Welche Schule brauchen wir?

Welche Schule brauchen wir?

von: Mireille Guggenbühler

Zytglogge Verlag, 2017

ISBN: 9783729621022

Sprache: Deutsch

203 Seiten, Download: 10181 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Welche Schule brauchen wir?



Daniel Hunziker findet, dass die Schule zu sehr an alten Strukturen festhält und zu wenig mit der Zeit geht. Der Lehrplan 21 mit seiner Kompetenzorientierung würde die Chance bieten, diesbezüglich etwas zu ändern, ist Hunziker überzeugt. Dafür brauche es aber eine schweizweite Vorstellung davon, was Kompetenzen überhaupt sind.

In einem Referat sagten Sie einmal: Wie Kinder lernen, entspricht dem, was die Berufswelt mehr und mehr braucht. Was meinen Sie damit genau?

Kinder lernen von Natur aus eigeninitiativ und selbstgestaltend im freien Spiel. Sie holen sich Anregungen aus der Umwelt und ihrem Umfeld. Kinder sind neugierig, sind miteinander unterwegs und probieren immer wieder Neues aus. Genau solche Berufsleute braucht die heutige Gesellschaft. Menschen, die neugierig sind, Gestaltungswillen haben, gemeinsam arbeiten und etwas erreichen wollen und immer wieder Neues ausprobieren.

Wieso braucht es genau solche Menschen?

Der grösste Teil des Bruttoinlandprodukts wird heute im Dienstleistungssektor erarbeitet, und dieser Sektor wird weiter an Bedeutung gewinnen. Wer im Dienstleistungssektor arbeitet, hat mit wechselnden Menschengruppen und wechselnden Bedürfnissen zu tun. Arbeitnehmer im Dienstleistungssektor müssen selbständig handeln und flexibel denken können. Wir brauchen also heute keine Schülerinnen und Schüler mehr, die funktionieren, wie das vor 150 Jahren während der Industrialisierung nötig war.

Muss eine Schule denn gesellschaftlich und wirtschaftlich verwertbare Ziele verfolgen?

Eine Schule muss zumindest mit der Zeit gehen. In der Schweiz ist das aber nicht so: Seit 150 Jahren sitzen alle Kinder nach Geburtsdatum sortiert in derselben Klasse und lernen dasselbe. Oder anders gesagt: Mit demselben Input muss hinten überall dasselbe herauskommen. Und das in der heutigen Zeit, in der man dank der Entwicklungspsychologie weiss, dass siebenjährige Kinder Entwicklungsunterschiede bis zu vier Jahren aufweisen können oder Jugendliche mit 15 Jahren solche bis zu sechs Jahren. Lehrpersonen sollten also einerseits mit allen dasselbe machen, andererseits aber doch auch noch individuell auf die Unterschiede eingehen, weil man ja schon auch weiss, dass die Kinder verschieden sind. Der Effekt davon ist, dass man mit Fachkräften Ressourcen schaffen muss, die den Lehrern helfen müssen, diesen Spagat zu bewältigen. Das sind dann die Heilpädagogen. Man pathologisiert also die Kinder, damit Klassenlehrer die Spannbreite der unterschiedlichen Entwicklungen der Kinder, die normal ist, so handhaben können, dass man wieder mit allen Kindern zur selben Zeit dasselbe machen kann. Das ist ein Festhalten an einem 180 Jahre alten System, das ich unglaublich finde.

Mit dem Lehrplan 21 steht ja nun der Erwerb von Kompetenzen im Vordergrund. Wie passt das mit Ihrem Bild des Lernens zusammen?

Kompetenzen sind Selbstorganisationsfähigkeiten. Das heisst, Kinder sollen in lebensnahen, neuen, komplexen, sich verändernden Situationen angemessen und aus eigenen Stücken handeln können. Kompetenzen sind nicht lehr-, sondern nur erfahrbar. So gesehen passt das mit meinem Bild von Lernen gut zusammen. Ich möchte aber nicht fatalistisch werden und sagen, dass es Wissen nicht mehr braucht, wenn man kompetenzorientiert unterrichtet. Im Gegenteil: Kompetenzen werden von Wissen fundiert. Fachwissen ist die Grundlage dafür, um Fachkompetenzen zu erwerben.

Das klingt nun etwas kompliziert. Können Sie ein Beispiel machen dazu?

Im Matheunterricht muss ich den Schülerinnen und Schülern mit allen Möglichkeiten methodischer Vielfalt, wie wir sie heute kennen, beibringen, wie man mit Hohlmassen rechnet. Um zu überprüfen, ob die Schülerinnen und Schüler verstanden haben, wie dies funktioniert, kann ich einen Test machen. Dieses Prüfungsblatt kann ich korrigieren, und weil derlei Aufgaben in der Regel in einem Richtig-falsch-Schema aufgebaut sind, kann ich auch Noten machen. Die Qualifikation des Wissens ist damit belegt. So lernten wir schon vor 40 Jahren die Hohlmasse kennen, und so werden die Hohlmasse meistens heute noch gelehrt. Die Frage ist nun, wie ich als Lehrperson auch noch eine lebensnahe, herausfordernde, kompetenzorientierte Aufgabe stellen kann. Die Kinder könnten nun beispielsweise in Vierergruppen einen Kindercocktail erfinden und das Rezept aufschreiben. Danach berechnen sie, wie viel sie von welchen Zutaten brauchen, damit der Cocktail für die ganze Klasse reicht. Jede Gruppe lässt dann eine andere das Rezept ausprobieren und überprüft, ob der Kindercocktail so herausgekommen ist, wie ihn die Gruppe ursprünglich konzipiert hat. So kann jede Gruppe überprüfen, ob sie die Masse richtig umgerechnet hat. Wenn Lehrpersonen solche Aufgaben stellen, dann erwerben die Kinder nicht nur Fachkompetenz, sondern üben sich auch in kommunikativer, sozialer und personeller Kompetenz.

