Autismus - Was Eltern und Pädagogen wissen müssen

Autismus - Was Eltern und Pädagogen wissen müssen

von: Christiane Arens-Wiebel

Kohlhammer Verlag, 2019

ISBN: 9783170347830

Sprache: Deutsch

220 Seiten, Download: 4322 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Autismus - Was Eltern und Pädagogen wissen müssen



2          Die Autismusdiagnose


 

2.1       Diagnosestellung


Mit der Überweisung des Kinderarztes gehen die Eltern mit dem Kind zum Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ). Im Vorfeld haben sie bereits Fragebögen zur Vorgeschichte (Anamnese) ausgefüllt und aufgeschrieben, was ihnen Sorgen macht. Im SPZ werden die Eltern und das Kind freundlich begrüßt und sie werden in einen großen Untersuchungsraum mit motorischen Angeboten, einem Kindertischchen und ein paar Spielsachen geführt. Das Kind entdeckt eine mit bunten Bällen gefüllte Badewanne und fängt sogleich an, die Bälle dort herauszuholen und im Raum umherzuwerfen. Nun bemühen sich eine Krankengymnastin und eine Logopädin darum, Zugang zu dem Kind zu finden, d. h. mit ihm zu spielen und ihm Spaß im Kontakt zu verschaffen. Parallel dazu berichten die Eltern der anwesenden Psychologin, wie die Entwicklung des Kindes bis zum derzeitigen Zeitpunkt verlaufen ist und worüber sie sich Sorgen machen.

Die Familien sind i. d. R. insgesamt für zwei bis drei Termine im SPZ. Beim letzten Termin wird ihnen eine Diagnose bzw. ein Verdacht mitgeteilt. Die Berichte von Eltern über den Verlauf der Untersuchungen im SPZ sind sehr unterschiedlich. Manche Eltern berichten über eine sehr lange Zeit, in der sich das SPZ nicht auf eine Diagnose habe festlegen wollen, sodass sie viel zu spät gestellt worden sei. Jahre später habe bspw. ein Kinder- und Jugendpsychiater oder die Ärztin des Gesundheitsamts die Autismusdiagnose ausgesprochen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist eine lange Zeit ohne eine behinderungsspezifische Förderung vergangen. Anderen Eltern dagegen konnte sofort geholfen werden. In jedem Fall ergibt sich hieraus der wichtige Rat an Eltern, sich nicht ›abwimmeln‹ zu lassen, sondern ggf. eine andere Diagnostikeinrichtung aufzusuchen, z. B. das SPZ in der Nachbarstadt.

Wenn die Eltern mit dem dringenden Verdacht oder der sicheren Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung, d. h. einem Frühkindlichen Autismus, nach Hause geschickt werden, wird ihnen geraten, unbedingt so schnell wie möglich eine Frühförderung zu initiieren, am besten durch einen autismusspezifischen Anbieter.

Nun ist eine Diagnose gestellt, und die Eltern fühlen sich erschlagen von dem, was sie schon lange befürchtet haben. Eine schwere Behinderung bei ihrem ersehnten und geliebten Kind. Sie erhalten noch umfangreiche Informationen zu ihren Rechten als Eltern eines derart beeinträchtigten Kindes wie Pflegegrad und Pflegehilfsmittel, Schwerbehinderung, Steuerentlastungen usw. und werden gebeten, in einem halben Jahr wiederzukommen. Die Adresse der Frühförderstelle wird ihnen ausgehändigt und ein Bericht an den Kinderarzt angekündigt.

Viele Eltern berichten, dass sie sich in den ersten Wochen nach der Diagnosestellung in einer Phase tiefer Traurigkeit und Verzweiflung befunden hätten. In ihnen hätten sich starke Gefühle von Wut (»Warum gerade wir?«), Hilflosigkeit (»Wie sollen wir das nur schaffen?«), Angst (»Wie wird unsere Zukunft und die unseres Kindes aussehen?«) und Mutlosigkeit (»Damit können wir nicht zurechtkommen, damit haben wir ja gar keine Erfahrungen!«) breit gemacht. Viele von ihnen fühlten sich in den ersten Wochen nicht dazu in der Lage, mit Freunden oder Familie darüber zu sprechen, auch weil sie sich schämten und sich überfordert und ratlos fühlten.

Die Mutter von Toni berichtet: Wir kamen mit dem Kind nach Hause mit dieser belastenden neuen Diagnose. Plötzlich ist alles anders, wir hatten die Wahrheit gehört und mitgebracht. Was nicht anders ist, das sind das Zuhause, die größere Tochter, die Familienangehörigen, die Räume, die Alltagsrituale, die Verpflichtungen. Das Kind ist nicht weniger anstrengend als vorher, das andere Kind muss pünktlich zur Schule gehen und bei den Hausaufgaben unterstützt werden, die Schmutzwäsche wartet und eingekauft werden muss auch noch. Aber nun ist da diese Diagnose, und wir müssen uns überlegen, wie es weitergehen kann. Dabei ist doch alles andere schon so anstrengend.

