Gelbe Schule - Gelassenheit und Präsenz durch sichere persönliche Verbindungen

Gelbe Schule - Gelassenheit und Präsenz durch sichere persönliche Verbindungen

von: Stefan Schmid, Erwin Müller

Carl-Auer Verlag, 2022

ISBN: 9783849783709

Sprache: Deutsch

204 Seiten, Download: 1570 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Gelbe Schule - Gelassenheit und Präsenz durch sichere persönliche Verbindungen



3Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges


»Die Schulen feiern stolz den Übergang vom Präsenzunterricht zum Distanzunterricht, den Computer anbieten. Medizinische Zentren feiern die Verwendung von Patientendatenbanken und computergestützten medizinischen Aufzeichnungen, die die Ausrichtung des Arztes physisch vom Patienten zum Monitor verschieben. Ohne sich um persönliche Interaktionen zu kümmern, die Hinweise, die warm modulierte Stimmen enthalten, wechselt der Patient oder Schüler schnell in einen körperlichen Zustand, der die Verteidigung unterstützt und die Fähigkeit einschränkt, die übermittelten Informationen (…) oder Aufgabenanweisungen zu verstehen« (Porges 2015, S. 115; Übers. d. Autors).

FRAU BERGER, 64 Jahre, ist an ihrer Grundschule Lehrerin mit Leib und Seele. Wenn die Kinder nach der 1. und zw2. Klasse bei Frau Berger in die 3. Klasse kommen, wollen alle ihre Kollegen diese Klasse haben, außerdem wünschen sich alle Lehramtsanwärter diese Klasse als Prüfungsklasse. Ich habe Frau Berger kurz vor ihrer Pensionierung gefragt, was das Geheimnis ihres Unterrichts war:

»Ich habe ein gutes Gespür für meine Kinder. Ich nehme mir Zeit für meine Kinder und höre ihnen zu, wenn sie mir eine Geschichte von zu Hause erzählen möchten, weil es ihnen gerade nicht gut geht. Ich erkenne, dass sie manchmal ganz alleine viel arbeiten und leisten möchten, und schaffe die Gelegenheiten dafür. Zusätzlich lasse ich es auch mitunter zu, dass ich meinen vorgegebenen Weg verändere und Schülervorschläge umsetze. So darf der eine oder andere (es sind eh meistens die gleichen) gelegentlich auch mal seinen Willen haben. Als Lehrerpersönlichkeit versuche ich, alle Kinder in der Klasse zu verstehen und ein Gespür für ihre Belange zu entwickeln. Ich hab es bis jetzt noch immer geschafft, dass ich, ohne großen Druck und Angst zu machen, bei den meisten meiner Schüler Leistungsmotivation entwickle. Als wichtige Methoden achten wir auf den Sitzkreis, weil ich meine Kinder da alle im Blick habe. Außerdem führe ich liebend gerne Einzelgespräche mit meinen Kindern, falls es mal Probleme gibt. Da ist es mir wichtig, dass ich es ohne Zeitdruck mit ihnen reden kann und dass ich selber nicht gestresst, sondern entspannt bin. Eine weitere wichtige Grundlage für mich ist die gute Gesprächskultur mit den Eltern; auch dabei nehme ich mir viel Zeit und versuche, schwierige familiäre Situationen wenigstens zu verstehen. Meistens kommen die Lösungen für Probleme voseiten der Eltern selbst. Wenn wir Lehrer und Eltern miteinander ein gutes Verhältnis haben, dann kann gar nicht mehr so viel schiefgehen.«

Frau Berger gelingt es, zu »ihren« Kindern und deren Eltern sichere Verbindungen aufzubauen. Sicherheit in Verbundenheit sind auch die beiden Kernthemen der Polyvagal-Theorie von Stephen Porges. Er ist Distinguished University Scientist an der Indiana University Bloomington, wo er die Traumatic Stress Initiative am Kinsey Institute leitet. Er ist Professor der Psychiatrie an der University of North Carolina, em. Professor der University of Illinois in Chicago, an der er im Department of Psychiatry das Brain-Body Center geleitet hat, und em. Professor der University of Maryland.

