Wenn Kinder anders fühlen - Identität im anderen Geschlecht - Ein Ratgeber für Eltern

Wenn Kinder anders fühlen - Identität im anderen Geschlecht - Ein Ratgeber für Eltern

von: Stephanie Brill, Rachel Pepper

ERNST REINHARDT VERLAG, 2016

ISBN: 9783497602612

Sprache: Deutsch

248 Seiten, Download: 2722 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Wenn Kinder anders fühlen - Identität im anderen Geschlecht - Ein Ratgeber für Eltern



Einführung

„Mama, ich habe es dir doch schon so oft gesagt, ich bin ein Mädchen, also hör auf, ER zu mir zu sagen!“

Alejandro hat es seinen Eltern zu sagen versucht, kaum dass er sprechen konnte, dass er eigentlich ein Mädchen ist. Er krabbelte in den Kleiderschrank seiner älteren Schwester, um ihre Kleider anzuziehen. Er wickelte seine Haare in ihre Schals und Tücher. Er war ständig mit Mamas Make-up geschminkt und trug ihre Schuhe. Mit drei Jahren weinte er sich regelmäßig in den Schlaf und fragte Gott, warum dieser einen Fehler gemacht hatte. Mit vier sprach er offen darüber, sich das Leben zu nehmen und davon, dass er nicht zu dieser Welt gehöre und lieber verschwinden wolle. Seine Eltern dachten ursprünglich, es handele sich um eine Phase, um etwas, dass jedes Kind in seiner Entwicklung irgendwann einmal durchmacht. Aber als die Phase nicht enden wollte, war die einzige Erklärung, die sie hatten, dass ihr Junge wahrscheinlich schwul sei. Ein Berater hatte damals vermutet, dass Alejandro möglicherweise transident sei.

Ninas Eltern brauchten einige Jahre um zu begreifen, dass Nina die Frage: „Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“, immer auf die gleiche Weise beantwortete. Sie sagte: „Ich bin Nina.“ Zuerst fanden alle die Antwort niedlich, aber als sie älter wurde, dachten alle, Nina würde sie an der Nase herumführen, weil sie die Frage nicht beantwortete. Des Weiteren waren ihre Eltern oft mit ihr böse, weil Nina ungezogen war. Nina versuchte immer wieder zu erklären, dass sie sich weder wie ein Mädchen noch wie ein Junge fühlte. Warum spielte das alles überhaupt eine Rolle – warum konnte sie nicht einfach sie selbst sein? Ihre Eltern gaben ihr mit Nachdruck zu verstehen, dass sie ein Mädchen sei, in der Annahme, dieses Verhalten würde die Angelegenheit erledigen. Für Nina war das alles leider nicht leicht zu ertragen. Jedes Mal, wenn sie eine Geschlechtsrolle wählen musste, z. B. wenn sie sich in der Klasse zu den Mädchen oder zu den Jungen aufstellen sollte, empfand sie Beklommenheit, und es fiel ihr schwer, den Anweisungen zu folgen. Schließlich hat eine einfühlsame Lehrerin die Zusammenhänge erkannt, als Nina begann, sich in die Hose zu machen und vor dem Aufstellen in der Garderobe stehen blieb. Ein Kinderpsychiater kam dann auf die Idee, dass Nina sich möglicherweise geschlechtsunspezifisch oder mehrgeschlechtlich oder geschlechtsvariant fühlte.

Was sagen uns diese Berichte? Im Laufe der Menschheitsgeschichte gab es immer wieder Kinder, die die traditionellen Geschlechterdefinitionen abgelehnt haben. Aber elterliche Erziehung und gesellschaftliche Erwartungen haben immer dazu geführt, dass diese Kinder ihre Identität vor anderen und manchmal sogar vor sich selbst verstecken mussten.

