Familie heute - Wandel der Familienstrukturen und Folgen für die Erziehung

Familie heute - Wandel der Familienstrukturen und Folgen für die Erziehung

von: Rosemarie Nave-Herz

wbg Academic, 2015

ISBN: 9783534739974

Sprache: Deutsch

168 Seiten, Download: 1434 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Familie heute - Wandel der Familienstrukturen und Folgen für die Erziehung



3. Wandel der Familiengröße
und seine Auswirkungen
auf den Familienalltag


Die Familiengröße kann bestimmt werden durch die Anzahl der Kinder in der Kernfamilie und durch die der familialen Generationen. In den letzten Jahren ist die Kinderzahl in den Familien stetig gesunken, dagegen ist die Zahl der Mehr-Generationen-Familien infolge der gestiegenen Lebenserwartung sehr stark angestiegen. Beide Sachverhalte haben die familialen Strukturen enorm verändert. Vor allem sollte man deshalb nicht mehr – wie üblich in der Wissenschaft – so ausschließlich die Analysen des familialen Wandels auf die Kernfamilie beschränken. Im Folgenden wird zunächst auf die verursachenden Bedingungen für die Reduktion der Kinderzahl und die damit verbundenen Veränderungen des familialen Alltags und der Eltern-Kind-Beziehungen eingegangen (der dadurch bedingte Wandel in den Geschwisterbeziehungen wird in Kap. 5.3 gesondert beschrieben). Anschließend werden Auswirkungen des horizontalen Wandels durch den Anstieg der Mehrgenerationenfamilien diskutiert. Entsprechend dem Untertitel des Buches beschränkt sich dieser Abschnitt auf mögliche sozialisatorische Veränderungen im Hinblick auf die Enkel; es bleibt also der Themenkomplex der Fürsorge der Familie für ihre älteren Mitglieder ausgeklammert (vgl. hierzu ausführlich Nave-Herz 2011: 281–298; Szydlyk 2014: 99ff).

3.1 Der Wandel der Familiengröße durch die Geburtenreduktion und seine Auswirkungen auf den Familienalltag


Wenn man als differenzierende Variable für die Bildung von Familientypen nicht die Familienbildungsprozesse (wie im vorigen Kap.), sondern die Kinderzahl pro Familie nimmt, dann zeigt sich ein gegenläufiger Trend im Hinblick auf die Pluralitätsthese, nämlich ein Entdifferenzierungsprozess zwischen verschiedenen Familienformen; hier hat nämlich die Vielfalt abgenommen oder m. a.W.: die Familienformen sind unter diesem Aspekt nicht pluraler, sondern homogener geworden; denn die Mehrzahl der Kinder wächst heutzutage in Ein- oder Zwei-Kinder-Familien auf (= 73 %, davon 25 % allein und 47 % mit einem Bruder oder einer Schwester (vgl. Abbildung 2 im Anhang). Die Zahl der Drei- und Mehr-Kinder-Familien ist sehr stark gesunken und beträgt zur Zeit 8 %; vgl. Abbildung 2 im Anhang).

Die sinkende Geburtenquote in Deutschland wird in der Öffentlichkeit vor allem nur im Hinblick auf die in Zukunft zu erwartenden Probleme mit der Rentenversicherung, der Altenpflege und mit den verschiedensten gesellschaftlichen Infrastruktureinrichtungen diskutiert (vgl. hierzu Nave-Herz 2011: 281f.). Es erscheint aber ebenso wichtig, die Konsequenzen, die der Geburtenrückgang für die Kinder selbst und für den Familienalltag hat, zu bedenken. Der – auf den ersten Blick betrachtet – rein quantitative Vorgang der Veränderung der Familiengröße durch Reduktion der Geburtenzahl hat nämlich ebenfalls qualitative Auswirkungen auf die innerfamilialen Interaktionsbeziehungen, da gruppendynamische Prozesse auch durch die Gruppengröße bestimmt werden. So sind mit dem zahlenmäßigen Anstieg insbesondere der Ein- und Zwei-Kinder-Familien gleichzeitig die Zunahme spezifischer Interaktionsstile und -formen zwischen Eltern und Kindern verbunden, ebenso bestimmte Erwartungshaltungen und Leistungsanforderungen der Eltern an sich selbst; und schließlich haben sich für immer mehr Kinder die Sozialisationsbedingungen durch fehlende Geschwistergemeinschaften und nachbarschaftliche Spielgruppen gewandelt. Diese Veränderungen sollen im folgenden Abschnitt beschrieben werden. Einleitend ist es zunächst notwendig, die verursachenden Bedingungen des Geburtenrückganges darzustellen, um den Funktions- und Bedeutungswandel von Kindern für die Frauen (und auch für die Männer) im Laufe unserer Geschichte kurz aufzuzeigen. Diese Kenntnis ist gerade auch für das Verständnis der strukturellen Veränderungen des kindlichen Alltags durch die Reduktion der Familiengröße wichtig.

