Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie - Grundlagen, Diagnostik und Förderung

Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie - Grundlagen, Diagnostik und Förderung

von: Gerheid Scheerer-Neumann, Andreas Gold, Cornelia Rosebrock, Renate Valtin, Rose Vogel

Kohlhammer Verlag, 2018

ISBN: 9783170341609

Sprache: Deutsch

174 Seiten, Download: 4233 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie - Grundlagen, Diagnostik und Förderung



2          Die Vielfalt diagnostischer Begriffe und Konstrukte zu Problemen beim Schriftspracherwerb


 

 

 

Sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in der pädagogischen und psychologischen Praxis finden sich unterschiedliche Bezeichnungen für die Probleme beim Schriftspracherwerb: Legasthenie, Lese-Rechtschreib-Störung, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. Es gibt nicht nur eine terminologische Vielfalt, auch konzeptuell zeigen sich Differenzen. Ist nur derjenige auffällig, bei dem die Probleme beim Lesen und Rechtschreiben mit einer höheren Intelligenz einhergehen? Oder nach welchen Kriterien gelten leistungsschwache Kinder als besonders förderbedürftig?

Die Begriffe Legasthenie, Lese-Rechtschreib-Störung, Lese-Rechtschreib-Schwäche und Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (im Englischen developmental dyslexia, (specific) reading disability und reading retardation) bezeichnen Probleme beim Erwerb des Lesens und/oder des Rechtschreibens, die nicht durch eine geistige Behinderung des Kindes oder fehlenden Unterricht bedingt sind. Ebenfalls ausgeschlossen werden Kinder, die die entsprechende Sprache auch mündlich unzureichend beherrschen sowie Kinder mit erheblichen Beeinträchtigungen der Sinnesorgane wie starker Sehschwäche oder Schwerhörigkeit. In diesen Ausschlusskriterien stimmen die verschiedenen Konzeptualisierungen des Problems weitgehend überein. Kontroversen gibt es vor allem in der Frage, ob die Intelligenz eines Kindes bei der Diagnose zu berücksichtigen ist und nur diejenigen Kinder als betroffen gelten sollten, deren Intelligenz deutlich über ihrem Lese- und/oder Rechtschreibniveau liegt (Diskrepanzdefinition). Wissenschaftler und Praktiker, die das letztere Konzept vertreten, sprechen zumeist von Legasthenie oder Lese-Rechtschreib-Störung, diejenigen, die das Problem unabhängig von der Intelligenz sehen, von Lese-Rechtschreib-Schwäche und Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten.

Die diagnostischen Begriffe Lese-Rechtschreib-Schwäche und Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten unterscheiden sich nicht in ihrer Definition, aber in ihren Konnotationen: Der Begriff Lese-Rechtschreib-Schwierigkeit fokussiert die aktuellen Probleme im Lernprozess, während Lese-Rechtschreib-Schwäche das Problem stärker als Eigenschaft des Kindes konzeptualisiert. Im einleitenden Kapitel wurde schon deutlich, dass bei unzureichenden Lese- und Rechtschreibleistungen die kognitiven Voraussetzungen des Kindes mit Umweltfaktoren interagieren und eine rein eigenschaftsbezogene Konzeption des Versagens entsprechend nicht angemessen ist. Der primär beschreibende Begriff Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten wäre deshalb vorziehen. Allerdings ist dieser sprachlich etwas sperrig, so dass im vorliegenden Text doch auch Begriffe wie leseschwach und rechtschreibschwach verwendet werden. Am unproblematischsten ist die Abkürzung LRS, die für beide Begriffe stehen kann. Beide Termini sind der leistungsbezogenen Definition der LRS zuzuordnen, die die Probleme ausschließlich an den unzureichenden Lese- und/oder Rechtschreibleistungen eines Kindes festmacht, ohne seine Intelligenz oder die Leistungen in anderen Schulfächern zu berücksichtigen. Im Rahmen dieses Konzepts ist vor allem zu klären, bei welchem Ausmaß der Probleme von »Schwierigkeiten beim Erwerb des Lesens oder des Rechtschreibens« gesprochen werden sollte und wie diese zu operationalisieren sind. Entsprechende Überlegungen finden sich im nächsten Abschnitt ( Kap. 2.1). Die Diskrepanzdefinition wird im Anschluss erläutert ( Kap. 2.2) und diskutiert ( Kap. 2.3).

2.1       Die leistungsbezogene Definition


Die Lese- und Rechtschreibkompetenzen eines Kindes oder Jugendlichen sind das Ergebnis von Lernprozessen, die sich über viele Jahre erstrecken und durch die Schule gefördert werden. Entsprechend müssen die auftretenden Probleme im Kontext der bisherigen Lernerfahrung gesehen werden. In der Schule geschieht dies in einem ersten Schritt durch den Vergleich der Leistungen eines Kindes mit der Bezugsgruppe Klasse: Auffällig und Kandidaten für eine Förderung sind Kinder, deren Lese- und/oder Rechtschreibleistungen stark negativ vom Klassendurchschnitt abweichen und bei Ziffernzeugnissen mit 5 oder 6 bewertet werden. Nun ist bekannt, dass Schulnoten nicht unbedingt objektiv und vergleichbar sind, es vielleicht pädagogisch auch gar nicht sein müssen. Sie spiegeln nicht nur den Leistungsstand eines individuellen Kindes wider, sondern sind ebenso beeinflusst vom Leistungsniveau der ganzen Klasse und/oder Schule und von den Zensiergewohnheiten der einzelnen Lehrkraft (vgl. Valtin, Schmude et al., 2002).