Das Thema der Geschlechtsrolle gewinnt zunehmend an Bedeutung. In der Gegenwart ist es schwierig geworden, seinem Kind gegenüber zu rechtfertigen, was seine geschlechtliche Bestimmung ist oder nicht ist, denn der seelische Schaden wird offensichtlich, wenn die persönliche Identität des Kindes verleugnet wird. Mehr als je zuvor verstehen wir heute, dass die Vorgaben, die die Gesellschaft der Geschlechtsrollenidentifikation auferlegt, in vielerlei Hinsicht willkürlich sind. Die Wissenschaft erforscht derzeit, was genau angeboren und was kulturell überformt, unterstützt oder erzwungen ist. Eltern sehen sich daher heute mit der aufregenden und zugleich beängstigenden Aufgabe konfrontiert, Kinder in einer Welt großzuziehen, die das Verständnis der Geschlechtsrollenidentifikation erweitert.

Heutzutage kann die Darstellung der Geschlechtsrollen nicht länger als eine Kategorie mit zwei Optionen betrachtet werden. Diese Denkweise ist unzeitgemäß. Sie kann mit der Ansicht verglichen werden, die Welt bestehe aus klar voneinander unterschiedenen rassischen Kategorien, ohne zu erkennen, dass ein ständig wachsender Prozentsatz der Bevölkerung in wunderbarer Weise multi-ethnisch ist. Mit der Geschlechtsrollenidentifikation ist es sehr ähnlich. Den meisten von uns wurde beigebracht – und die meisten halten noch immer an dieser Vorstellung fest –, dass es nur zwei deutlich voneinander unterschiedene Geschlechtskategorien gibt, nämlich männlich und weiblich. Aber in Wahrheit sind die meisten Menschen, wenn nicht sogar alle, eine Kombination von beiden.

Auf der anderen Seite: Kindern zu erlauben, ihrer natürlichen Neigung nachzugehen, kann für Eltern befremdend und beängstigend sein, wenn dies eine Abweichung von bisher verlässlichen und gewohnten Pfaden der Erziehung bedeutet. Wir als Forscher, Autoren und Eltern sind uns der Schwierigkeiten bewusst, denen sich Eltern gegenübergestellt sehen, wenn sie zum ersten Mal ein transidentes oder geschlechtsvariantes Kind verstehen und unterstützen wollen. Wir wissen natürlich auch, dass alle Eltern letztlich nur das Beste für ihre Kinder wollen. Wir hoffen, dieses Buch wird besorgten Familien nützliche Hilfen geben, ihren Kindern mit nicht konformer Geschlechtsidentität so zu begegnen, dass diese sich sowohl in ihrem Körper als auch in der Welt wohlfühlen.

Man muss die Augen offen halten und bereit sein zu lernen, um zu erkennen, dass Kinder und Heranwachsende nicht anders können, als uns vor Augen zu führen, dass Geschlechtsidentität in Wirklichkeit ein weites Spektrum von Phänomenen darstellt. Wenn wir zusehen könnten, wie sich Kinder auf natürliche Weise – bewusst oder unbewusst – ohne die gesellschaftlichen Verstärkungen in Geschlechtsrollen und -erwartungen entfalten, wir würden staunen. Viele Eigenschaften, die wir dem Männlichen oder Weiblichen zuschreiben, werden beigebracht und gelernt. Tatsächlich sind viele Aspekte der Geschlechtsidentität nicht angeboren, sondern gesellschaftlich bedingt. Viele Anhänger der Geschlechtsrollen-Position würden daher sagen, dass man sein Geschlecht im nächsten Textildiscounter kaufen kann.

Wie aber erziehen, unterstützen und begleiten besorgte Eltern ihre Kinder zu einer „gesunden Geschlechtsidentität“? Dies ist eine komplizierte und oft verwirrende Aufgabe. In diesem Buch stellen wir uns dieser Aufgabe, indem wir mit der Aufklärung über Geschlechtsidentität beginnen. Wir werden aufzeigen, was wir alle tun können, um Kinder in der Entwicklung ihrer gesunden Geschlechtsidentität zu fördern – in ihren Herzen und in ihrem Kopf, innerhalb ihrer Familien, in ihren Schulen und in ihren Altersgruppen. Wir können Begriffe wie Transidentität und Geschlechtsvarianz nicht verstehen, wenn wir nicht verstehen, was der Begriff Geschlechtsrolle bedeutet.

