Schlagzeilen geraten. An der Hauptschule, an der nur ein Fünftel der Schüler deutscher Herkunft ist, hatten sich die Gewalttaten gehäuft, man brauchte dringend Hilfe. Der Berliner »Tagesspiegel« schrieb damals besorgt: »Deutsche Kinder werden als Schweinefleisch-Fresser verspottet, versuchen, sich den Gewohnheiten der Mehrheit anzupassen, und sprechen bewusst auch gebrochenes Deutsch, um weniger aufzufallen.« Inzwischen ist dort Ruhe eingekehrt. Doch die Diskussionen um eine gelungene Integration der Berliner mit Migrationshintergrund, deren Anteil nahezu ein Viertel der Bevölkerung der Hauptstadt beträgt, halten an.

Marlas Zimmer zum Hof ist hell und offenbar gerade gründlich aufgeräumt. Stuckdecke, Holzboden, hohe Fenster mit Chiffongardinen, davor ein Notenständer, am Schrank eine Geige, im Regal CDs und DVDs, deutsche und türkische.

Marla, bist du Deutsche oder Türkin?

»In Deutschland bin ich Deutsch-Türkin, in der Türkei bin ich Deutsche. Ich bin in Berlin geboren, habe einen deutschen Pass, mein Vater ist aus der Türkei, aus einer Kleinstadt 80 Kilometer nordöstlich von Izmir. Er kam mit seinen Eltern nach Deutschland, als er sechs Jahre alt war. Nach dem Abitur fing er mit einem Architekturstudium an, dann bekam er die ersten Rollenangebote und wechselte zur Schauspielerei und zur Regie. In Izmir, das an der Ägäisküste liegt, haben wir noch Familie. Ich bin oft in der Türkei – oft und gern! Irgendwann hatte ich mir sogar mal überlegt, die türkische Staatsangehörigkeit anzunehmen – aber dann sagte man mir, ich müsse dafür die deutsche aufgeben. Das wollte ich nicht. Eigentlich ist ja Berlin meine Heimat.«

Warum wolltest du plötzlich nicht mehr Deutsche sein?

»Ach, es gab keinen besonderen Anlass … Mehr aus einer Stimmung heraus. In der Schule ändert sich momentan so viel, alte Freundschaften brechen auseinander – ich dachte plötzlich, ich hätte eine Alternative. Aber nun bin ich stolz, beides zu sein: Deutsche und Türkin. Und was das Beste ist: Man sieht es mir nicht an.«

Das stimmt, Marla sieht aus wie eine typische junge Berlinerin. Sie ist mittelgroß, hübsch, hat ausdrucksvolle Augen, dunkles Haar. Marla wirkt älter, als sie ist, was auch an ihrer klaren, sehr bestimmten Art des Sprechens liegt und an ihrer aufmerksamen Art des Zuhörens. Irgendwie wirkt sie immer ein wenig wie auf dem Sprung.

Marla: »Meine Freunde und Freundinnen in der Türkei sind alle älter als ich, 18 oder 19. Wir passen aber sehr gut zusammen – die Gleichaltrigen in der Türkei kommen mir fast noch wie Kinder vor. Sie werden ganz anders erzogen, sind nicht so selbstständig.«

Hast du auch türkische Freundinnen in Berlin?

»Eigentlich nicht. Keine engen Freundinnen zumindest. In meiner Klasse bin ich die einzige Türkin. Aber ich kenne zwei türkische Mädchen aus einer anderen Klasse, mit denen rede ich manchmal in der Pause. Meine beste Freundin ist aber auch keine Deutsche, sie ist Polin, wir verstehen uns super. Sie hat nach ihrer Ankunft in Deutschland eine Zeit in einem Asylantenheim gelebt, manchmal erzählt sie mir davon.«

Marlas Gymnasium liegt in Grunewald, einem der besten Berliner Wohnviertel. Auch an ihrer Schule gibt es viele Jugendliche mit Migrationshintergrund, allerdings sind hier mehr die Kinder aus reichen russischen als aus türkischen Familien vertreten.

Habt ihr damals von den Gewalttaten an der Rütlischule und den nachfolgenden Diskussionen etwas mitbekommen? Gab es Informationen von Seiten der Lehrer?

»Nein, kein bisschen … Wir haben erst später angefangen, über Jugendkriminalität und Fragen wie ›Was sind eigentlich Ausländer?‹ zu diskutieren. Nicht im Sozialkundeunterricht oder in Geschichte, sondern in Französisch. Wir sind auf das Thema gekommen, weil wir Frankreich und Deutschland verglichen haben – die Unruhen in den ›banlieues‹, den französischen Vorstädten, haben dan Anstoß gegeben. Nicht die Rütlischule.«

Hat es einen Grund, dass du keine deutschen Freundinnen hast? Wirst du abgelehnt, weil du türkischer Herkunft bist?

