Der Spracherwerb des Kindes - Verlauf und Störungen

Der Spracherwerb des Kindes - Verlauf und Störungen

von: Jürgen Dittmann

Verlag C.H.Beck, 2020

ISBN: 9783406733727

Sprache: Deutsch

126 Seiten, Download: 2600 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Der Spracherwerb des Kindes - Verlauf und Störungen



1. Das Problem des Spracherwerbs


1.1 Der Spracherwerb – kein Kinderspiel


Im Nachhinein, das heißt aus der Perspektive des Erwachsenen, der seine liebe Not mit dem Erwerb von Fremdsprachen hat, erscheint der Erstspracherwerb vielleicht wie ein Kinderspiel. Doch die Erinnerung trügt: Der Weg zur Sprache ist, bildlich gesprochen, voller Hindernisse und Umwege, und das Kind muss sich jeden Etappensieg erkämpfen. Allerdings ist der Spracherwerb auch die komplexeste aller Aufgaben, mit denen das Kind im Laufe seiner Entwicklung konfrontiert wird. So verwundert es nicht, dass bei gut 10 % der Kinder sog. umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache diagnostiziert werden (vgl. Kap. 8). Fast alle Kinder erreichen gleichwohl das Ziel des Lernprozesses, die Beherrschung der Muttersprache.

1.2 Das Lernziel


Will man die Aufgabe, vor der das Kind steht, verstehen, sollte man sich zunächst klarmachen, dass alle Sprachen komplex sind, wenngleich die Komplexität unterschiedlich ausgeprägt ist. Auch Steinzeitkulturen haben komplexe Sprachen, was etwa die Sprachen der australischen Aborigines eindrucksvoll belegen. Und entgegen einer anderslautenden Behauptung, die es bis in die Medien geschafft hat, ist auch die Sprache des Amazonas-Stammes der Pirahã komplex (Nevins et al. 2009). Die Einzelsprachen machen allerdings unterschiedlichen Gebrauch vom Repertoire möglicher Ausdrucksmittel. So hat bekanntlich das Lateinische viele Flexionsformen (Deklination des Substantivs, Konjugation des Verbs usw.), das Englische weniger und das Chinesische fast keine. Dafür bedienen sich flexionsarme Sprachen dann anderer Mittel, die sie wiederum komplex machen. Deshalb stehen alle Kinder der Welt, unabhängig davon, ob sie in einem steinzeitlich lebenden Stamm oder einer Industriegesellschaft aufwachsen, vor einer ungemein schwierigen Aufgabe.

Einerseits konstatieren wir also Unterschiede zwischen den Einzelsprachen, die den Fremdsprachenerwerb so schwierig machen, andererseits folgen aber alle Einzelsprachen denselben grundlegenden Strukturgesetzen. Wilhelm von Humboldt (1963) begründet das so: «Da die Naturanlage zur Sprache eine allgemeine des Menschen ist und Alle den Schlüssel zum Verständniss aller Sprachen in sich tragen müssen, so folgt von selbst, dass die Form aller Sprachen sich im Wesentlichen gleich seyn und immer den allgemeinen Zweck erreichen muss.» Wie kann man diese gemeinsamen Eigenschaften aller menschlichen Sprachen, die ‹Universalien›, beschreiben (Hockett 1960)? Offensichtlich haben wir es mit einer Lautsprache zu tun, die Informationsvermittlung erfolgt durch Schallereignisse. Weiterhin verfügt jede menschliche Sprache über ein Repertoire von kleinsten bedeutungsunterscheidenden Lauteinheiten, genannt Phoneme, mit den Hauptklassen Vokal, z.B. /a/, und Konsonant, z.B. /b/. Im Deutschen unterscheiden sich z.B. Müll und Tüll durch die Phoneme /m/ und /t/. Phoneme sind Lautklassen: Man kann beispielsweise das /r/ in Art auf unterschiedliche Weise aussprechen, etwa mit der Zungenspitze ‹rollen› oder am Gaumen durch Reibung erzeugen (velares /r/). Entscheidend ist nur, dass es als /r/ und nicht etwa als /l/ gehört wird, dann nämlich würde alt verstanden. Die konkret geäußerten Laute in einem Wort (‹Phone› genannt) werden aber auch je nach lautlicher Umgebung unterschiedlich ausgesprochen. Hier haben wir nicht die Wahl (wie zwischen Zungen-/r/ und velarem /r/), sondern hier regieren die Naturgesetze der Artikulation. Wie weit diese Veränderungen gehen können, sieht man leicht anhand eines Wortes wie Glück: Das /g/ wird mit gerundeten Lippen gesprochen, die eigentlich erst für das /ü/ benötigt werden, so dass ein anderes Phon resultiert als beim /g/ in gut. Dieses Phänomen wird ‹Koartikulation› genannt. Es spielt sich auf der Ebene der Silbe ab, und man geht heute davon aus, dass die Artikulation der Wörter silbenweise gesteuert (und entsprechend auch erworben) wird. Der vokal-auditive Kanal ermöglicht aber noch eine zweite Dimension der Kommunikation: Neben der Phon-Phonem-Ebene gibt es noch lautlich-klangliche Eigenschaften, die für die menschliche Kommunikation ebenfalls relevant sind, nämlich die sog. Prosodie. Gemeint sind akustische Eigenschaften der gesprochenen Sprache wie Intonation, das ist die Sprechmelodie (z.B.: ansteigend im Fragesatz), Wortakzent, das ist die Betonung auf Wortebene (úmfahren vs. umfáhren), sowie Sprechrhythmus.

