Doppeldiagnosen und Fehldiagnosen bei Hochbegabung - Ein Ratgeber für Fachpersonen und Betroffene

Doppeldiagnosen und Fehldiagnosen bei Hochbegabung - Ein Ratgeber für Fachpersonen und Betroffene

von: James T. Webb, AZ Tucson, Erward R. Amend, Paul Beljean, Nadia E. Webb, Marianne Kuzujanakis, Richard Olenchak, Goerss Jean

Hogrefe AG, 2020

ISBN: 9783456960487

Sprache: Deutsch

448 Seiten, Download: 2224 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Doppeldiagnosen und Fehldiagnosen bei Hochbegabung - Ein Ratgeber für Fachpersonen und Betroffene



|17|Geleitwort


Im Sommer 2004, als ich zur 25. Jubiläumsversammlung der School of Professional Psychology (SOPP) an der Wright State University in Dayton, Ohio, flog, kam ich mit einer Passagierin ins Gespräch, die sich als Ehefrau eines Universitätspräsidenten entpuppte. Als sie den Grund meiner Reise erfuhr, erzählte sie, dass ihr die School of Professional Psychology ein Begriff war – insbesondere ein Programm namens SENG (Supporting Emotional Needs of the Gifted), das sich für Hochbegabte und deren Familien einsetzte und, so die Dame, ein „echter nationaler Schatz“ war. Sie konnte ja nicht ahnen, dass ich als Gründungsdekan der SOPP dieses Programm und seinen Gründer, Dr. James T. Webb, kannte. Sie fuhr daher fort, ausführlich darüber zu berichten. Natürlich hörte ich ihr nur allzu gern dabei zu, wie sie meine „weise Entscheidung“ lobte, das Programm an der Wright State aufzunehmen, wo ich damals Dekan war.

Die Geschichte, die mir die Dame erzählte, kam mir bekannt vor. Sie ähnelte den vielen anderen, die ich im Laufe der Jahre gehört hatte. Der neunjährige Sohn ihrer Schwester war ein paar Jahre zuvor fast vom Regelunterricht seiner Schule ausgeschlossen worden. Seine schulischen Leistungen waren schlecht, er war unaufmerksam, vernachlässigte seine Hausaufgaben und hatte keine Geduld mit seinen Klassenkameraden. Außerdem zeigte er eine an Besessenheit grenzende Faszination für Elektromotoren, der er hartnäckig nachging, egal, was gerade im Unterricht ablief. Seine Lehrerin war nicht nur verärgert, sondern auch ziemlich ratlos und frustriert, denn der Junge war hochintelligent. Und doch waren alle Versuche, ihn zu ändern, vergebens. Da sie sein Störverhalten nicht in den Griff bekam, wollte die Lehrerin ihn in einem alternativen Programm unterbringen. Die Tante des Jungen, die jetzt mit mir im Flugzeug saß, schlug ihrer Schwester vor, das SENG-Programm zu kontaktieren, das, so hatte sie gehört, an einer staatlichen Universität in Ohio angesiedelt war.

Die Eltern reisten mit ihrem Sohn nach Dayton, um ihn testen zu lassen und um sich Rat zu holen. Wie sich herausstellte, war der Junge intellektuell so begabt, dass seine Schule – er kam aus einer Kleinstadt in Indiana – seinen Bedürfnissen überhaupt nicht gerecht wurde. Die Eltern wurden darüber in Kenntnis gesetzt, welche Ressourcen und Methoden für eine angemessene intellektuelle Förderung zur Verfügung standen, und sie wurden eingehend beraten, wie man die verschiedenen Arten von Störverhalten im Unterricht in den Griff bekommen konnte. Außerdem gab man ihnen praktische Ratschläge zum Umgang mit den Geschwistern.

Die positiven Ergebnisse ließen nicht lange auf sich warten. Das Schulsystem von Indiana bot damals zwar noch keine Hochbegabtenprogramme an, aber dank |18|der Unterstützung durch SENG konnte diese Familie besser auf die intellektuellen Bedürfnisse und Entwicklungsbesonderheiten ihres Sohnes eingehen, und ihre Bemühungen waren erfolgreich. Innerhalb weniger Monate wurde aus dem Problemschüler ein motivierter und eifriger Lerner. Mehr noch – die Verwandlung war so drastisch, dass die Eltern eines anderen Schülers an derselben Schule ihren Sohn aufgrund ähnlicher Verhaltensmuster ebenfalls nach Dayton brachten und damit die gleichen positiven Ergebnisse erzielten.

