Migration - Geschichte und Zukunft der Gegenwart

Migration - Geschichte und Zukunft der Gegenwart

von: Jochen Oltmer

wbg Theiss, 2017

ISBN: 9783806235326

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 5544 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Migration - Geschichte und Zukunft der Gegenwart



2 Migration und die Hintergründe


Aus welchen Gründen wandern Menschen?

Bild Seite 19: Ein Auswandererbrief ist aus Nordamerika eingetroffen. Gemälde von Berthold Woltze (1829–1896), das um 1860, also in einer der Hochphasen der Auswanderung aus deutschen Staaten, entstanden ist.

 

Migrationen sind räumliche Bewegungen von Menschen. Jedoch wird keineswegs jede dieser Bewegungen als Migration verstanden, touristische Unternehmungen, Reisen oder das tägliche Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort etwa zählen nicht dazu. Gemeint sind vielmehr jene Formen regionaler Mobilität, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden haben und aus denen sozialer Wandel resultiert. Migration kann das Überschreiten politisch-territorialer Grenzen bedeuten. Aber auch räumliche Bewegungen innerhalb eines staatlichen Gebildes lassen sich als Migration fassen; denn selbst sie können es erfordern, dass Migranten sich mit wirtschaftlichen Gegebenheiten und Ordnungen, kulturellen Mustern sowie gesellschaftlichen Normen und Strukturen auseinandersetzen, die sich zum Teil erheblich von denen des Herkunftsortes unterscheiden.

Migration kann unidirektional eine Bewegung von einem Ort zu einem anderen meinen, umfasst aber nicht selten auch Zwischenziele, die häufig dem Erwerb von Mitteln zur Weiterreise dienen. Fluktuation, beispielsweise zirkuläre Bewegung oder Rückwanderung, bildete immer ein zentrales Element von Migration. Die dauerhafte Ansiedlung andernorts stellt also nur eines der möglichen Ergebnisse von Wanderungsbewegungen dar. Um nur ein Beispiel zu nennen: In die Bundesrepublik Deutschland kamen vom Ende der 1950er-Jahre bis 1973 rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte (»Gastarbeiter«), etwa elf Millionen, also 80 Prozent, kehrten wieder in ihre Herkunftsländer zurück.22

Der Prozess der Migration bleibt grundsätzlich ergebnisoffen, denn das Wanderungsergebnis entspricht bei Weitem nicht immer der Wanderungsintention: Eine geplante Rückkehr wird aufgeschoben, die Ferne schließlich zur Heimat, und die alte Heimat erscheint fern. Räumliche Bewegungen werden abgebrochen, weil bereits ein zunächst nur als Zwischenstation gedachter Ort unverhofft neue Chancen bietet. Umgekehrt kann sich das geplante Ziel als ungeeignet oder wenig attraktiv erweisen, woraus eine Weiterwanderung resultiert. Zudem vermag der Erfolg im Zielgebiet die Rückkehr in die Heimat möglich oder der Misserfolg sie nötig machen.

Tabelle 1: Migration: zentrale Begriffe

Migration kann eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes bedeuten23, ist aber auch häufig durch zeitlich begrenzte Aufenthalte andernorts gekennzeichnet, die nicht explizit den Lebensmittelpunkt versetzen24: Saisonwanderungen, die mehr oder minder regelmäßig zu wochen- oder monatelangen Aufenthalten andernorts führen, sind beispielsweise in der Regel darauf ausgerichtet, Geld zu verdienen, um die Existenz der Familie am Ort des Lebensmittelpunktes aufrechterhalten zu können. Zahlreiche Beispiele für solche mitunter über längere Zeit hinweg strukturstabilen Formen zirkulärer Migration finden sich in agrarisch geprägten Herkunftsgesellschaften beziehungsweise Herkunftsregionen, aber auch im Kontext der seit dem 19. Jahrhundert weltweit beschleunigten Urbanisierung: Eine lineare Wanderung vom Land in die Stadt als »Einbahnstraße« bietet nur eines unter vielen Mustern jener Migrationen, die das massive Wachstum der städtischen Agglomerationen in aller Welt wesentlich tragen. Ein weiteres Mobilitätsmuster ist der Kreisverkehr von temporären Land-Stadt-Land-Wanderungen, die nach Jahren in dauerhaften Niederlassungen in den Städten enden können, aber nicht notwendigerweise müssen.

Motive


Migrationsentscheidungen unterliegen in der Regel multiplen Antrieben. Meist sind wirtschaftliche, soziale, politische, religiöse und persönliche Motive in unterschiedlichen Konstellationen mit je verschiedenem Gewicht eng miteinander verflochten. Hoffnungen und Erwartungen hinsichtlich einer Verbesserung der Situation nach der Abwanderung können dabei immer auch Enttäuschungen über die individuelle Lage in der Herkunftsgesellschaft widerspiegeln.