Zu den Zweifeln und der inneren Krise der Eltern kommt, dass sie sich Vorwürfe machen, selbst eine Schuld an der Diagnose bzw. dieser speziellen Behinderung zu haben. Man hat ihnen im SPZ etwas von Genetik gesagt – wer aus der Familie hat diese Veranlagung vererbt? Gibt es noch einen oder mehrere andere Gründe? Hat sich die Mutter in der Schwangerschaft nicht optimal ernährt? Hat es ein Ereignis gegeben, das zu der Autismus-Spektrum-Störung geführt haben könnte? Ein Erschrecken beim Kirmesbesuch, eine Infektion der Mutter, die vielleicht bagatellisiert wurde, ein Ereignis bei der Geburt, vielleicht völlig unbemerkt? Dass Eltern sich diese Fragen stellen, ist ganz normal, es geht immer darum, zu verstehen und sich erklären zu können, was passiert ist.

Manche Pädagogen versuchen, die Eltern davon abzuhalten, sich diese Gedanken zu machen mit dem Ratschlag, die Autismusdiagnose anzunehmen und damit so gut wie möglich zu leben. Das jedoch ist nicht so einfach. Fachleute sagen, dass es mehrere Phasen der Verarbeitung von Trauer gibt, wenn Eltern mit einer solchen Diagnose konfrontiert werden. Diese Phasen laufen niemals linear ab, sondern in unterschiedlicher Art und Weise. Jedoch sind immer Gefühle von Trauer, Verzweiflung und Wut vorhanden und es vergeht Zeit, bis die Diagnose akzeptiert werden kann. Dann schaffen es die Eltern, sich Gedanken zu machen, wie es weitergehen kann. Manche Eltern brauchen hierfür sehr lange und verfallen zunächst in eine tiefe Depressivität, bei anderen tritt die Fähigkeit, in Handlung und Aktivität zu gehen, schon viel früher ein. Es gibt kein ›richtig‹ oder ›falsch‹. Es ist nur wichtig, dass irgendwann etwas passiert, also Schritte für eine Förderung initiiert werden. Schwierige Lebensphasen, in denen nochmals Zweifel, Angst, Trauer, Wut oder Scham entstehen, kann es immer wieder geben und jedes Mal bedeuten sie eine schwere emotionale Zeit für die Eltern.

Ein anderer belastender Moment, über den immer wieder von Müttern autistischer Kinder berichtet wird, ist, dass manche Väter besonders große Probleme haben, die Autismusdiagnose zu akzeptieren. Mit der Geburt bzw. der Diagnose einer Behinderung wird das Selbstbild des Vaters als Mann gefährdet. Die veränderte Lebenssituation zwingt viele Väter und Mütter von persönlichen Lebensentwürfen, Träumen und Zielen Abschied zu nehmen. Zunächst einmal trifft das beide Elternteile gleichermaßen. Seine Berufstätigkeit erschwert dem Vater allerdings die Auseinandersetzung mit der Behinderung, da er häufig der Haupterwerbstätige der Familie ist. Er muss ›einen kühlen Kopf bewahren‹ und finanziell für die Familie sorgen, da liegt es nahe, die Arbeit qualitativ und quantitativ zu intensivieren, auch um nicht in dem Ausmaß mit der häuslichen Situation konfrontiert zu werden wie seine Partnerin. Die Geschlechterrolle verlangt darüber hinaus Sachlichkeit und Selbstkontrolle. Der Vater bewältigt die Behinderung des Kindes rationaler und hält seine Gefühle zurück, obwohl ihn die Erkenntnis, dass sein Kind nie normal sein wird und vielleicht niemals seine Wunschvorstellung von einem Sohn oder einer Tochter erfüllt sein wird, sehr trifft. Auch wenn seine Partnerin den Eindruck hat, dass er scheinbar ohne Gefühle auf die Behinderung reagiert oder diese sogar leugnet, kann es sein, dass in seinem Innersten eine sehr große Kränkung stattgefunden hat, die verhindert, dass er sich mit der Behinderung seines Kindes bewusst auseinandersetzt. Das ist kein aktives Leugnen, sondern eine Art der Verdrängung und ein Zeichen für einen großen Schmerz. Zusätzlich haben die Väter auch heute noch Angst vor sozialer Diskriminierung, weil sie befürchten, dass Kollegen oder Freunde geringschätzend auf sie herabblicken, weil sie ein behindertes Kind bekommen haben. Sie wollen vermeiden, dass sie für weniger leistungsfähig gehalten werden, weil es zu Hause ein Problem gibt, und versuchen, das mit erhöhter Leistungsbereitschaft wettzumachen. Allerdings birgt das die Gefahr der Überbelastung der Mütter und verhindert oft auch deren Möglichkeiten, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das führt vielfach dazu, dass die Mutter die Haupt-Bezugsperson des Kindes ist, und die Vater-Rolle durch diese Rollenteilung zwischen Mutter und Vater zusätzlich eingeschränkt wird. Die Mutter wird quasi zur Expertin der Behinderung des Kindes und der Vater wird in seiner Rolle eher als nebensächlich oder auch weniger kompetent angesehen. Es ist aber davon auszugehen, dass für die Entwicklung und das Wachsen in eine Geschlechterrolle für das...

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