Besondere Probleme beim Lesen und Rechtschreiben sollten deshalb im Zusammenhang mit genormten Testverfahren definiert werden und sind in der Praxis auch mithilfe dieser Verfahren zu diagnostizieren. Im deutschsprachigen Raum liegt eine Reihe guter Lese- und Rechtschreibtests vor ( Kap. 811). In Rechtschreibtests müssen die Kinder wie in Diktaten Wörter oder Sätze schreiben. Der Hauptunterschied zwischen einem Rechtschreibtest und einem Diktat besteht darin, dass zu einem Test Vergleichswerte vorliegen, sogenannte Normen. Die Interpretation der Testleistung eines Kindes erfolgt mit Bezug auf diese Normen. Es gibt prinzipiell drei Arten von Normen: Die soziale Norm, die kriteriumsorientierte Norm und die individuelle Norm.

Die soziale Bezugsnorm


Bei Zugrundelegung der sozialen Norm werden diejenigen Kinder als lese- und/oder rechtschreibschwach angesehen, die im Vergleich mit einer repräsentativen Stichprobe der gleichen Klassenstufe und der gleichen Schulform relativ niedrige Lese- und/oder Rechtschreibleistungen aufweisen. Operationalisiert werden niedrige Leistungen durch die Größe des negativen Abstands vom Mittelwert, wobei unterschiedliche Skalen Anwendung finden: Im pädagogischen Kontext wird häufig die Prozentrangskala verwendet, die recht anschaulich ist. Der jeweilige Prozentrang (PR) gibt den prozentualen Anteil der Bezugsgruppe wieder, der unterhalb eines Wertes liegt. Zur Diagnosestellung LRS werden häufig als Grenzwerte die PR 10 und 15 gewählt, die die leistungsschwächsten 10 bzw. 15 Prozent einer Population erfassen.

Abb. 2.1: Normalverteilung mit Prozentsatz der Fälle, die sich beim Abtragen von Einheiten der Standardabweichung (s) ergeben, T-Wert-Skala und Prozentrangskala (PR) (leicht verändert aus Lenhard, 2013, S. 75)

Die in Testverfahren erzielten Leistungen lassen sich in der Regel auch in T-Werte umrechnen. Die T-Wert-Skala ist eine standardisierte Skala mit einem Mittelwert von 50 und einer Standardabweichung von 10. Als Kriterium für das Vorliegen einer LRS dient dann die negative Abweichung vom Mittelwert in Einheiten der Standardabweichung. Auch hier gibt es keine verbindlichen Vorgaben: Sowohl in der Forschung als auch in der Praxis variieren die Grenzwerte zwischen einer und zwei Standardabweichungen unterhalb des Mittelwertes. Bei einer Normalverteilung der Testwerte liegen fast 16% der Fälle unterhalb einer Standardabweichung und lediglich 2,2% unterhalb von zwei Standardabweichungen.

Abbildung 2.2 illustriert die Leistungsunterschiede zwischen Kindern mit unterschiedlichen PR in einem Rechtschreibtest für das 3. Schuljahr. Schon ohne weitere Analyse sieht man, dass quantitativ abgestufte Leistungen beim Rechtschreiben sich auch qualitativ in den Rechtschreibfehlern niederschlagen. Kap. 11 wird dieses Phänomen im Rahmen eines entwicklungsorientierten Ansatzes interpretieren.

Abb. 2.2: Schreibungen von Kindern mit unterschiedlichen PR in einem Rechtschreibtest in der Mitte des 3. Schuljahrs (Ausschnitte aus der Hamburger Schreibprobe 3, May, 2002, © Ernst Klett Verlag GmbH)

Soziale Bezugsnormen haben ohne Zweifel eine gewisse ökologische Validität: Es sollen die Kinder gefördert werden, die Probleme haben, »in der Schule mitzukommen«. Auf der anderen Seite haben soziale Bezugsnormen auch Schwächen: Was immer es an didaktischen oder pädagogischen Verbesserungen geben mag, sie würden die Anzahl der von LRS Betroffenen nur vorübergehend reduzieren – genau bis zur Erhebung aktualisierter Normen zu einem Test, die von Zeit zu Zeit vorgenommen wird: Die 10% oder 15% Schwächsten wird es immer geben! Ein Ausweg ist die kriteriumsorientierte Norm, die im folgenden Abschnitt besprochen wird.

Die kriteriumsorientierte Norm


Bei der kriteriumsorientierten Norm (auch: lehr- oder lernzielorientierte Norm) wird ein Leistungsstandard festgelegt, an dem die Leistung eines Probanden gemessen wird. Im einfachsten Fall soll ein kriteriumsorientierter Test die Frage beantworten, ob ein Proband diesen Leistungsstandard...

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