Mehrsprachigkeit - Eine Einführung

Mehrsprachigkeit - Eine Einführung

von: Claudia Maria Riehl

wbg Academic in der Verlag Herder GmbH, 2015

ISBN: 9783534732739

Sprache: Deutsch

163 Seiten, Download: 2555 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Mehrsprachigkeit - Eine Einführung



1 Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit?


Der Begriff ‚Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene Formen von gesellschaftlich oder institutionell bedingtem und individuellem Gebrauch von mehr als einer Sprache. Er beschreibt Sprachkompetenzen von Einzelnen wie Gruppen und verschiedene Situationen, in denen mehrere Sprachen in Kontakt miteinander kommen oder in einer Konversation beteiligt sind. Diese verschiedenen Sprachen schließen nicht nur offizielle Nationalsprachen mit ein, sondern auch Regional-, Minderheiten- und Gebärdensprachen und sogar Sprachvarietäten wie Dialekte. Der Begriff wird gleichsam als ein Oberbegriff sowohl für verschiedene Formen von Sprachenerwerb im Laufe des Lebens eines Individuums als auch für die Verwendung der Sprachen im Alltag, im Arbeitsleben und in Institutionen verwendet (vgl. Franceschini 2009:29). Der Begriff ‚Mehrsprachigkeit‘ schließt damit auch automatisch den Begriff ‚Zweisprachigkeit‘ bzw. ‚Bilingualität‘ mit ein und wird in der deutschsprachigen Forschung häufig synonym mit diesem Begriff verwendet. Die erlernten Sprachen bezeichnet man dabei in der Regel nach der Reihenfolge ihres Erwerbs als Erstsprache (= L1), Zweitsprache (= L2) und Drittsprache (= L3) usw.

Im Folgenden soll nun eine kurze Einführung in die erwähnten Aspekte gegeben werden, die von der Prämisse startet, dass Mehrsprachigkeit der Normalfall und Einsprachigkeit die Ausnahme ist und dies anhand statistischer Daten und neuronaler Befunde belegt. Danach werden die verschiedenen Typen von Mehrsprachigkeit in Bezug auf den Erwerb, die gesellschaftlichen Bedingungen, die Kompetenz und die Sprachkonstellationen dargestellt, und es wird auf die Unterscheidung von innerer und äußerer Mehrsprachigkeit eingegangen. Schließlich wird die Bedeutung von Mehrsprachigkeit für die mehrsprachigen Sprecher aufgezeigt.

1.1 Mehrsprachigkeit als der Normalfall


Es mag für mitteleuropäische Verhältnisse befremdlich klingen, aber in vielen Regionen der Welt ist Mehrsprachigkeit der Normalfall und Einsprachigkeit die Ausnahme. Man denke nur an den afrikanischen Kontinent: Hier spricht jeder Mensch außer seiner Muttersprache noch mindestens eine weitere, meist benachbarte, afrikanische Sprache und die Landessprache, die in der Regel eine europäische Sprache ist. Ganz ähnlich ist es auf dem indischen Subkontinent: Auch hier beherrschen die Sprecher eine der vielen indoeuropäischen oder dravidischen Sprachen und daneben noch eine der offiziellen Amtsprachen wie Hindi und Englisch oder eine regionale Amtssprache (bspw. Urdu oder Bengali). Viele weitere Beispiele ließen sich aufzählen.

Verbreitung von Sprachen

Wie verbreitet Mehrsprachigkeit ist, ergibt sich auch aus der folgenden Tabelle, in der die Verteilung von Sprachen auf die verschiedenen Kontinente aufgeführt wird:

Tab. 1: Verteilung der Sprachen der Welt nach Angaben der Unesco 2014, gerundet (http://www.ethnologue.com/world)

Wie man aus der Tabelle ersehen kann, werden in Europa nur etwa 4 % der Sprachen der Welt gesprochen, dafür 30 % in Afrika: Während man in Europa einen Durchschnittswert von 2,6 Mio. Sprechern pro Sprache anführen kann (und wie wir wissen, haben die meisten europäischen Sprachen viel mehr Sprecher), kommen afrikanische Sprachen im Durchschnitt nur auf 437.000 Sprecher. Die geringsten durchschnittlichen Sprecherzahlen weisen Sprachen auf, die in der Südsee gesprochen werden. Da ja in den jeweiligen Staaten sehr viel mehr Menschen leben als diese Durchschnittswerte ergeben, kann man daraus ersehen, dass die meisten Menschen mehrere Sprachen beherrschen müssen (dazu auch Haarmann 2001:36ff.).

Selbst in Europa, wo in den meisten Staaten nur eine Sprache als Staatssprache gilt, gibt es zahlreiche Minderheitenregionen, in denen die Bevölkerung mehrsprachig ist: Prominente Beispiele sind etwa Südtirol mit Deutsch, Italienisch und Ladinisch oder Katalonien mit Katalanisch und Spanisch, aber es gibt noch viel mehr, nämlich über 300 Sprachminderheiten (vgl. http://www.fuen.org/de/europaeische-minderheiten). Man kann sogar davon ausgehen, dass es in Europa kaum ein Land gibt, in dem keine autochthonen Sprachminderheiten leben. Darunter versteht man Minderheiten, die entweder durch Grenzziehungen zu dem jeweiligen Land gekommen sind, oder solche, die bei der Staatenbildung in Europa keinen eigenen Staat bilden konnten, wie etwa die Ladiner in Norditalien oder die Sorben in Deutschland. Zu diesen Minderheiten kommen noch die sog. ‚allochthonen‘ Minderheiten, das sind Menschen, die in ein bestimmtes Land eingewandert sind und dort geblieben sind. Die erste Generation der Einwanderer ist dabei in der Regel immer mehrsprachig, aber häufig trifft das auch noch auf die zweite und manchmal auch auf die dritte Generation zu. Sind die Gruppen groß genug und haben sie kompakte Siedlungsgebiete – wie etwa die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland –, dann können auch weitere Generationen bilingual aufwachsen (vgl. 4.1).

