Die Macht der Mehrsprachigkeit - Über Herkunft und Vielfalt

Die Macht der Mehrsprachigkeit - Über Herkunft und Vielfalt

von: Olga Grjasnowa

Duden, 2021

ISBN: 9783411913411

Sprache: Deutsch

128 Seiten, Download: 2534 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Macht der Mehrsprachigkeit - Über Herkunft und Vielfalt



Sprachenwechsel und Migration haben in meiner Familie in jeder Generation stattgefunden, wenn auch die Migration nicht immer freiwillig war. Meine Großmutter mütterlicherseits floh vor der Schoah, fast ihre gesamte Familie wurde von den Deutschen ermordet, und schon die Generationen vor ihr waren vor antisemitischen Pogromen im Ansiedlungsrayon des Russischen Kaiserreiches geflohen. Die Muttersprache meiner Großmutter war Jiddisch, sie sprach zudem Russisch, und nach ihrer Flucht von Weißrussland nach Aserbaidschan lernte sie Azeri, wenn auch nicht sehr gut. Die Herkunft der Familie meines Vaters wurde verschleiert, irgendwo aus der Wolga-Ebene kamen sie nach Baku – wie so viele andere in der Zeit des Erdölbooms.

Meine Mutter und mein Vater wurden in eine mehrsprachige Gesellschaft hineingeboren, sprachen jedoch überwiegend Russisch und nur bescheiden Aserbaidschanisch. Auch die Partner ihrer Geschwister, meine angeheirateten Onkel und Tanten, stammten alle aus bilingualen Familien und waren mit Russisch, Aserbaidschanisch, Persisch oder Polnisch aufgewachsen. Dieser Umstand galt in Baku als völlig normal und wurde nicht verhandelt. Baku war zu der Zeit eine multikulturelle Stadt: Auf den Straßen hörte man Russisch, Aserbaidschanisch, Georgisch, Armenisch, Persisch, Griechisch und viele andere Sprachen.

Die Muttersprache meiner Mutter war Russisch und nicht mehr Jiddisch. Als meine Mutter vor einigen Jahren die Serie Shtisel, die größtenteils auf Jiddisch gedreht worden ist, anschaute, war sie dennoch begeistert – nicht so sehr von der Serie selbst, sondern von dem »warmen Gefühl«, dass mehr und mehr jiddische Ausdrücke in ihr Bewusstsein zurückkehrten. Ausdrücke, die sie während ihrer Kindheit täglich gehört hatte und an die sie sich schon lange nicht mehr aktiv erinnerte.

Machtverhältnisse und Nationalismus spiegeln sich stets in der Sprache wider. Genauso wie die jeweils herrschenden Diskurse und Ideologien. Man kann sich noch heute selbst in den entlegensten Dörfern im Kaukasus oder in Zentralasien auf Russisch verständigen, allerdings ist dies dem Umstand geschuldet, dass Russisch nicht nur eine wunderschöne, sondern auch eine imperiale Sprache ist. Die Dominanz der russischen Sprache in Baku war insofern politisch gewollt. Daran liegt es auch, dass ich als Kind niemals richtig Aserbaidschanisch gelernt habe, obwohl ich mir durchaus Mühe gab. Wir sprachen die Sprache des Imperiums, und das war damals genug.

Aserbaidschanisch umgab mich jeden Tag, in den Wohnungen der Nachbarschaft oder unserer Freund*innen1, auf der Straße und in der Schule. Dort besuchte ich eine russischsprachige Klasse. Aserbaidschanisch wurde zwar von der ersten Klasse an unterrichtet, allerdings nicht sonderlich gut. Neben russischsprachigen Klassen wie meiner gab es auch andere, in denen nur auf Aserbaidschanisch unterrichtet wurde – in der Regel waren das zwei getrennte Welten. Die Klassen, die auf Russisch unterrichtet wurden, waren privilegiert. Die Kinder, die sie besuchten, stammten aus sozial etwas gehobeneren Schichten und hatten Eltern mit deutlich höheren Bildungsabschlüssen.

Russisch war in der gesamten Sowjetunion die dominante Bildungs- und Kommunikationssprache. Viele aserbaidschanischsprachige Familien fingen im Laufe der Zeit an, ebenfalls untereinander Russisch zu sprechen. Obwohl die Sowjetunion eine klassenlose Gesellschaft sein sollte, zeigte der Abstand, den nicht-russischsprachige Muttersprachler*innen zu der eigenen Herkunftssprache und Kultur gewonnen hatten, auch die eigene soziale Klasse an – je mehr und akzentfreier man also Russisch sprach, desto eher gehörte man der »Intelligenzija« an. Russisch wurde mit Kultur gleichgesetzt. Alles Nationale war dagegen eher verpönt, zumindest alles, was nicht russisch war.

Selbst das aserbaidschanische Alphabet wurde zum Bauernopfer der Politik und gleich mehrmals geändert: Die seit dem Mittelalter verwendeten arabischen Schriftzeichen wurden 1929 durch die lateinische Schrift abgelöst. Dieser folgte schon 1938 die kyrillische Schrift, ehe man 1991/92 zur lateinischen Schreibweise zurückkehrte. Drei Alphabete in hundert Jahren bedeuten leider auch, dass viele alte Bücher und Dokumente aus den Archiven und Bibliotheken von einem Großteil der heutigen Bevölkerung nicht mehr gelesen werden könnten. Selbst Wissenschaftler*innen tun sich schwer, diese Quellen zu lesen oder sie überhaupt erst zu finden. Im Iran, wo sehr viele Aserbaidschanisch-Sprecher*innen leben, wurde das perso-arabische Alphabet hingegen beibehalten. Zudem war die Kommunikation unter den Sprecher*innen der Turksprachen, zu denen Aserbaidschanisch gehört, aber auch etwa vierzig andere Sprachen mit 180–200 Millionen Sprecher*innen, früher dank des arabischen Alphabets recht einfach. Die Orthografie war einheitlich und die schriftliche Kommunikation deshalb möglich. Mit jeder erzwungenen Änderung der aserbaidschanischen Schrift verschmälerte sich jedoch die Möglichkeit der Kommunikation.

