Von fliegenden Kindern und grässlichen Monstern - Was Träume über unsere Kinder verraten

Von fliegenden Kindern und grässlichen Monstern - Was Träume über unsere Kinder verraten

von: Georg Milzner

Beltz, 2019

ISBN: 9783407865670

Sprache: Deutsch

262 Seiten, Download: 3475 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Von fliegenden Kindern und grässlichen Monstern - Was Träume über unsere Kinder verraten



Einleitung: Zeit für Kinderträume


An welche Träume unserer Kindheit erinnern wir uns? Viel mehr als ein oder zwei sind es meist nicht, aber diese Träume, die dann eben doch übrig bleiben, haben es in sich.

Im Traum, an den ich mich als Erstes erinnere, kam Pippi Langstrumpf durch unseren Garten geritten. Ich sehe das Bild noch vor mir: Das weiße Pferd mit Pippi darauf, im Schritt über den mit Platten belegten Weg in meine Richtung kommend. Und ich fühle die glückliche Überraschung noch: dass das möglich ist …

Albträume erinnere ich allerdings auch, wie wir uns oft vor allem an das Angsterzeugende erinnern, das uns nächtlich heimsucht.

*

Jede Zeit bringt ihre eigenen Träume hervor, und jede Zeit hat ihre eigenen Stärken und Schwächen. Wenn unsere heutige Zeit so vieles gut macht in Hinsicht auf die Abkehr vom Strafen, das Würdigen kindlicher Eigenheiten und die Sensibilität für eine gesunde kindliche Entwicklung, so tun sich auf der anderen Seite neue Leerstellen auf. Dabei stoße ich immer wieder auf eine spezielle Leerstelle: Niemals scheinen Kinder so sehr allein zu sein wie nachts, wenn sie träumen. Doch spiegelt sich in den nächtlichen Träumen alles das wider, was unsere nach außen gerichtete Lebenswelt nicht sieht und was auch wir Eltern im Trubel des Alltags häufig übersehen. Das kann die Einsamkeit in der Kita ebenso sein wie die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, es können märchenhafte Welten sein oder die wilde Freiheit eines Kindes, das alles ausprobieren will, was ihm unser elterliches Sicherheitsbedürfnis verbietet.

Die Welt der Träume ist ein so wesentlicher und prägender Teil der Kindheit, dass man ihn kaum hoch genug wertschätzen kann. Wer je ein Kind im Arm hielt, das, von einem Albtraum gepeinigt, Angst hatte, wieder einzuschlafen, wird das Gefühl der Hilflosigkeit nicht vergessen, das dabei entstand. Und wer je sah, wie die Augen eines Kindes nach einer Wunscherfüllung im Traum noch den halben Tag nachleuchten, dem bleibt auch das in Erinnerung.

Träume sind Schätze – gerade weil sie hochgradig emotionale Geschehnisse sind. Träume sind überdies immer Ausdruck der Beschäftigung mit sich selbst, und als solche öffnen sie uns wertvolle Einblicke in die Seelen unserer Kinder. Es ist die starke, sie begleitende Emotion, die dazu führt, dass wir auch lange zurückliegende Träume noch gut erinnern können.

Träume können die Kindheit für Erfahrungen öffnen, die sonst eher außerhalb der kindlichen Welt liegen. Mag das Kind auch tagsüber Lego bauen, Puppenwagen schieben, Memory spielen oder Tiere malen, in den Nächten finden andere Dinge statt. Und nicht alle sind so, dass wir sie, wenn sie etwa Videos wären, »kindgerecht« nennen würden. Ich bin selbst Vater von vier Kindern. Und ich habe sowohl mit meinen als auch mit anderen Kindern erlebt, wie reich das kindliche Innenleben ist. Wie unfassbar farbig die Kreativität ist, die in Träumen erkennbar wird. Und wie verstörend und fantasymäßig manches ist, was Kindern, die sich bei Tag mit Fußball, Puppentheater oder Minecraft beschäftigen, in den Nächten widerfährt.

Träume sind die Basis des kindlichen Vorstellungsvermögens und der kindlichen Kreativität. In ihnen finden Konfliktbewältigungen ebenso statt wie Wunscherfüllungen, sie enthalten Trainings ebenso wie die Möglichkeit der Erkundung neuer Welten. Dass Träume und Kreativität so eng zusammenhängen, bedeutet überdies, dass sie bizarrer, fantastischer und eben auch bedrohlicher sein können, als es die äußere Wirklichkeit ist.

Kann man ein Kind gut kennen, von dessen Träumen man gar nichts weiß? Ich glaube, nein. Weil Träume einen so unglaublich großen Anteil des kindlichen Lebens ausmachen. Und weil die Persönlichkeit eines Kindes sich in seinen Träumen auf ganz unverwechselbare Weise zeigt.