Neben diesen mehrsprachigen Gemeinschaften gibt es weltweit immer mehr Menschen, die Fremdsprachenkenntnisse auf sehr hohem Niveau besitzen und die auch mehrere Jahre im Ausland verbracht haben. Alle diese Menschen, die im Laufe ihres Lebens mehrere Sprachen aktiv in ihrem Alltag gebrauchen, sind als mehrsprachig anzusehen. Sie scheuen sich nur manchmal aufgrund eines falsch verstandenen Begriffs von Mehrsprachigkeit, der immer noch von der Idee eines doppelten Muttersprachlers ausgeht, sich selbst als zwei- oder mehrsprachig zu bezeichnen (vgl. Sarter 2013:13).

Neurologische Perspektive

Neben den statistischen Daten kann man Mehrsprachigkeit auch aus einer neurologischen Perspektive als Normalfall betrachten: Denn tatsächlich zeigen Beispiele aus der Gehirnforschung, dass alle Sprachen, die ein Individuum beherrscht, in derselben Region im Gehirn gespeichert sind, und zwar im sog. ‚Broca-Areal‘ (dazu genauer 3.1). Das, was den Menschen angeboren ist, ist die Fähigkeit sprachliche Äußerungen zu produzieren, etwa indem man bestimmte Zeichen als Symbole verwendet und indem man aus einem endlichen Inventar von Zeichen, etwa Lauten oder Silben, eine unendliche Zahl von Äußerungen schaffen kann. Aber es ist dem Menschen nicht angeboren, dass er nur eine bestimmte Sprache spricht. Daher postuliert Meisel (2004:92): „Monolingualism can be regarded as resulting from an impoverished environment where an opportunity to exhaust the potential of the language faculty is not fully developed.“

1.2 Typen von Mehrsprachigkeit


Wenn man nun die gerade erwähnten Überlegungen zugrunde legt, kann man Mehrsprachigkeit nach verschiedenen Kriterien definieren:

  • nach Art des Erwerbs
  • nach gesellschaftlichen Bedingungen
  • nach Kompetenz
  • nach Sprachkonstellationen

1.2.1 Art des Erwerbs

Es handelt sich um unterschiedliche Arten von Mehrsprachigkeit, je nachdem ob man mehrere Sprachen von Kind auf simultan erwirbt oder sie sukzessive erwirbt. Im ersten Fall spricht man von sog. ‚bilingualem Erstspracherwerb‘: D.h. das Kind besitzt dann zwei Erstsprachen (L1). Dann bestehen Unterschiede darin, ob man die Sprachen in einer natürlichen Umgebung erwirbt, wie etwa Migranten in ihrem Zielland, oder ob man sie im schulischen Kontext lernt. Im letzteren Fall spricht man von gesteuertem Erwerb. Und schließlich muss man auch noch unterscheiden, ob man die Sprachen als Kind oder als Erwachsener erwirbt und ob man die jeweilige Sprache als eine zweite (nach der Muttersprache) (= L2) oder dritte und weitere Sprache lernt (= L3).

Der unterschiedliche Zeitpunkt bzw. die unterschiedliche Form des Erwerbs hat indirekt Auswirkung auf die Art der Mehrsprachigkeit des Sprechers, die sich nicht zwangsläufig in der Kompetenz ausdrücken muss, sondern eher in der Haltung gegenüber der Verwendung von Sprachen: Menschen, die mit mehreren Sprachen gleichzeitig aufwachsen oder in stark mehrsprachig geprägten Gesellschaften leben, zeigen ein anderes Verhalten gegenüber Sprachmischung und anderen Formen mehrsprachigen Sprechens. Es spielt also eine Rolle, ob man von Anfang darauf trainiert wird, die Sprachen zu trennen oder nicht, und ob man die Sprachen in einem natürlichen Kontext erwirbt oder Wörter und Strukturen über Übersetzungsäquivalente oder explizite Regeln lernt.

1.2.2 Gesellschaftliche Bedingungen

Auch die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Mehrsprachigkeit praktiziert wird, sind völlig unterschiedlich: Wie bereits in 1.1 erwähnt, gibt es mehrsprachige Gesellschaften, in denen zwei oder mehrere Sprachen im täglichen Umgang nebeneinander gebraucht werden – meist mit unterschiedlichen Funktionen. Daneben gibt es viele Konstellationen mit individueller Mehrsprachigkeit: angefangen von Familien, in denen die Kinder mehrsprachig aufwachsen, über bilinguale Schulangebote zur Mehrsprachigkeit in der Arbeitswelt.

Dimensionen von Mehrsprachigkeit

Bei der Definition von Mehrsprachigkeit werden daher in der Regel drei verschiedene Dimensionen unterschieden (vgl. Lüdi 1996):

  • individuelle Mehrsprachigkeit
  • gesellschaftliche Mehrsprachigkeit
  • institutionelle Mehrsprachigkeit

Während sich individuelle Mehrsprachigkeit auf den einzelnen Sprecher bezieht, versteht man unter...

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