Erleben und Lernen - Einführung in die Erlebnispädagogik

Erleben und Lernen - Einführung in die Erlebnispädagogik

von: Bernd Heckmair, Werner Michl, Holger Seidel

ERNST REINHARDT VERLAG, 2018

ISBN: 9783497610136

Sprache: Deutsch

339 Seiten, Download: 6092 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Erleben und Lernen - Einführung in die Erlebnispädagogik



2Rundblicke:
Von Aberdovey bis Zimbabwe

In der Wurstigkeit gegen alle Probleme liegt die letzte Vorahnung davon, wie es wäre, ihnen gewachsen zu sein. Weil alles problematisch wurde, ist alles irgendwie egal.

Peter Sloterdijk,

Kritik der zynischen Vernunft

 

2.1  Der Weg einer Idee – Kurt Hahns Erlebnispädagogik auf allen Kontinenten

Das konjunkturelle Hoch der Erlebnispädagogik in Deutschland wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Pendant in den angelsächsischen Ländern zu den fest etablierten Disziplinen im weiten Feld der Pädagogik zählt. Es ist hierzulande ein Nachholbedarf zu befriedigen bzw. ein inhaltliches Vakuum aufzufüllen, wenn man so will. Die gesellschaftspolitischen, sozialen und ökologischen Entwicklungen begünstigen den momentanen Höhenflug der Erlebnispädagogik zusätzlich.

Kurt Hahn konnte sich in Großbritannien auf einen Fundus von Erfahrungen stützen, die er beim Aufbau und in der Leitung von Landerziehungsheimen in Deutschland sammelte. Die ersten erlebnispädagogischen Kurse, die Hahn in Zusammenarbeit mit dem Reeder Laurence Holt 1941 an der Westküste von Wales initiierte, wurden zudem ganz wesentlich vom Geist britischer Seefahrt getragen. Holt hat das in seiner Rede anlässlich der Eröffnung der Outward Bound School in Aberdovey besonders hervorgehoben: „That spirit that has led her sons to adventure upon the seven seas.“1 Das Abenteuer hat ohnehin in der pädagogischen Literatur Englands seinen festen Platz. Durch die Tradition der Public Schools, den Landerziehungsheimen und einem staatlichen Schulsystem, das weniger körperfeindlich war als beispielsweise das deutsche um die Jahrhundertwende und während der Weimarer Zeit, waren insgesamt günstige Voraussetzungen für ein pädagogisches Programm vorhanden, das auf körperliche Bewegung in der Natur setzte. Demgegenüber war im Nachkriegsdeutschland alles verpönt, was in seiner Äußerlichkeit an die Rituale von Körperertüchtigung und Volksgesundheit im Nationalsozialismus erinnerte.

Hahns Verbindungen zu amerikanischen Wissenschaftlern und Politikern, die er während des Ersten Weltkriegs kennen gelernt hatte, förderte in den 1960er Jahren die Gründung von Outward Bound Schools in den USA. Für Amerika war diese Art der Erziehung ein Novum. Die Arbeit der Pfadfinder scheint damals in erster Linie auf das Erlernen verschiedener „skills“ (Techniken) ausgerichtet gewesen zu sein, weniger im pädagogischen Sinne auf die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen (vgl. dazu: Miner 1966, 293ff.). In Kürze entstanden neben Outward Bound eine Vielzahl ähnlicher Initiativen und Projekte. Frühzeitig entdeckten auch Wissenschaft und Forschung die noch junge Disziplin der Erlebnispädagogik.

Outward Bound Schools wurden in erster Linie im „Einzugsgebiet“ des Commonwealth gegründet, und zwar bereits in den 1950er Jahren in Afrika, in den 1960ern dann in Australien, Neuseeland und Asien. Auf dem europäischen Kontinent konnte sich Hahns Modell in Deutschland, den Niederlanden und Belgien, später dann in Frankreich und seit Beginn der 1990er Jahre in einigen osteuropäischen Ländern etablieren.

Der „Duke of Edinburgh Award“ wurde 1956 von Kurt Hahn zusammen mit Prinz Philip, dem Duke of Edinburgh, entwickelt. Inzwischen ist der „Award“ in über 100 Ländern eingeführt. „Head, Heart, Hands, Health (4 H)“ gibt es in mehr als 80 Ländern der Erde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde es in den USA begründet. Vor allem in ländlichen Gebieten der Entwicklungsländer ist diese einfache und effiziente Pädagogik, die einige Parallelen zur Erlebnispädagogik hat, ein wichtiger Katalysator für nachhaltige Entwicklung.