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Um Eltern und Erziehenden Zugänge zur nächtlichen Welt ihrer Kinder zu öffnen, habe ich die wichtigsten Fragen, die Eltern tagtäglich an mich herantragen, zusammengestellt. Sie umfassen vieles, von der Frage, warum es überhaupt Albträume gibt, bis zu der Frage, ob Kinder im Schlaf eigentlich klüger werden können. Um dieser Vielfalt gerecht zu werden, habe ich Wissen aus unterschiedlichen Sphären zusammengebracht. Ich bringe für Sie Modelle, die wir über die kindliche Psyche haben, mit konkreten Erfahrungen, wie ich sie als Psychologe in rund einem Vierteljahrhundert gesammelt habe, zusammen, um so zu verlässlichen Zugängen zur kindlichen Traumwelt zu gelangen und um Hinweise geben zu können, die im Umgang mit Ihrem träumenden Kind hilfreich sind. Was die in dieses Buch eingeflossenen Forschungsergebnisse und Sichtweisen angeht, so nutze ich diese ganz individuell auf die Situation der Eltern bezogen. Denn ich halte Erfahrungswissen für mindestens ebenso relevant wie Forschungswissen. Dies hat auch damit zu tun, dass die kindliche Erlebnisweise für den Umgang mit dem Traum das Entscheidende ist. Nur über ihr persönliches Erleben können wir Kindern helfen, mit ihren Träumen gut zurechtzukommen.

Als Hypnotherapeut und Hypnoanalytiker beschäftigt mich das unbewusste Potenzial von Menschen viel, und ich habe eine Reihe von mentalen Zugängen entwickelt, wie man ihm näherkommen kann. Aber eigentlich muss ich wohl sagen: Ich arbeite nicht erst seit meiner Berufsfindung mit Träumen und dem Unbewussten. Das fing schon als Kind an. Als ich mir die Frage zu stellen begann, was an Träumen wahr war und was nicht. Und warum äußere Eindrücke so leicht in sie Eingang fanden. Da war zum Beispiel die Schlange, die aus einem Holzstoß hervorschoss, von dem ein Mann Scheite herunternahm, um den Kamin anzufeuern. Ich hatte das Bild aus einem Comic, und es ging als angsterzeugende Szene in meine Träume mit ein. Ein andermal träumte ich von drei Sorten Eis in einem Hörnchen, wo es sonst immer nur eine oder maximal zwei Kugeln gab.

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In den letzten Jahren scheint mir die Zahl derer, die von ihren Träumen nichts wissen, größer geworden zu sein. Das ist schade, denn wer sich nicht für seine Träume interessiert, verpasst so viel. Von Träumen überhaupt nichts zu wissen, bedeutet eine Einbuße an menschlichem Potenzial. Das gilt insbesondere für alle, die mit Kindern leben. Denn hier merkt man ziemlich schnell: Ganz ohne Träume geht es nicht. Erwachsene können sich entscheiden, ihre Träume zu ignorieren. Kinder nicht. Träume sind ein so elementarer Bestandteil der Kindheit wie Spielen und Erzählen.

Zeit also dafür, das Wesen und insbesondere die Vielfalt des kindlichen Traums neu zu entdecken. In einer Welt, die von Stimuli wimmelt, ist der Bezug auf die eigene innere Bildwelt ein nicht zu stehlender Schatz und ein beständig wachsender Reichtum.

Denn Träume sind, wie auch die Hirnforschung bestätigt, gelebtes Leben. Unser Netzwerk nach innen, unser Intranet, wenn man so will, übersteigt bei Weitem das, was die Medienindustrien uns bieten können. Träume sind Geschichten, die wir uns ohne Absicht erzählen. Träume lassen uns erleben, wer wir sein könnten und was uns widerfahren mag. Träume können scheinbar banal sein. Und nicht selten stoßen sie das Tor zu einer Welt auf, die wir sonst nur aus der Fantasy kennen.

Was das Kind erlebt, ist für das Kind auch relevant. Kinder finden Träume daher auf natürliche Weise bedeutsam. Nicht wahr in dem Sinn, dass sie sich mit der äußeren Realität decken würden. Auch nicht wichtig in dem Sinn, dass sie ihnen etwas mitzuteilen hätten. Sondern bedeutsam, weil sie eben Teil ihres Lebens sind. Wenn wir genau hinsehen und hinhören, spüren wir das.

Es gibt nicht viele wissenschaftliche Arbeiten über die Träume von Kindern, und auch populäre Bücher über Kinder, die sich an eine größere Leserschaft wenden, beschäftigen sich nur sehr selten mit dem Thema des kindlichen Träumens. Manche Forscher mögen in den letzten Jahren geglaubt haben, die Beschäftigung mit Träumen werde allmählich obsolet. Neue Themen, insbesondere die Digitalisierung, haben den Blick nach innen, der für die Beschäftigung mit Träumen so wichtig ist, durch den Blick nach außen, auf das Messbare hin, ersetzt. Aber nichts könnte falscher sein, als die mediale Entwicklung gegen die Welt der nächtlichen Träume aufzuwiegen. Was Menschen immer getan haben – eben träumen –, werden sie fraglos auch weiterhin tun. Im Zeitalter der Digitalisierung sind unsere Träume wichtiger denn je. Denn je verlässlicher uns unsere seelischen Wurzeln zu halten vermögen, umso sicherer sind wir bei der Eroberung neuartiger Technologien.

Wo Kinder also in eine immer stärker durchtechnisierte Welt hineinwachsen, da ist die natürliche seelische Ressource der Träume von kaum zu überschätzendem...

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