Höhenflug abwärts - Ein Mädchen nimmt Drogen

Höhenflug abwärts - Ein Mädchen nimmt Drogen

von: Jana Frey

Loewe Verlag, 2016

ISBN: 9783732007417

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 815 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Höhenflug abwärts - Ein Mädchen nimmt Drogen



1

Damals fing es vielleicht an. Es war vorletzten Sommer nach den Sommerferien. Alles wurde anders. Erst um mich herum und dann in mir. Es passierten eine Menge Dinge gleichzeitig.

Ich kam in die neunte Klasse. Ich ging damals auf die Waldorfschule, in der mein Vater schon seit Jahren Oberstufenlehrer war. Seit der ersten Klasse war ich dort, eben wie es sein sollte. Unsere Klassenlehrerin zündete Tag für Tag zuerst eine schwere, behäbige Bienenwachskerze an, die in einem hölzernen Sternenkerzenständer stand, und danach ein Teelicht, das ein kleines Öllämpchen erwärmte, in das unsere Lehrerin Tag für Tag ein paar Tropfen Aromaöl tröpfelte. Meine ganze Schulzeit roch nach Rosen und Bergamotte, auch wenn mir das damals gar nicht besonders auffiel. Wahrscheinlich fällt einem nichts besonders auf, was ganz und gar normal ist.

Genauso wie die Sache mit der Klassensprecherwahl.

Seit der fünften Klasse wählten wir Sommer für Sommer zwei Klassensprecher. Und immer waren das Leon und ich gewesen. Leon spielt Klarinette und hat ein schönes Gesicht. Weil unsere Mütter Freundinnen sind, gingen wir schon zusammen in die Babykrabbelgruppe und in den Kindergarten. Zu meinem ganzen Leben gehörte Leon. Zu Laternenumzügen, Sommerferien in Holland und Schweden, zu Ausflügen und alltäglichen Nachmittagen, zu allem eben, was mein Leben ausmachte. Ich würde den Geruch von Leons Haut mit geschlossenen Augen unter hundert anderen Menschen heraus erkennen. Wenn ich an Leon denke, gehen tausend Erinnerungen durch meinen Kopf. Ich fühle seine Nähe, höre sein Lachen und sehe seine gerunzelte Stirn, wenn er Klarinette spielt.

„Du liebst ihn, das ist klar“, hat Franka einmal gesagt.

„Ich weiß nicht“, antwortete ich damals nachdenklich. „Er gehört zu meinem Leben, aber Liebe?“

Leon und ich haben uns ein einziges Mal richtig geküsst. Es war am Geburtstag seiner Mutter. Ich erinnere mich an den Abend, als wäre es gestern. Meine Mutter und seine Mutter saßen zusammen in der Küche am Tisch und wir hatten Tomaten mit Mozzarella und Ciabatta gegessen. Die Teller standen noch auf dem Tisch, dazwischen zwei leere Weißweinflaschen, eine Sherryflasche, eine Cola- und eine Fantaflasche, auch Leon mag Spezi, eine Mineralwasserflasche und ein paar Gläser. Es roch nach Basilikum und Balsamicoessig und Zigarettenrauch, denn Leons Mutter rauchte damals wie verrückt. Immer, wenn sie unglücklich verliebt war, rauchte sie wie verrückt, und immerzu war sie unglücklich verliebt.

Zwischen all den Flaschen und Gläsern und Tellern und einem überquellenden Aschenbecher stand eine ärgerlich beiseite geschobene viereckige Glasvase mit langstieligen Rosen, die ziemlich die roten Blütenköpfe hängen ließen. Sie waren ein Geschenk ihres damaligen Freundes, aber schon ein paar Tage alt. Heute, an ihrem Geburtstag, hatte er sich nicht blicken lassen.

