Identität - Wie sie entsteht und warum der Mensch sie braucht

Identität - Wie sie entsteht und warum der Mensch sie braucht

von: Peter Bohley

Tectum-Wissenschaftsverlag, 2016

ISBN: 9783828863637

Sprache: Deutsch

130 Seiten, Download: 234 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Identität - Wie sie entsteht und warum der Mensch sie braucht



2

Identität als Ergebnis der Evolution

Der Mensch als Mängelwesen und andere Besonderheiten des Menschen –Selbstempfindung eigener Unvollkommenheit seitens des Menschen – Totemismus als kollektives Mittel der Überwindung von Unvollkommenheit – Befähigung des Menschen, zu sich selber Abstand zu nehmen – Exzentrische Positionalität als Unterscheidungskriterium von Mensch und Tier – Aus Instinkten hervorgegangene Identität – Das Geheimnis der Identität: Identität als Lebenshilfe – Erkennen menschlicher Sterblichkeit

Bevor auf wissenschaftliche Weise versucht wurde, dem Geheimnis menschlicher Identität auf die Spur zu kommen, haben neben Theologen vor allem Philosophen und Schriftsteller Antworten auf Fragen nach dem spezifisch Menschlichen gesucht. Es war naheliegend, diese Suche mit der Frage nach dem Unterschied des Menschen vom Tier zu beginnen. Eine diesbezüglich klassisch gewordene Antwort stammt von dem Schriftsteller, Philosophen und Theologen Johann Gottfried Herder (1744–1803). Er hat den Menschen im Vergleich zum Tier als ein Mängelwesen bezeichnet. Als Mängel angesehen hat er nicht nur die organische Unspezialisiertheit des Menschen, d.h. seine fehlende Ausstattung mit körperlichen Organen für Angriffszwecke oder für die Jagd auf Beute, für die Flucht vor Feinden oder für den Schutz vor den überall lauernden Gefahren der Natur, sondern daneben auch seine zwar nicht völlig fehlende, jedoch reduzierte Instinktausstattung.2

Eine andere Möglichkeit für die Unterscheidung des Menschen vom Tier bestand darin, den Menschen als das einzige Lebewesen anzusehen, das in seiner Existenz nicht wie typischerweise das Tier auf ein bestimmtes Biotop als seinen Lebensraum fixiert beziehungsweise angewiesen ist. Das Fehlen der Fesselung an ein bestimmtes Biotop betrachteten viele Schriftsteller als das entscheidende Kriterium zur Unterscheidung von Mensch und Tier. Die Befreiung des Menschen von der Bindung an ein bestimmtes Biotop wurde als die „Weltoffenheit“ des Menschen bezeichnet: Diese bedeute neben Nichtabhängigkeit von einem bestimmten Biotop Lebensfähigkeit überall auf der Erde, am Pol und unter dem Äquator, auf dem Wasser und auf dem Lande, in Wald, Sumpf, Gebirge und Steppe. Der Mensch sei dort lebensfähig, wo er eine für ihn geeignete Umwelt finden könne oder wo er eine vorgefundene Umwelt für seine Zwecke umgestalten könne.

Von Friedrich Nietzsche (1844–1900) schließlich stammte die Formel vom Menschen als dem noch nicht festgestellten, also gewissermaßen noch unfertigen Tier, d.h. „nicht auf einen bestimmten Vollzug seines Lebens festgelegten Wesen“3. Daher gehöre für den Menschen Selbstzucht und Züchtung für sein „In Form kommen“ und „in Form bleiben“ zu seinen Existenzbedingungen.4

Als dann versucht wurde, dem Spezifischen der menschlichen Natur mit wissenschaftlichen Methoden auf die Spur zu kommen, nahm man die Stammesgeschichte des Menschen ins Visier. Diese nahm ihren Anfang vor mehreren Millionen Jahren, als Menschen und Menschenaffen sich aus ihrem gemeinsamen Vorfahren herauszuentwickeln begannen. Durch Ausgrabungen, aus der Analyse von Knochenfunden und durch Entschlüsselung des Erbguts hat man inzwischen zwar einiges über die geographische Herkunft des Menschen und über die Wege seiner Ausbreitung auf verschiedene Kontinente herausgefunden, doch bleibt unser heutiges Wissen im Wesentlichen immer noch auf die Gewissheit beschränkt, dass der Mensch tierische Vorläufer gehabt haben muss. Alles, was wir über die einzelnen Entwicklungsstadien im Lauf der Evolution zu wissen glauben, müssen wir aus plausiblen Annahmen ableiten, wie sie sich aus naturwissenschaftlichen Beobachtungen biologischer Prozesse ergeben. Die von Charles Robert Darwin (1809–1882) beschriebene Entstehung der Arten kann bei der Evolution des menschlichen Lebewesens im Prinzip nicht viel anders abgelaufen sein als in allen anderen Fällen. Nur was unter den jeweils herrschenden Umweltbedingungen für das Überleben einer Art von Vorteil war, hatte Bestand.

