Weltklasse - Schule für das 21. Jahrhundert gestalten

Weltklasse - Schule für das 21. Jahrhundert gestalten

von: Andreas Schleicher

wbv Media, 2019

ISBN: 9783763960231

Sprache: Deutsch

357 Seiten, Download: 7109 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Weltklasse - Schule für das 21. Jahrhundert gestalten



WELTKLASSE

2. Bildungsmythen entlarven

Internationale Schulleistungsstudien wie PISA halten den Ländern einen Spiegel vor, in dem sie sehen können, wie sie im Vergleich zu anderen Schulsystemen abschneiden. Außerdem räumen sie mit vielen falschen Vorstellungen auf, die einer Verbesserung der Bildungssysteme im Weg stehen können.

Kinder aus armen Verhältnissen werden in der Schule stets schlechter abschneiden – Armut ist Schicksal

Überall auf der Welt sind die Lehrkräfte bemüht, durch ihren Unterricht die milieubedingte Benachteiligung einiger ihrer Schülerinnen und Schüler auszugleichen. Dennoch sind manche überzeugt, dass Armut Schicksal ist. Die PISAErgebnisse zeigen aber, dass dies ein Irrglaube ist. Es ist in keiner Weise vorbestimmt, wie gut oder schlecht Kinder aus unterschiedlichen sozialen Gruppen in der Schule oder im Leben abschneiden.

Die Geschichte hat nämlich zwei Seiten. Einerseits ist in allen PISA-Teilnehmerländern ein Zusammenhang zwischen dem sozialen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler sowie der Schulen und den Lernergebnissen festzustellen – was für Lehrpersonal und Schulen eine große Herausforderung darstellt1. Andererseits ist dieser Zusammenhang in den einzelnen Bildungssystemen sehr unterschiedlich stark ausgeprägt. Dies beweist, dass schlechte Noten sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler nicht unvermeidlich sind. In der PISA-Erhebung 2012 erzielten die am stärksten benachteiligten 10% der 15-Jährigen in Shanghai bessere Mathe-matikergebnisse als die am stärksten begünstigten 10% der Schülerinnen und Schüler in den Vereinigten Staaten und vielen anderen Ländern2. Ähnliches war in der PISA-Erhebung 2015 für Estland und Vietnam festzustellen, in der die am stärksten benachteiligten 10% der Schülerinnen und Schüler genauso gut abschnitten wie der Durchschnitt der Schüler im OECD-Raum (vgl. ABB. 1.1).

Wenn also die am stärksten benachteiligten Schülerinnen und Schüler in Estland, Shanghai und Vietnam genauso gute Leistungen erzielen wie der Durchschnitt der Schüler in den westlichen Ländern, warum sollten dann die am stärksten benachteiligten Kinder in diesen anderen Ländern nicht genauso gut abschneiden wie ihre Altersgenossen in Estland, Shanghai und Vietnam?

Kinder aus ähnlichen sozialen Verhältnissen erzielen manchmal sehr unterschiedliche Ergebnisse, je nachdem, welche Schule sie besuchen oder in welchem Land sie leben. Länder, in denen benachteiligte Schülerinnen und Schüler in der Schule Erfolg haben, sind in der Lage, den Einfluss sozialer Ungleichheiten abzuschwächen. Einigen dieser Länder gelingt es, die begabtesten Lehrkräfte für die schwierigsten Klassen und die erfahrensten und fähigsten Schulleiterinnen und Schulleiter für die am stärksten benachteiligten Schulen zu gewinnen. Außerdem stellen sie ihren Pädagogen die nötige Unterstützung zur Verfügung, um erfolgreich zu sein. Sie setzen hohe Standards und erwarten von allen Schülerinnen und Schülern, dass sie diesen gerecht werden. Sie nutzen Unterrichtsmethoden, die es Schülerinnen und Schülern unabhängig von ihrem sozioökonomischen Hintergrund ermöglichen, auf die für sie geeignetste und effektivste Art und Weise zu lernen.

Zwar gibt es in sämtlichen Ländern einige hervorragende Schülerinnen und Schüler, doch ermöglichen nur wenige Länder der Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler, Spitzenleistungen zu erzielen. Eine Erhöhung der Bildungsgerechtigkeit ist nicht nur aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit zwingend erforderlich, sondern trägt auch dazu bei, Ressourcen effizienter zu nutzen und zu gewährleisten, dass jeder zum Wohl der Gesellschaft beitragen kann. Was für eine Gesellschaft wir sind, zeigt sich letztlich daran, wie wir die sozial schwächsten Kinder bilden und aufs Leben vorbereiten.

Kleine Einführung in die PISA-Studie

Kern der PISA-Erhebung ist ein international vereinbarter Katalog an Testaufgaben in den Bereichen Mathematik, Lesekompetenz, Naturwissenschaften sowie einer Reihe innovativer Bereiche. Die PISA-Tests werden alle 3 Jahre in einer repräsentativen Stichprobe 15-jähriger Schülerinnen und Schüler in den Teilnehmerländern durchgeführt. Das Alter von 15 Jahren wurde als Vergleichsparameter gewählt, da es im Allgemeinen das letzte Jahr ist, in dem noch alle Jugendlichen zur Schule gehen.