„Ich wünschte, sie würde aufhören, sich ständig in immer neue Trottel zu verlieben“, sagte Leon kopfschüttelnd. „Eines Tages wird sie garantiert Lungenkrebs kriegen von dieser sinnlosen Qualmerei.“

Leons Stimme klang besorgt und ärgerlich gleichzeitig. „Sie benimmt sich wirklich ziemlich lächerlich. Immer glaubt sie, diesmal das ganz große Los gezogen zu haben, und dann folgt der völlige Einbruch …“ Leon schob seine Zimmertür hinter uns zu. „Ich habe das alles satt“, murmelte er düster und blieb mitten in seinem Zimmer stehen. Und dann küsste er mich plötzlich. Es ging ganz schnell. Er presste einfach seine warmen Lippen auf meinen Mund und legte seine Hände auf meinen Hinterkopf. Ich war völlig überrumpelt. Leon hatte die Augen geschlossen, während meine offen waren. Ich schaute ihn die ganze Zeit an und traute mich nicht, mich zu bewegen. Es war eigenartig, Leon so nah zu sein.

Ich sah seine hellen, zarten Augenlider und seine glatte Stirn und ein bisschen von seiner sommersprossigen Nase. Dann war es vorbei und Leon machte Musik an und lächelte mir zu und sagte in die Musik hinein etwas, das ich nicht verstand. Zuerst wollte ich nachfragen, aber dann traute ich mich doch nicht, weil ich es peinlich fand, jetzt „Wie bitte?“ oder „Was hast du gesagt?“ zu fragen.

Bald danach fuhren meine Mutter und ich nach Hause.

Und dann kamen die Sommerferien, die Leon in Kanada bei seinem Vater verbrachte. Ich war für eine Weile mit Franka in England und für eine weitere Weile mit meinen Eltern in Schweden und den Rest der Zeit zu Hause in meinem Zimmer oder im Naturkundemuseum.

Leon schickte mir vier kanadische Ansichtskarten, die er alle mit „Kuss, dein Leon“ unterschrieb.

Er fehlte mir. Von dem Kuss in seinem Zimmer hatte ich niemandem erzählt. Nicht einmal Franka, obwohl ich selbst nicht verstand, warum ich es nicht tat. Der Kuss war mein Geheimnis mit Leon. Es war mein erster Kuss gewesen. Franka hatte schon eine Menge Jungen geküsst, aber ich nur Leon. Und nur dieses eine Mal. Ein paar Mal schaute ich mir mein Gesicht im Spiegel an. Ich sah meine glatten, braunen Haare, meine schiefergrauen Augen mit den geraden Wimpern, meine gewöhnliche Nase und meinen schmalen Mund, den Leon geküsst hatte.

Franka war blond und sie hatte eine Stupsnase und weit auseinander stehende blaue Augen. Ich fand Franka viel hübscher als mich selbst. Franka war laut und lustig und immer ein bisschen verrückt, und sie konnte gut tanzen. Ich selbst tanzte eigentlich nie, ein paar Mal hatte ich es versucht, aber ich fühlte mich nicht besonders wohl auf der Tanzfläche, wo mich alle von Kopf bis Fuß sehen konnten.

Manchmal lag ich stundenlang in meinem Zimmer auf dem Bett und tat nichts weiter, als den hellen Schatten zuzuschauen, die an meiner Zimmerwand tanzten, wenn die Sonne durch die Fensterscheibe schien.

Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wie es sein würde mit Leon und mir nach den Ferien. Waren wir jetzt ein Paar? Liebte Leon mich? Liebte ich ihn? Was würden die anderen sagen, wenn Leon und ich tatsächlich ein richtiges Paar würden? War das Liebe? Wie würde es weitergehen?

Es war lange her, dass ich Leon nackt gesehen hatte, bestimmt sechs, sieben Jahre. Früher hatten wir uns im Schwimmbad immer in derselben Kabine umgezogen, aber irgendwann hatte das aufgehört. Ich erinnere mich noch genau an Leons kantige Schultern, an seine dünnen, sehnigen Arme und seine immerzu aufgeschlagenen Knie. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, mit Leon Hand in Hand über eine Wiese zu laufen, so wie früher. Oder meinen Kopf gegen seinen nackten Oberkörper zu lehnen. Konnte man sich überhaupt in jemanden verlieben, der jahrelang der beste Kumpel gewesen war? Und mit ihm ein Paar werden?