Man kann sich die Entstehung der organischen Konstitution des Menschen etwa folgendermaßen vorstellen: Das vormenschliche Lebewesen, aus dem sich im Verlauf der Evolution die Organe des Menschen entwickelten, konnte vielleicht ein körperlich kleiner Höhlenbewohner gewesen sein, vielleicht ein zwergenhaftes Lebewesen, das sich in schützende Räume zurückziehen konnte. Vielleicht haben die vormenschlichen Lebewesen auf einer von gefährlichen Feinden freien Insel gelebt und sich dort für ein solches Biotop spezialisieren können, so wie wir es z.B. im Fall Madagaskar für eine Reihe von Tierarten kennen. Die Organe des sich zum Menschen entwickelnden Lebewesens konnten im Hinblick auf Angriff daher unspezialisiert bleiben, weil sie für diese Zwecke nicht benötigt wurden. Es entwickelten sich keine Angriffs- oder Verteidigungsorgane, wie Hörner oder Hufe oder ein vorgeschobenes Gebiss mit zu Reißzähnen ausgebildeten Eckzähnen.

Vielleicht haben Veränderungen seines ursprünglichen, Schutz bietenden Biotops beim Vorläuferlebewesen des Menschen irgendwann einmal seinen aufrechten Gang entstehen lassen, weil das vorteilhaft war für eine bessere Übersicht über das Gelände mit den dort befindlichen Feinden und weil es aus vielerlei Gründen nützlich war, nicht alle vier Extremitäten für die Fortbewegung einsetzen zu müssen, sondern zwei davon für das Tragen von Lasten zur Verfügung zu haben. Auch die extrem lange Phase von der Geburt bis zum Erwachsensein, d.h. die Langsamkeit des Wachstums bis zur Geschlechtsreife (die sog. Retardation), muss sich irgendwann einmal entwickelt haben, weil dies nützlich war. Andere menschliche Eigenschaften, wie z.B. die Stellung der menschlichen Hand, haben sich aus Organen, die sein Vorläuferlebewesen besessen hat, weiterentwickelt, um den Menschen zur Herstellung von rudimentären Werkzeugen oder von einfacher Kleidung zu befähigen.

Man kann davon ausgehen, dass die sich zum Menschen entwickelnden Lebewesen von dem Lebewesen, aus dem sie hervorgegangen sind, die instinktgebundene Lebensform des Gruppendaseins übernommen haben. Stets von mächtigen Tieren bedroht, dürften diese organisch eher wehrlosen Lebewesen wohl nur als Klan, Sippe oder eben im Verband einer Horde überlebensfähig gewesen sein. Dieses existentielle Bedrohtsein dürfte während einer langen Periode eine die Lebensform des (frühmenschlichen) Kollektivs bestimmende Tatsache gewesen sein.

In seinem Hauptwerk „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt“ hat der Anthropologe, Soziologe und Philosoph Arnold Gehlen (1904–1976) unterstellt, dass die Menschen stets unter einem starken Formierungsdruck gestanden haben, hervorgerufen durch ihre von ihnen als schwach empfundene organische Konstitution. Der Mensch sei nicht nur objektiv gesehen ein riskiertes Lebewesen, er habe auch ein Gefühl seiner Riskiertheit als einer Belastung gehabt. Daher unterstellt Gehlen ein menschliches Bedürfnis des sich Identifizierens mit einem „Mehr an Formhöhe“, mit „höherer Qualität oder Quantität“, was auch immer im Einzelnen darunter verstanden werden kann. Im scheinbar „vollkommenen“ Tier (im Bären, im Adler, im Löwen, im Stier etc.) habe der Mensch mit Bewunderung ein solches Mehr an Formhöhe wahrgenommen und durch Identifizierung mit diesem sein Bedürfnis nach Schutz befriedigt. Nietzsche habe, so glaubte Gehlen, ahnungsvoll dieses daraus abgeleitete menschliche Bedürfnis mit seinen Formeln vom „Übermenschen“ oder vom „Willen zur Macht“ zum Ausdruck bringen wollen, wenn er auch missverständlich von Züchtung des Menschen sprach. Durch eine Art magischer Anverwandlung an Tiervorbilder haben die Menschen versucht, sich Macht über die Natur zu verschaffen. Im Totemismus haben in allen Kulturen die Menschen eine solche Phase des sich kollektiv Anverwandelns im Tanz oder in der Trance durchlaufen.5

Irgendwann einmal musste aber die menschliche Eigenschaft entstanden sein, zu sich selbst Abstand nehmen und sich selbst als Individuum erkennen zu können. Vor allem dem Mitbegründer der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessner (1892–1985) verdanken wir diese Einsicht.6 Plessner hat in seinem Hauptwerk „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ die Fähigkeit zur Einnahme eines „außer sich“ liegenden Standpunkts als exzentrische Positionalität bezeichnet. Man kann diese Situation mit einem archimedischen Punkt vergleichen, von dem aus es einem Menschen ermöglicht wird, sein eigenes Selbst zwecks Besichtigung vor die eigenen inneren Augen zu rücken. Der Mensch konnte sich jetzt selber wie vom Standpunkt eines anderen betrachten. Er konnte den Film seines Lebens vor seinem inneren Auge vorbeiziehen lassen, konnte ihn an jeder beliebigen Stelle anhalten und – je nachdem, wie gut das Gedächtnis mitspielte – sich eine vergangene Szene wieder vor Augen führen. Er konnte sein eigenes Erleben erleben. Er konnte insbesondere auch erkennen, welcher Lebensraum für ihn in Betracht kam und welche Fähigkeiten er sich aneignen musste, um dort überleben zu können.

Der Mediziner Ernst Pöppel hat die von Helmut Plessner konstatierte menschliche Besonderheit der Selbstbeobachtung, d.h. die Fähigkeit des Menschen zur Einnahme eines exzentrischen...

Kategorien

Service

Info/Kontakt