2.2  Weder exotisch noch neu – Experiential Education

„Experiential Education“ ist das Gegenstück zur „handlungs- und erfahrungsorientierten Pädagogik“, die hierzulande erst in den letzten Jahren reüssierte. Im 1650 Seiten starken Lexikon der „Pädagogischen Grundbegriffe“ von 1989 (Lenzen) sucht man den Begriff „handlungsorientierte Pädagogik“ noch vergebens. Acht Jahre später stellt Beck unter dem Titel „Handlungsorientierung des Unterrichts“ (Beck 1996) 19 Ansätze von ebenso vielen Autoren zu diesem Thema vor. Bis auf eine Ausnahme wurden alle nach 1989 publiziert. Orientieren wir uns also an den Vereinigten Staaten als eine der Hochburgen der „handlungsorientierten Pädagogik“. Die „Association of Experiential Education“, sozusagen die geistige Plattform des Handlungslernens, nimmt für sich in Anspruch, nicht nur die in Nordamerika arbeitenden Organisationen und Personen zu vertreten, sondern auch den „Rest der Welt“. Sie definiert ihren Gegenstand wie folgt: „Experiential Education is a process through which a learner constructs knowledge, skill, and value from direct experiences.“ (Luckmann 1996)2

Dieses offene, raumgreifende Verständnis knüpft mit dem Verbum „to construct“ an die progressiven Konzepte der Reformpädagogik an und schließt musisch-kreative Ansätze mit ein: vom Theater bis zur Malerei, von der Gestaltarbeit bis zur Tanztherapie. Das Pendant zur Erlebnispädagogik hierzulande heißt jedoch nicht „Experiential Education“, sondern vielmehr „Adventure Education“. Wem der Terminus „Education“ zu eng ist, der kann sich auch an den Begriff „Adventure Programming“ halten. Letzterer bezieht sich nicht auf Erziehung im engeren Sinne, sondern schließt Formen wie Freizeitpädagogik, Training und Therapie mit ein.

Mit dem Terminus „Adventure Programming“ liegt der Fokus auf der Verarbeitung herausfordernder Situationen in einem Kontext von Entwicklung, wobei die Kategorien Körper und Bewegung hinzukommen. Als Arenen dienen Berge und Flüsse, Wälder und Wüsten sowie das „Dickicht der Städte“, „Ropes Courses“, aber auch die banale Rasenfläche, auf der Lernprojekte den Einzelnen und die Gruppe fordern.

Alle Techniken, die gelernt werden, um sich in diesen Handlungsräumen zurechtzufinden, sind nur Mittel zum Zweck: „The defining characteristic of adventure education is that a conscious and overt goal of the adventure is to expand the self, to learn and grow and progress toward the realization of human potential.“ (Miles/Priest 1990, 1)3

Für viele Jugendliche in England und den Vereinigten Staaten beginnt Lernen in der Wildnis, im „Ropes Course“ (Seilgarten) oder unter dem Dach des städtischen Hallenbades spätestens in der Schule. Regionale Schulbehörden in England bzw. Institute von Universitäten in den USA betreiben „Adventure Centers“, in denen Schüler mehrerer Schulen im Rahmen von ein- oder zweiwöchigen Kursen, aber auch für einen Nachmittag, „Ropes Courses“ begehen, Initiativ- und Problemlösungsspiele durchführen, Orientierungsläufe unternehmen oder Bogenschießen können. Ebenso wie für den deutschen Schullandheimaufenthalt gibt es auch hier Sicherheitsrichtlinien. Allerdings werden vermeintlich riskante Aktionen wie Klettern und Abseilen nicht von vornherein per Dekret ausgeschlossen – und damit in die nicht kontrollierbaren, verbotenen Sektoren von Mutproben abgedrängt –, sondern, quasi lehrplanmäßig, angeboten.

„Adventure Programming“ bezieht seine spezifische Bedeutung und Wirksamkeit in angelsächsischen Ländern offenbar aus einer zweifachen Verankerung: Auf der einen Seite ist der Sportunterricht (und die Sportwissenschaft) offen für Aktionsformen, die sich nicht in Weiten, Zeiten, Wertungsnoten und Punktergebnissen ausdrücken lassen müssen, und ebenso offen für psycho-soziale Entwicklungschancen in einem weniger reglementierten Handlungsfeld. Zum anderen ist in den Institutionen der öffentlichen und privaten Erziehung anscheinend eine allgemeine Bereitschaft vorhanden, technisch-instrumentelle Lerninhalte, in denen definierbare Fähigkeiten und Fertigkeiten trainiert werden, quantitativ zu begrenzen und damit Platz für handlungsorientierte Lernräume zu schaffen, in denen der Ausgang des Lernprozesses weniger genau curricular zu bestimmen ist und der Akzent auf die Persönlichkeitsentwicklung gelegt wird: „… and the program has become not so much an established and definitive curriculum model as a physically exciting and accepted philosophy toward the education of the total person.“ (Rohnke 1986, 68)4

Eine Erziehung, in der das Abenteuer seinen festen Platz hat, findet sich in Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Australien oder Neuseeland in vielen öffentlichen und privaten Sozialisationsinstanzen. Die Palette reicht von der Schule über Universitäten und unzählige freie Träger, die vor allem Programme für den „Endverbraucher“ anbieten, bis hin zu fest etablierten – nicht etwa exotischen – Veranstaltern von Outdoor-Trainings für Manager sowie zu therapeutisch ausgerichteten Anbietern....

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