»Ach was, überhaupt nicht. Die meisten in der Klasse mögen mich – ich bin sogar zur Klassensprecherin gewählt worden! Und meine polnische Freundin ist ja auch keine typische Migrantin – ihre Familie hat deutsche Wurzeln.

Nein, mit Diskriminierungen hatte ich nie Probleme. Einmal, auf einer Klassenfahrt, ist ein jüdischer Junge aus meiner Klasse blöd angeredet worden von ein paar radikalen Typen – da habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie schlimm das sein kann. Ich habe sofort die Lehrerin informiert und wir haben uns alle an seine Seite gestellt und uns gemeinsam gewehrt. Aber selbst erlebt – nein. Im Gegenteil …« Marla lacht: »Also, ich spreche ja Türkisch, aber darauf kommt man ja nicht so ohne Weiteres, wenn man mich nicht kennt. In der S-Bahn standen mir ein paar türkische Jungs gegenüber und sprachen über mich: Dass ich so tolle Augen hätte, und einer sagte, er sei total in mich verliebt … Und auf ein Kommando hin drehten sich alle zu mir um und versuchten, mir in die Augen zu schauen und mich unsicher zu machen. Da konnte ich nicht mehr still sein und habe auf Türkisch was Freches gesagt. Die waren vielleicht verlegen!!! Bei der nächsten Haltestelle sind sie ganz schnell ausgestiegen.«

In Berlin gibt es eine große türkische Gemeinde, eine der größten überhaupt in Deutschland. Hast du gar keinen Kontakt dorthinzu den Jugendgruppen zum Beispiel? Gehst du nicht zu deren Treffpunkten?

»Nein. Für die Discos bin ich noch zu jung. Und in der Gemeinde kenne ich mich gar nicht aus. Aber mein Vater hat eine türkische Clique, mit der wir oft zusammen sind. Seine Freunde haben auch Kinder in meinem Alter, die ich dann automatisch immer wieder treffe.«

Bist du Muslima, Marla?

»Nein. Ich bin Atheistin, wie mein Vater. Nicht von Anfang an – in der ersten Klasse hatte ich zunächst evangelischen Religionsunterricht und war ganz gespannt, was ich dort wohl lernen würde. Aber wir haben nur gebastelt, stundenlang, wie schrecklich langweilig! Danach war für mich Schluss mit Religion und Anfang mit Ethik.«

Ist das kein Problem, wenn du in der Türkei mit deinen moslemischen Freundinnen und Freunden zusammen bist? »Na ja, es könnte ein Problem sein. Aber wir haben beschlossen, nicht darüber zu reden, wenn wir zusammen sind. Das ist ein Thema, bei dem es keine Übereinstimmung gibt, also lassen wir das.«

Was stört dich am Islam?

»So direkt kann ich die Frage nicht beantworten. Ich habe eher mit der Einstellung vieler Türkinnen Probleme, die sich von ihren eifersüchtigen Freunden vieles verbieten lassen. Es gibt einige Punkte, die in den türkischen Familien für wichtig gehalten werden, die ich aber einfach nicht verstehen kann. Aber vielleicht muss ich mich dafür noch genauer mit der Religion beschäftigen.«

Wie oft bist du in der Türkei?

»Immer in den Ferien. Es ist so schön dort, so entspannend und fröhlich … Die Schule ist weit weg, kein Stress … Und meine Omi ist sehr lieb. Sie hat eine Wohnung in Izmir, sehr altmodisch eingerichtet, aber gemütlich. Und dann gibt es noch eine Sommerwohnung am Strand, modern. Und dann noch ein ganz einfaches Haus mit Plumpsklo, in einem kleinen Dorf. Dort war ich oft als Kind, aber jetzt nicht mehr. Dort lebte der Vater meiner Omi, mein Urgroßvater. Seitdem er gestorben ist, finde ich es dort traurig.«

Wie verbringst du denn deine Tage in der Türkei?

»Wir machen alles Mögliche. Was man in den Ferien halt so macht. Wir sind vor allem viel am Strand.«

Kleidest du dich dort wie in Deutschland?

»Klar. Zum Strand gehen wir alle in Shorts. Und zum Einkaufen – eigentlich ziehe ich dort auch nichts anderes an als in Berlin. Manchmal sagen meine Verwandten zu mir: Marla, also wirklich, so kannst du jetzt nicht losgehen! Wegen eines T-Shirts oder so. Aber das kümmert mich nicht. Ärger habe ich deswegen noch nie bekommen.«

Und deine türkischen Freundinnen?

»Das ist ganz unterschiedlich. Die aus Istanbul kleiden sich ganz westlich und sind auch allem Neuen gegenüber sehr offen. In Istanbul habe ich zum Beispiel die kürzesten Schulröcke der Welt gesehen, ganz unglaublich!! Auf den Dörfern aber müssen die Schulröcke bis über das Knie gehen.«

Tragen deine Freundinnen in der Türkei...

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