Wenn das Wissen nun aber stets so lebensnah wie möglich angewendet werden soll, dann müssen Lehrerinnen und Lehrer doch ganz anders unterrichten als heute?

Das trifft nur teilweise zu. Die Kinder müssen sich ja immer noch Fachwissen erarbeiten. Sie müssen die Hohlmasse kennen und umrechnen können, sie müssen das Rezept aufschreiben, lesen und verstehen, wie es umzusetzen ist. Lehrerinnen und Lehrer wissen, wie man solches Fachwissen vermittelt – das ist nicht neu. Was Lehrerinnen und Lehrer neu dazulernen müssen, ist, die Kinder ihr Wissen auch anwenden zu lassen. Dazu braucht es ein Know-how, wie geeignete Problemstellungen einladend und herausfordernd formuliert werden können, so dass sie Schülerinnen und Schüler zum eigenen Denken, Handeln und Reflektieren anregen. Lehrerinnen und Lehrer sollten künftig nicht mehr nur fachorientiert unterrichten. Es ist ja ein Charakteristikum des Lebens, dass es nicht in Fächer seziert ist.

Der Aufwand ist aber doch um einiges grösser, wenn Lehrpersonen nicht nur Wissen vermitteln, sondern die Kinder das Wissen stets auch noch anwenden lassen sollen?

Es gibt eine Studie, in welcher überprüft wurde, wie viel Wissen nach neun Schuljahren noch abrufbar ist. In dieser Studie kommen die Autoren auf ein Ergebnis von unter zehn Prozent des erlernten Wissens. Wenn man sich das vergegenwärtigt, dann muss man sich fragen, wie effizient ist denn das? Wenn ein Wirtschaftsbetrieb so arbeiten würde, wäre er längstens Konkurs. Den Lehrpersonen, die meine Kurse besuchen, sage ich immer: Wenn ihr wisst, dass 90 Prozent des Wissens, das ihr heute vermittelt, nach neun Schuljahren gar nicht mehr abrufbar ist, dann habt doch den Mut zur Lücke und überlegt, was ihr weglassen könnt. Dafür gewinnt ihr Zeit, könnt etwas vertiefen und die Kinder selber etwas erarbeiten lassen. Dann sind Kinder auch wieder motivierter. Und das wiederum hat einen zusätzlichen, positiven Nebeneffekt: Wenn Kinder mit hohen Emotionen arbeiten, können sie sich Inhalte besser merken.

Nun habe ich aber als Lehrerin eine 26er-Klasse und soll kompetenzorientiert unterrichten – wie soll denn das gehen?

Schauen Sie sich die Klassen in den Kindergärten an: Die einen machen in der einen Ecke etwas, die anderen in der anderen, einige sind draussen und alle sind stets aktiv, spielen und arbeiten selbständig. Danach kommen die Kinder in die Schule, und nun bekommen sie sehr oft Lehrpersonen, die meinen, genau zu wissen, was das Richtige für das Kind ist – es steht schliesslich im Lehrplan und in den Lehrmitteln exakt drin, was die Lerninhalte in welcher Klasse und in welchem Fach sind. Die Lehrpersonen sagen den Kindern, was zu tun ist, vom Morgen bis zum Abend, von Montag bis Freitag. Und irgendwann wundern sie sich, dass die Kinder keine Ideen mehr haben und nicht mehr in der Lage sind, selbständig zu arbeiten, weil man ihnen das abtrainiert hat. Kinder wollen von innen heraus Dinge entwickeln und Ideen umsetzen. Wenn sie das dürfen, muss man die 26 Kinder kaum zum Lernen antreiben. Besteht die Lernkultur aber darin, die Kinder nur noch mit Aufträgen und Aufgaben zu füttern, dann muss man sich nicht wundern, wenn man als Lehrperson ein Kontrollfreak sein muss, der alles im Griff haben und die Kinder stets antreiben und kontrollieren muss. Kurz: Es kommt also auf die Lernkultur in einer Klasse und die Haltung der Lehrperson ihren Lernenden gegenüber an.

Welche Haltung der Lehrerinnen und Lehrer ist für kompetenzorientiertes Lernen förderlich?

Beim kompetenzorientierten Lernen geht es darum, dass Kinder ausprobieren dürfen und aus ihrer eigenen Erfahrung lernen können. Nicht das Bewerten einer Aufgabe ist wichtig, sondern die Reflexion darüber. Misslungene Projekte sind also nicht Fehler, sondern Lerngelegenheiten. In solchen Situationen entwickelt sich die Kompetenz der Kinder. Nicht hilfreich ist die heute verbreitete Haltung, dass Lernen vor allem aus Beurteilen besteht und dass es in der Schule vor allem darum geht, dass Kinder Wissen erwerben, um anschliessend die richtigen Antworten geben zu können. Diese Art von Lernen hat nichts mit kompetenzorientiertem Unterricht zu tun, man schafft so nur eine Art Fehlervermeidungskultur. In lebensnahen und nicht standardisierten Aufgabenstellungen gibt es indes kein Richtig und Falsch.

Passen kompetenzorientierter Unterricht und Noten denn überhaupt noch zusammen?

Ich finde, es passt nicht zusammen. Benoten kann ich nur das reine Wissen. Ich kann das Einmaleins in 20 Aufgaben prüfen, und wenn 20 richtig sind, dann gibt es eine Sechs. Es ist also klar, was richtig und falsch ist. Im Kompetenzbereich geht das nicht. Wenn Kinder beispielsweise einen Cocktail zubereiten wie erwähnt,...

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