Im Jahr 1996 bin ich im Alter von elf Jahren mit meiner Familie aus Aserbaidschan nach Deutschland ausgewandert. Von da an wurde ich auf Deutsch sozialisiert, sodass ich das Deutsche heute um einiges besser beherrsche als meine russische Muttersprache. Die Muttersprache meiner Kinder ist Deutsch, auch wenn ich mit ihnen Russisch spreche und mein Mann Arabisch. Mit meinem Mann spreche ich Englisch – so fühlen wir uns am wohlsten. Er ist 2013 aus Syrien nach Deutschland gekommen, und auch in der Geschichte seiner Familie spielt Mehrsprachigkeit eine große Rolle – wie wahrscheinlich in sehr vielen Familien auf dieser Welt. Wir haben jedenfalls keine gemeinsame Familiensprache mehr und sind damit bei Weitem keine Ausnahme.

Mittlerweile kann ich mit dem Konzept der »Muttersprache« nur noch bedingt etwas anfangen. Die in der Translationswissenschaft, der Wissenschaft vom Übersetzen und Dolmetschen, verwendete Einordnung in A-, B- und C-Sprachen leuchtet mir viel mehr ein. Sie ist näher an meiner Lebenswirklichkeit. Die A-Sprache ist demnach die Mutter- oder Erstsprache oder einfach die Sprache, die man am besten beherrscht. In diese übersetzt man entsprechend aus den B- oder C-Sprachen. Die Unterscheidung ist frei von Ideologie und Wertungen und orientiert sich ausschließlich an der Leistung, also daran, wie gut man eine bestimmte Sprache im Verhältnis zu einer anderen beherrscht.

Meine Kinder haben viele Cousins und Cousinen ersten und zweiten Grades, die in Israel, Syrien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Saudi-Arabien leben. Mit denen von ihnen, die Arabisch sprechen, werden sie sich vermutlich unterhalten können, mit ihren Cousins und Cousinen in Israel dagegen nicht, denn diese können kein Russisch. Wahrscheinlich werden sie sich mit ihnen irgendwann in der neuen Lingua franca – Englisch – verständigen.

Sprache ist nicht statisch, Familiensprachen und Muttersprachen können sich ändern, ob als Folge von Migration, Vertreibung und Kriegen oder einer Liebe wegen. Selbst im hohen Alter ist ein Sprachwechsel möglich. In meiner Familie wechselte man die Sprachen, Länder und Alphabete mehrmals, manchmal sogar innerhalb von wenigen Jahren und ohne überhaupt die eigene Wohnung zu verlassen. Familiengeschichten, Erinnerungen und Menschen gingen dabei verloren, manche Erinnerungen wurden willentlich ausgelöscht, andere konnten gerettet und weitergegeben werden. Dass ausgerechnet Deutsch die erste Sprache meiner Kinder werden würde, ist nicht frei von historischer Ironie.

Mir ist es wichtig, dass meine Kinder mehrsprachig aufwachsen. Vielleicht ist es der reine Überlebenswille, denn Sprachkenntnisse können Leben retten. Jede Sprache öffnet darüber hinaus ungeahnte Möglichkeiten und viele Türen – oft gerade dann, wenn man gar nicht damit rechnet. Sprachen ermöglichen uns, andere Menschen kennenzulernen, auf sie zuzugehen und sie im umfassendsten Sinne des Wortes zu verstehen. Dasselbe gilt für andere Kulturen und manchmal sogar für uns selbst. Mit jeder Sprache, die wir beherrschen, kommen wir besser in anderen Umgebungen, Situationen und Ländern zurecht – oder aber auch einfach nur mit den Nachbarn. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«2 Mit jeder weiteren Sprache überschreiten wir also diese Grenzen. Wir lernen andere Küchen, Autor*innen, Musiker*innen, Künstler*innen, Philosoph*innen kennen, zu deren Œuvre wir sonst keinen Zugang gehabt hätten.

Es geht mir dabei nicht um Sprachkenntnisse, die in Zertifikate verwandelt und durch Tests bewertet werden, sondern um Identitäten, um die eigene Biografie, um das biografische Erbe und nicht zuletzt um Emotionen. Meine Kinder wachsen mit drei unterschiedlichen Sprachen auf und werden in drei vollkommen unterschiedlichen Schriftsystemen alphabetisiert. Sie wissen, dass alles relativ ist. Sie begreifen, dass manche Ausdrücke sich nicht ohne Weiteres in andere Sprachen übersetzen lassen und dass je nach Sprache manche kulturellen Vorstellungen und Konzepte auch gänzlich fehlen. Für sie ist es selbstverständlich, dass man auch mit Umschreibungen gut ans Ziel kommt.

Ich kann mir schlicht nicht vorstellen, wie es wäre, wenn meine Kinder kein Russisch verstehen würden. Würden sie bei Familientreffen stumm am Tisch sitzen? Oder würden wir ihnen zuliebe darauf verzichten, Russisch zu reden? Wie könnte ich ihnen bestimmte Details aus meiner Kindheit erzählen? Oder Witze machen? Mit ihnen Baku, St. Petersburg oder Moskau besichtigen? Ihnen die Bücher meiner Kindheit vorlesen? Würde ich ihnen kein Russisch beibringen, hätte ich das Gefühl, dass ich ihnen einen großen Teil meiner – und auch ihrer –...

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