Warum Leon mich wohl geküsst hatte an diesem Abend? Hatte er sich das vorgenommen oder war es ganz spontan passiert? Ob er jetzt in diesem Moment wohl auch an mich dachte?

Ich hatte seine kanadische Telefonnummer natürlich in meinem Adressbuch stehen, schließlich war Leon schon ein paar Mal in den Ferien bei seinem Vater zu Besuch gewesen. Und früher hatte ich ihn ab und zu dort angerufen. Er selbst rief niemals aus Kanada an, seinem Vater war das zu teuer. Aber dieses Mal rief ich auch nicht an, obwohl ich den Telefonhörer schon in der Hand hielt.

Dann begann das neue Schuljahr und wir bekamen einen neuen Lehrer, der sich nichts aus Bienenwachskerzen und Bergamottduft machte, und eine neue Mitschülerin, Friederike.

2

Leon und ich trafen uns auf dem Schulhof. Es war sehr heiß, sogar der leichte Morgenwind war schon warm. Langsam ging ich auf Leon zu, der mit zusammengekniffenen Augen an einem Baum lehnte und sein Gesicht in die Sonne hielt. Es war wie immer nach den Ferien und es war gleichzeitig ganz anders.

„Hallo“, sagte ich zögernd und blieb vor Leon stehen. Ich spürte meinen Herzschlag im ganzen Körper.

„Hallo“, antwortete Leon, stieß sich vom Baum ab und lächelte mir zu.

„Wie braun du bist“, sagte ich.

„Wie lang deine Haare geworden sind“, sagte Leon und nahm vorsichtig ein paar meiner sommerlich ausgebleichten Haarspitzen zwischen seine Finger. Leon mochte lange Haare, das wusste ich.

Und in diesem Moment tat er es wieder. Er beugte sich zu mir hinunter und küsste mich. „Du hast mir fürchterlich gefehlt, Marie“, sagte er.

„Du mir auch“, sagte ich.

Nebeneinander gingen wir auf den Mittelstufenpavillon zu.

„Ich dachte, du würdest mich mal anrufen“, sagte Leon. „Immer, wenn das Telefon geklingelt hat, war ich sicher, diesmal bist du es.“

„Ich wollte dich anrufen“, sagte ich mit Nachdruck. „Aber …“

„Aber?“, wiederholte Leon und schaute mich von der Seite an.

„Ich weiß nicht“, sagte ich.

„Ich habe viel an dich gedacht“, sagte Leon und zog die Pavillontür auf. „Ich habe dich vor mir gesehen, wie du mit selbstvergessenem Blick durch dein Museum wanderst, von Raum zu Raum, und dir alles darin zum tausendsten Mal ansiehst. Deinen Säbelzahntiger, dein Mammut, deinen verrückten Zweitonnen-Stegosaurus mit dem Minigehirn …“

Wir lächelten uns zu. Und in diesem Moment sprach uns ein Mädchen an.

„Hallo, ich bin neu hier“, sagte sie. In ihrer Stimme lag ein leichter Akzent. „Ich heiße Friederike“, fuhr sie fort und schaute mehr Leon als mich an. Und Leon schaute zurück, schaute fasziniert und wie gebannt zurück. Das Mädchen war fast unnatürlich schmal und ihre Augen waren flaschengrün und sie hatte ein wunderschönes Lächeln.

„Ich habe die letzten Jahre in Oklahoma gelebt, mein Dad ist Amerikaner. Aber jetzt sind meine Mom und ich zurückgekommen“, erklärte sie und fuhr sich durch die Haare. „Ziemlich heiß heute“,...

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