Die Begegnung im Flugzeug rief bei mir lebhafte Erinnerungen an die Anfänge von SENG wach – wie es dazu kam, dass dieses Programm an der neuen SOPP der damals noch jungen staatlichen Universität in Dayton untergebracht wurde, und welche Arbeit SENG seitdem geleistet hatte. Die Geschichte begann 1980 mit dem Suizid eines hochbegabten und talentierten 17-Jährigen namens Dallas Egbert. Die Eltern des Jungen wandten sich an Dr. Webb, der damals stellvertretender Dekan der SOPP war, und regten die Entwicklung eines Programms für Familien hochbegabter Kinder an der Wright State University an. Da die Eltern Schwierigkeiten hatten, Hilfe für ihren Sohn zu finden, lagen ihnen vor allem die emotionalen Bedürfnisse hochbegabter Kinder am Herzen. Dr. Webb, der zuvor die Psychologische Abteilung des Children’s Medical Center in Dayton geleitet hatte, erkannte die Notwendigkeit einer solchen Einrichtung und entwarf innerhalb kurzer Zeit ein Programm, das auch den praktischen Ausbildungsinteressen von Doktoranden an der SOPP gerecht werden sollte. Ich stimmte seinem Vorschlag zu, und wir legten los. Die Gelegenheit, mit einem solch besonderen Pool von Kindern zu arbeiten, deren Bedürfnisse in unserem Schulsystem häufig vernachlässigt werden, stellte für die SOPP eine doppelte Bereicherung dar: eine einzigartige Ergänzung des Angebots für Kinderpsychologen und die Gelegenheit, einen echten sozialen Bedarf zu decken.

Das neue SENG-Programm zog schon bald Studierende und Förderer an und bekam viel öffentliche Aufmerksamkeit. Die finanzielle Unterstützung durch den Dallas-Egbert-Fonds sowie ein örtliches Non-Profit-Unternehmen und weitere, traditionellere Quellen sorgten dafür, dass das SENG rasch zu einem der am besten finanzierten Programme der SOPP wurde. Ein gemeinsamer Auftritt der Egberts und Dr. Webb in der Phil Donahue Show 1981 rief Reaktionen von mehr als 20 000 Zuschauern aus dem ganzen Land hervor. Offensichtlich herrschte ein enormer Bedarf an einem solchen Programm.

Das SENG-Programm war zielgerichtet auf diesen Bedarf zugeschnitten. Zunächst nahmen Psychologen der SOPP formale Beurteilungen von Intellekt und Persönlichkeit vor. Dann wurden die hochbegabten Kinder und ihre Familien individuell beraten. Da von überall in den USA Anfragen kamen, wurden als Nächstes Beratungsdienste für Psychologen, Berater, Lehrer und andere Fachkräfte entwickelt, die sowohl einzeln als auch in Workshops angeboten wurden. In einem dritten |19|Schritt wurden angeleitete Diskussionsrunden mit Elterngruppen entwickelt und umgesetzt, in denen wöchentlich zehn Themen zur Sprache kamen, die für Familien mit hochbegabten Kindern von besonderem Interesse waren. Diese Treffen gaben den Eltern Gelegenheit, sich auszutauschen und voneinander zu lernen. Auf diese Weise fiel es ihnen leichter, Probleme zu antizipieren, Lösungen zu finden und Schwierigkeiten von Anfang an zu vermeiden. Sie lernten, dass die Erziehung eines hochbegabten Kindes besondere Fertigkeiten verlangt, auf die nur wenige Eltern vorbereitet sind.

Bei sämtlichen Evaluationen, wie sie bei akademischen Programmen an staatlichen Universitäten üblicherweise durchgeführt werden, schnitt SENG erfolgreich ab. Das Programm deckte nicht nur einen echten sozialen Bedarf, sondern führte auch zu neuen Erkenntnissen und zur Entwicklung neuer Interventionsmethoden. Aus seiner Arbeit sind zahlreiche Beiträge zur Fachliteratur hervorgegangen; es hat zu einer besseren Ausbildung von Fachkräften beigetragen, und es hat externe Sponsoren angezogen. Leider haben sich die Unterstützer im Laufe der Zeit anderen Projekten zugewandt. Wie an den meisten modernen Universitäten brachten zahlreiche neue Fachbereiche und Verwaltungstrends auch neue Prioritäten und Gelegenheiten mit sich, die in andere Richtungen wiesen. Das führte dazu, dass man das SENG-Programm an der Wright State University verkümmern und sterben ließ. Glücklicherweise hat sich SENG als unabhängige Non-Profit-Organisation (www.sengifted.org) reformiert und leistet auch weiterhin gute Arbeit durch Konferenzen, die Bereitstellung von Informationen, Kurse zur Gründung von Eltern-Gesprächsgruppen sowie Weiterbildungsprogramme für Psychologen, Berater und andere Fachkräfte.

Das größere Problem ist die traurige Tatsache, dass die amerikanische Bildungspolitik den sozialen und emotionalen Bedürfnissen von hochbegabten und talentierten Menschen nie einen hohen Stellenwert eingeräumt hat. Ebenso wenig haben Berater oder Therapeuten je besonderes Augenmerk auf diese Klientel gerichtet. In einer Gesellschaft, in der die Anliegen von Armen, Bedürftigen und langsameren Schülern offenbar Vorrang haben, scheint der Förderung von hochbegabten Kindern und Erwachsenen etwas geradezu Elitäres und Undemokratisches anzuhaften. Viele halten es für unnötig und gleichsam verschwenderisch, Programmen für hochbegabte Kinder finanziell unter die Arme zu greifen, wo doch anderswo so große Not herrscht. Das ist kein neues Phänomen.

Im Jahr 1919 unterrichtete die Psychologin Leta Stetter Hollingworth am Lehrerseminar der Columbia University den ersten Kurs auf College-Niveau zum Thema Hochbegabung ...

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