Aus dem statistischen Rückgang der Geburtenquote schließen viele Autoren, dass Kinderhaben durch die heutige Vielfältigkeit konkurrierender Sinngehalte des Lebens und von alternativen Lebensentwürfen relativ an Bedeutung eingebüßt hat. Andere weisen darauf hin, dass die Erwerbsbeteiligung der Frauen – insbesondere seit Ende des Zweiten Weltkrieges – gestiegen sei und dass hieraus auf eine vermehrte Konsumorientierung der Eltern geschlossen werden könne, wodurch Kinder als zu starke ökonomische Belastung empfunden würden. Vielfach werden das gestiegene Bildungsniveau und die damit verbundene Karriereorientierung als verursachende Bedingung vor allem für den hohen Anstieg kinderloser Akademikerinnen benannt. Gegen diese einfachen und monokausalen Thesen sprechen jedoch eine Reihe von empirischen Forschungsergebnissen, auf die hier nicht im Einzelnen, sondern nur zusammenfassend eingegangen werden kann (vgl. hierzu Nave-Herz 2014b: S. 730–733):

Die Erhebungen im Rahmen der „Value-of-Children-Studies“ (dies sind interkulturell vergleichende bevölkerungswissenschaftliche Forschungen in Amerika, Asien und Europa) und familienökonomische Untersuchungen (vgl. hierzu Nauck und Kohlmann 1999:53ff.; Nauck 2007: 615f.; 2011: 329f.) haben als Erste aufgezeigt, dass die sinkende Kinderzahl in der Familie nicht primär auf ökonomische Gründe oder gar auf eine mangelnde Kinderzuneigung zurückzuführen ist, sondern auf einen Funktionswandel von Kindern in der Familie.

Da diese Untersuchungen von austauschtheoretischen Prämissen ausgehen, wirkt ihre Begrifflichkeit für Nicht-Soziologen und Nicht-Ökonomen befremdend. So sprechen sie von „Nutzenerwartungen“ an Kinder seitens der Eltern, von Stimulationskosten von Elternschaft (Nauck 2011: 346) oder von Kosten in den Eltern-Kind-Beziehungen usw. Dass wir ihre Begrifflichkeit als unpassend im Zusammenhang mit familialen Interaktions- und Entscheidungsprozessen empfinden, liegt aber nur daran, dass wir heute ganz bestimmte normative Ansprüche an die Elternrolle, vor allem an die Mutterrolle, stellen, die gerade frei sein sollten von Kosten-/Nutzen-Kalkulationen. Die negative Reaktion gegenüber der Begrifflichkeit zeigt also bereits die gewandelte Stellung des Kindes in der Familie an.

Nun zu den Ergebnissen: Alle diesbezüglichen Untersuchungen kamen zu dem gleichen Ergebnis, nämlich, dass insgesamt drei verschiedene Dimensionen im Hinblick auf die elterlichen Nutzenerwartungen an die Kinder feststellbar sind: Eltern verbinden mit ihren Kindern entweder materiellen und/oder psychologischen und/oder sozial-normativen Nutzen. Mit der letztgenannten Nutzenerwartung ist z.B. das Erhoffen eines Statusgewinnes durch das Kinderhaben oder bei Männern der Wunsch nach Vererbung des Familiennamens gemeint. Je niedriger nun der technische Industrialisierungsgrad eines Landes ist, umso eher werden materielle und sozial-normative Werte mit Kindern verknüpft; ihr konkreter Inhalt ist, je nach sozialer Schicht, unterschiedlich. Kinder werden als eine Art Alters- und Krankenversicherung betrachtet; die Mithilfe im Haushalt wird geschätzt; sie werden zur Betreuung von Geschwistern eingesetzt; die Weitergabe des Familienvermögens und öffentlicher Positionen spielt eine wichtige Rolle u.a.m. Umgekehrt gilt ebenso: Je höher der technische Industrialisierungsgrad eines Landes ist und ein kollektiver staatlicher Versicherungsschutz existiert, desto stärker werden mit Kindern allein immaterielle Werte verbunden, wie die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse, z.B. die von Kleinkindern ausgehende expressive Stimulation; die Freude, sie aufwachsen zu sehen; das Zärtlichsein mit ihnen wird geschätzt u.a.m., und dazu reichen weniger Kinder aus.

Diese interkulturellen Befunde zeichnen zweifellos auch die historische Entwicklung des Funktionswandels von Kindern in unserem eigenen Kulturbereich nach: Kinder waren vor allem Träger materieller Güter und wurden – nicht wie heute – ausschließlich um ihrer selbst willen und/oder zur eigenen psychischen Bereicherung gewünscht und geplant. Die seit Mitte der 1970er-Jahre stark angestiegene familienhistorische Forschung hat inzwischen die These über die Verschiebung von materiellen zu immateriellen Werten von Kindern für unsere eigene Kultur bestätigt (Ariès 1975; Mitterauer 1989; Shorter 1977).

Der Funktionswandel von Kindern kann zwar die großen Unterschiede in der Geburtenzahl zwischen den Ländern der Dritten Welt und den Industriestaaten erklären, nicht aber die Differenzen innerhalb der europäischen bzw. Industrie-Staaten.

Die Theorie der „new home economics“ will dieser Frage nachgehen. Sie begründet den graduell unterschiedlichen Verlauf der Abnahme der Geburtenquote in Europa mit den unterschiedlichen „opportunity costs“ von Kindern. Hier wird der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit insofern eine bestimmende Größe zugewiesen, als die Vertreter dieses theoretischen Ansatzes behaupten, dass ein Ansteigen der Frauenlöhne – relativ zu den Löhnen der Männer – die relativen Kosten einer durch die Geburt von Kindern bedingten Aufgabe der Erwerbstätigkeit vergrößern würde und dass dieser ökonomische Effekt Geburtenbeschränkungen zur Folge hätte (erstmalig Becker 1974). Tatsächlich haben sich bei...

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