Die PISA-Studie ist eng mit der Internationalen OECD-Vergleichsstudie der Kompetenzen Erwachsener (PIAAC) abgestimmt, die die Lese- und Mathematikkompetenz sowie die Kenntnisse in Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) in der Altersgruppe 16-65 Jahre misst. Während PISA den Blick zurück richtet, um zu analysieren, wie gut es den Schulsystemen gelingt, das Fundament für ein erfolgreiches Leben zu legen, schaut PIAAC nach vorne und untersucht, wie sich die Ausgangskompetenzen auf den weiteren Lernprozess sowie wichtige wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitische Ziele auswirken.

PISA beurteilt sowohl das Fachwissen der Schülerinnen und Schüler als auch ihre Fähigkeit, dieses Wissen kreativ anzuwenden, auch in ungewohnten Kontexten.

Das Grundschema der Erhebungen ist seit PISA 2000, als es zum ersten Mal angewandt wurde, unverändert geblieben. Dadurch sind die Ergebnisse von einer Testrunde zur nächsten vergleichbar. Dies gibt den Ländern die Möglichkeit, Verbesserungen der Schülerleistungen im Zeitverlauf zu bildungspolitischen Veränderungen in Bezug zu setzen.

Es werden erhebliche Anstrengungen darauf verwendet sicherzustellen, dass das Testmaterial kulturell und sprachlich vielfältig und ausgewogen ist. Bei Testgestaltung, Übersetzung, Stichprobenauswahl und Datenerhebung werden strenge Mechanismen der Qualitätssicherung eingesetzt.

PISA ist ein Kooperationsprojekt. Führende Experten aus den Teilnehmerländern entscheiden über Umfang und Art der Leistungsmessung und der Hintergrundbefragung. Dies geschieht unter der Aufsicht der zuständigen staatlichen Stellen dieser Länder, die sich dabei von gemeinsamen bildungspolitischen Interessen leiten lassen.

Einige amerikanische Kritiker vertreten den Standpunkt, dass internationale Bildungsvergleiche von begrenztem Wert sind, da der Anteil benachteiligter Schülerinnen und Schüler in den Vereinigten Staaten größer sei als in anderen Ländern. In Wirklichkeit haben die Vereinigten Staaten anderen Ländern gegenüber viele sozioökonomische Vorteile. Das Land ist wohlhabender und gibt mehr Geld für Bildung aus als die Mehrzahl der Länder. Ältere US-Bürger haben ein höheres Bildungsniveau als ihre Altersgenossen in den meisten anderen Ländern, was für ihre Kinder wiederum ein großer Vorteil ist. Im Übrigen entspricht der Anteil der sozioökonomisch benachteiligten Schülerinnen und Schüler in den Vereinigten Staaten in etwa dem OECD-Durchschnitt.

In früheren PISA-Erhebungen hatte eine sozioökonomische Benachteiligung in den Vereinigten Staaten besonders starke Auswirkungen auf die Schülerleistungen. Mit anderen Worten klafften die Lernergebnisse zweier Schüler mit unterschiedlichem sozioökonomischem Hintergrund in den Vereinigten Staaten sehr viel weiter auseinander, als dies in den OECD-Ländern generell der Fall war.

Aber genau hier wird die Geschichte interessant: Die PISA-Ergebnisse der Vereinigten Staaten zeigen nämlich auch, wie der Teufelskreis der Disparitäten bei den Lernerträgen, die zu größeren Ungleichheiten bei den Zukunftschancen und einer geringeren sozialen Mobilität führen, durchbrochen werden kann.

Zwischen 2006 und 2015 hat sich der Zusammenhang zwischen sozialem Hintergrund und Schülerleistungen in den Vereinigten Staaten stärker abgeschwächt als in allen anderen PISA-Teilnehmerländern: 2006 war unter den am stärksten benachteiligten 15-Jährigen in den Vereinigten Staaten nur jeder Fünfte in der Lage, in Naturwissenschaften Spitzenleistungen zu erzielen – 2015 nahezu jeder Dritte. Damit ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die den amerikanischen Traum der sozialen Mobilität vielleicht verwirklichen werden, innerhalb von nicht einmal zehn Jahren um 12 Prozentpunkte gestiegen. Auch wenn in den Vereinigten Staaten weiterhin ein Leistungsgefälle zwischen sozioökonomisch begünstigten und benachteiligten Schülerinnen und Schülern besteht, zeigen diese Daten doch, welch große Verbesserungen möglich sind – und wie rasch sie erzielt werden können (ABB. 2.1)

Migranten senken das Leistungsniveau der Schulen

In den vergangenen Jahren haben Tausende von Migranten und Asylsuchenden – darunter so viele Kinder wie nie zuvor – der rauen See und Stacheldrahtzäunen getrotzt, um in Europa Sicherheit und ein besseres Leben zu finden. Sind unsere Schulen gerüstet, aus dem Ausland stammende Schülerinnen und Schüler bei der Integration in ihr neues Lebensumfeld zu unterstützen? Und gelingt es ihnen, alle Schülerinnen und Schüler auf eine Welt vorzubereiten, in der die Menschen bereit und in der Lage sind, mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zusammenzuarbeiten? Viele sind der Meinung, dies sei schlicht unmöglich.

Die PISA-Ergebnisse widerlegen dies. Sie zeigen, dass zwischen dem Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in einem Land und der Gesamtleistung der Schülerpopulation in diesem Land kein Zusammenhang besteht (ABB. 2.2) Selbst Schülerinnen und Schüler mit identischem Migrationserlebnis und -hintergrund schneiden in verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich ab. Dabei spielt die vor der Migration erworbene Bildung zwar eine Rolle, noch wichtiger scheint aber zu sein, wo die Schüler danach...

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