Aus den kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten bildet jede Sprache ihre kleinsten bedeutungstragenden Einheiten, genannt Morpheme. Maus und rot sind solche Morpheme, man nennt sie auch ‹lexikalische Morpheme›, denn man findet sie im Wörterbuch; sie bilden den Wortschatz einer Sprache. Die Phonemkette -en in Frauen ist auch ein Morphem, d.h., wir haben es bei Frauen mit einem Wort, aber zwei Morphemen zu tun. Allerdings kommt das zweite Morphem nicht selbstständig vor, und es hat die etwas abstraktere Bedeutung ‹Plural›. Es wird in der Grammatik beschrieben, weshalb man auch von einem ‹grammatischen Morphem› spricht. Dieses Bildungsprinzip, aus kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten kleinste bedeutungstragende Einheiten zu kombinieren, nennt man das ‹Prinzip der doppelten Artikulation›. Kein Tierkommunikationssystem weist diese Eigenschaft auf, und sie ist die erste Quelle des unbegrenzten Ausdrucksreichtums der Sprachen.

Das ‹Herz› der menschlichen Sprache aber ist die Syntax. Sie ist die zweite Quelle des unbegrenzten Ausdrucksreichtums. Schon Humboldt (1963) hatte erkannt, dass die menschliche Sprache, da sie «einem unendlichen und wahrhaft gränzenlosen Gebiete, dem Inbegriff alles Denkbaren gegenüber [steht]», «von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen [muss]». 1965 griff Chomsky diesen Gedanken in seiner ‹generativen Grammatik› auf. Etwas vereinfacht formuliert: Eine endliche Zahl von Einheiten einer Sprache kann durch ein System von endlich vielen Regeln, nämlich durch die Syntax der Sprache, zu potenziell unendlich vielen verschiedenen Strukturen kombiniert werden, den grammatikalisch korrekten Sätzen der Sprache. Aus einfachen Bestandteilen (‹Konstituenten›) können so komplexe Strukturen ‹generiert› werden, z.B. aus X = der, Y = Apfel und Z = essen die Strukturen {X, Y} = der-Apfel (eine sog. Nominalphrase) und {Z, {X, Y}} = isst-den-Apfel (eine sog. Verbalphrase, wie im Satz Peter isst den Apfel). Wohlbemerkt: Es entstehen auf diese Weise nicht einfach Wortfolgen, sondern Sätze, in denen die Konstituenten regelhaft aufeinander bezogen sind. Dass wir tatsächlich beim Produzieren und Verstehen von Sätzen syntaktische Strukturen ‹berechnen› müssen, lässt sich schon an einfachen Sätzen zeigen. Wir verstehen z.B. Peter trat Lisa und lief weg so, dass Peter Lisa trat und Peter dann weglief, nicht so, dass Lisa weglief – eine Lesart, die ja ebenfalls sinnvoll wäre, zumal Lisa näher an lief weg steht als Peter. Dieses Verständnis wird erzwungen, weil Peter das Subjekt des Satzes ist und eine syntaktische Regel des Deutschen besagt, dass beide Verben auf das Subjekt bezogen werden. Die in diesem Zusammenhang entscheidende Einsicht ist, dass syntaktische Regeln über Kategorien von Morphemen und nicht etwa über Morphemen oder Wörtern definiert sind: Besagte Regel bezieht sich nicht auf die Wörter Peter usw., sondern auf die syntaktischen Kategorien Subjekt und Verb.

Von besonderem Interesse sind syntaktische Regeln, die Chomsky mit einem mathematischen Terminus ‹rekursiv› nennt. Grob gesagt, erlauben sie die Bildung von Nebensätzen. So können komplexe ‹eingebettete› Strukturen erzeugt werden, etwa der Satz: Ich, der mit meinem Haufen eben in einem Wirtshause abgestiegen und auf dem Platz, wo diese Vorstellung sich zutrug, gegenwärtig war, konnte hinter allem Volk am Eingang einer Kirche, wo ich stand, nicht vernehmen, was diese wunderliche Frau den Herren sagte … (H. v. Kleist). Zwar stoßen wir bei solchen Konstruktionen in der gesprochenen Sprache bald an die Grenzen der Verständlichkeit, doch dass die menschliche Sprache dergleichen ermöglicht, ist ein entscheidender Aspekt ihres einzigartigen Ausdruckspotenzials.

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