Zwei wichtige Schritte müssen getan werden, um geschlechtsvariante und transidente Kinder positiv zu unterstützen und zu erziehen. Der erste Schritt besteht darin, sich gründlich über den derzeitigen Wissensstand zum Thema Geschlechtsidentität und Geschlechtsrolle zu informieren. Der nächste Schritt besteht darin, sich von überkommenen Überzeugungen zu lösen, um das gesamte Spektrum dessen wahrzunehmen, was Geschlechtsidentität tatsächlich ist. Dieses Erlernen und Verlernen ist wichtig für alle Eltern, also nicht nur für Eltern geschlechtsvarianter oder transidenter Kinder. Die betroffenen Eltern erfahren dann, dass sie nicht allein sind.

Da wir seit Langem schon überzeugt sind, dass es höchste Zeit ist, ein Buch für Eltern mit geschlechtsvarianten und transidenten Kindern zu schreiben und zu publizieren, haben wir beschlossen, gemeinsam dieses Buch zu schreiben. Wir wissen, dass es Tausende von Familien gibt, die jeden Tag mit den gleichen Herausforderungen kämpfen. Für sie alle kann dieses Buch eine Art Rettungsinsel sein, auf der sie lernen können, nicht unterzugehen. Und für diejenigen, die schon sicherer sind in ihrem Erziehungshandeln, kann dieses Buch eine Bestätigung sein, dass Sie auf dem richtigen Weg sind. Insofern hoffen wir, neue Ideen und Perspektiven anzubieten.

Wir beginnen dieses Buch, indem wir den Weg beschreiben, den Eltern gehen müssen, um herauszufinden, ob Ihr Kind möglicherweise transident oder geschlechtsvariant ist. Dabei werden wir unsere Begriffe definieren, um Eltern zu befähigen, Probleme besser zu verstehen und angemessen diskutieren zu können. Dann werden wir der Frage nachgehen, wie man denn ein solches Kind erzieht und wie die Familie sich am besten mit der Umwelt auseinandersetzen kann. Wir geben detaillierte und aktuelle Informationen sowie Hinweise über bekannte Therapien, Hormone und Hormonbehandlungen. Ein Kapitel über rechtliche Aspekte, die vom National Center for Lesbian Rights (NCLR) legitimiert sind, schließt das Buch ab.

Unsere persönliche Legitimation ist auf drei Ebenen angesiedelt. Erstens beruht dieses Buch auf unserer langjährigen persönlichen Erfahrung mit Familien, die geschlechtsvariante und transidente Kinder und Heranwachsende haben. Wir beide haben auch immer wieder ausführlich über transidente Teenager und ihre Erfahrungen im College, über die Entwicklung der Geschlechtsidentität bei kleinen Kindern und im Allgemeinen über Schwangerschaft und Erziehungsangelegenheiten publiziert.

Zweitens beruht dieses Buch auf jahrelanger professioneller Forschung, die wir beide über Themen, wie z. B. die soziale Konstruktion des Geschlechts und den Einfluss von Familienleben und religiösen Praktiken auf die Gesundheit und das Wohlergehen von geschlechtsvarianten Kindern und Erwachsenen, durchgeführt haben. Einige Ergebnisse dieser Forschungen werden in diesem Buch in Form von Übersichten und Interviews vorgestellt, z. T. unter Verwendung von Zitaten einiger besonders engagierter Experten auf diesem Gebiet, wie z. B. den Aktivistinnen Jenn Burtleton und Lydia Sausa, den Therapeuten Reid Vanderburgh und Jana L....

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