Sieht man von den Gewaltmigrationen ab, streben Migranten danach, durch den temporären oder dauerhaften Aufenthalt andernorts Erwerbs- oder Siedlungsmöglichkeiten, Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Ausbildungs- oder Heiratschancen zu verbessern und sich neue Chancen durch eigene Initiative zu erschließen.25 Die räumliche Bewegung soll ihnen zu vermehrter Handlungsmacht verhelfen. In diesen Kontext gehören beispielsweise die großen interkontinentalen Wanderungen von wahrscheinlich 55 bis 60 Millionen Europäern im »langen« 19. Jahrhundert.26 Diese auffällig starke Massenabwanderung aus Europa darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Wanderungsbewegungen ansonsten meist kleinräumig waren und nur zu einem geringeren Teil Grenzen von Herrschaftsräumen oder gar Kontinenten überschritten.

Menschen, die migrieren, weil sie andernorts Chancen suchen, verfügen über wirtschaftliche und gesellschaftliche Potenziale: Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der finanziellen, sozialen und emotionalen Kosten von Migration sind sie motiviert, ihre Kompetenzen und Kenntnisse, ihre Arbeitskraft und ihre Kreativität dort einzusetzen, wohin sie sich bewegt haben. Dafür sind sie oft bereit, Lebens-, Erwerbs- oder Wohnbedingungen in Kauf zu nehmen, die Einheimische ablehnen. Migration verbindet sich häufig mit biographischen Wendepunkten und Grundsatzentscheidungen wie Wahl von Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz, Eintritt in einen Beruf oder Partnerwahl und Familiengründung; der überwiegende Teil der Migranten sind folglich Jugendliche und junge Erwachsene. Migration ist eng mit spezifischen sozial relevanten Merkmalen, Attributen und Ressourcen verbunden, darunter vor allem Geschlecht, Alter und Position im Familienzyklus, Habitus, Qualifikationen und Kompetenzen, soziale und berufliche Stellung sowie die Zugehörigkeit und Zuweisung zu »Ethnien«, »Kasten«, »Rassen« oder »Nationalitäten«, aus denen nicht selten Privilegien und (Geburts-) Rechte resultieren.

Angesichts einer je unterschiedlichen Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem, juridischem und symbolischem Kapital erweisen sich damit die Grade der Autonomie von Migranten als Individuen und in Netzwerken oder Kollektiven als unterschiedlich groß. Ein Migrationsprojekt umzusetzen, bildete in den vergangenen Jahrhunderten häufig das Ergebnis eines durch Konflikt oder Kooperation geprägten Aushandlungsprozesses in Familien, in Familienwirtschaften beziehungsweise Haushalten oder in Netzwerken. Die Handlungsmacht derjenigen, die die Migration vollzogen, konnte dabei durchaus gering sein, denn räumliche Bewegungen zur Erschließung oder Ausnutzung von Chancen zielten keineswegs immer auf eine Stabilisierung oder Verbesserung der Lebenssituation der Migranten selbst. Familien oder andere Herkunftskollektive sandten vielmehr häufig Angehörige aus, um mit den aus der Ferne eintreffenden »Rücküberweisungen« oder anderen Formen des Transfers von Geld die ökonomische und soziale Situation des zurückbleibenden Kollektivs zu konsolidieren oder zu verbessern.

Solche mehr oder minder regelmäßigen Geldüberweisungen durch Migranten haben bis in die Gegenwart eine ausgesprochen hohe Bedeutung für einzelne Haushalte, für regionale Ökonomien oder selbst für ganze Volkswirtschaften.27 Indien empfängt gegenwärtig die weltweit höchsten Transferzahlungen: Über 70 Milliarden US-Dollar, die vornehmlich von indischen Arbeitswanderern in den Golfstaaten stammen, machten im Jahr 2015 mehr als vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts des südasiatischen Staates aus. Eine zentrale Bedingung für das Funktionieren solcher translokaler ökonomischer Strategien bildet die Aufrechterhaltung sozialer Bindungen – Netzwerke – über zum Teil lange Dauer und große Distanzen. Die Abwandernden senden häufig nicht nur Geld in die Herkunftsregion, sondern fungieren auch innerhalb ihrer Netzwerke als Mittler anderer Weltsichten, neuer technischer oder technologischer, ökonomischer oder kultureller Kenntnisse und Kompetenzen. Damit verschaffen sich Migranten, aber auch jene, die in den Herkunftsgesellschaften Geld und Wissen empfangen, ein Mehr an Handlungsmacht, das heißt mehr Einfluss und Entscheidungskompetenz.

Netzwerke


Ob und inwieweit eine temporäre, zirkuläre oder auf einen längerfristigen Aufenthalt andernorts ausgerichtete Migration als individuelle oder kollektive Chance verstanden wird, hängt entscheidend vom Wissen über Migrationsziele, -pfade und -möglichkeiten ab. Damit Arbeits-, Ausbildungs- oder Siedlungswanderungen einen gewissen Umfang und eine gewisse Dauer erreichen, bedarf es kontinuierlicher und verlässlicher Informationen über das Zielgebiet. Solcherlei Wissen vermitteln mündliche und schriftliche Auskünfte staatlicher,...

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