3.1Verbundenheit – ein biologischer Imperativ


Ein biologischer Imperativ ist ein Konstrukt, das man in der Evolutionsbiologie häufig verwendet, um einen logischen Mechanismus für die natürliche Selektion zu beschreiben. Biologische Erfordernisse sind notwendige Funktionen, die ein lebender Organismus erfüllen muss, um zu überleben. Häufig beschriebene biologische Imperative umfassen Territorialität, Wettbewerb und Reproduktion.

Beim phylogenetischen (stammesgeschichtlichen) Übergang von den Reptilien zu den Säugetieren kam es zu einem neuen Sozialverhalten. Bei den Reptilien bestand die Mutter-Kind-Beziehung darin, dass das Weibchen befruchtete Eier an einem sicheren Ort ablegte oder vergrub. Nach dem Schlüpfen der Jungtiere aus den Eiern gab es kein anderes Reptil, das sich um ihr Wohl gekümmert hat. Das war auch nicht notwendig, denn die kleinen Reptilien sind voll lebensfähig. Durch die Lebendgeburt bei den Säugetieren änderte sich das Verhalten der Mutter gegenüber dem Neugeborenen. Dieses benötigte nämlich die Mutter, um gesäugt, versorgt und geschützt zu werden und damit in der freien Wildbahn zu überleben. Die Mutter ist auch in der Lage, das Baby zu beruhigen und seine körperlichen Zustände zu co-regulieren, wenn das Baby zu einer Regulation selbst nicht in der Lage ist. Dies alles setzt eine soziale Verbundenheit und Nähe zwischen der Mutter und dem Nachwuchs voraus, was bei den Reptilien hingegen nicht notwendig ist.

Ermöglicht wird diese Verbundenheit und Nähe durch die Veränderung des autonomen Nervensystems. Bei den Reptilien reguliert das autonome Nervensystem die Körperorgane über zwei Subsysteme: das sympathische Nervensystem und das parasympathische Nervensystem. Das sympathische Nervensystem stellt die Nervenbahnen für viszerale Veränderungen, die das Kampf- und Fluchtverhalten ermöglichen, bereit. Es unterstützt die Mobilisierung, indem es die Herzfrequenz erhöht und die Verdauungstätigkeit unterdrückt.

Das parasympathische Nervensystem der Reptilien ergänzt das sympathische Nervensystem und erfüllt dabei zwei Funktionen: Erstens unterstützt es Prozesse der Gesundheit, des Wachstums und der Regeneration. Zweitens reduziert das parasympathische Nervensystem, wenn es als Verteidigungssystem genutzt wird, die Stoffwechselaktivität. Es verringert die Herzfrequenz und die Atmung dabei so stark, dass die Reptilien unbeweglich werden und damit potenziellen Raubtieren als unbelebt erscheinen. Wenn sie nicht bedroht sind, wirken die beiden Komponenten des autonomen Nervensystems in Reptilien antagonistisch und regen gleichzeitig mehrere Körperorgane an, um die Körperfunktionen zu unterstützen.

Die meisten Nervenbahnen des parasympathischen Nervensystems verlaufen durch den sogenannten Vagus. Der Vagus ist ein großer Hirnnerv, der im Hirnstamm entspringt und die Körperorgane mit dem Gehirn verbindet. Im Gegensatz zu den Nerven, die aus dem Rückenmark austreten, verbindet der Vagus das Gehirn direkt mit den Körperorganen. Der Vagus besteht zu 80 % aus sensorischen Fasern. Diese führen von den Organen zum Gehirn und informieren dieses kontinuierlich über ihren Status. Zu 20 % besteht der Vagus aus motorischen Fasern, die vom Gehirn zu den Organen verlaufen und zur Veränderung der Organfunktionen dienen. Der Informationsfluss zwischen Körper und Gehirn informiert die entsprechenden Gehirnregionen, die für die Regulation der Zielorgane zuständig sind. Der Vagus führt also sozusagen eine bidirektionale Kommunikation zwischen den Organen und dem Gehirn, die überwiegend von den Organen ausgeht.

Während des evolutionären Übergangs von den Reptilien zu den Säugetieren entstand nun ein zweiter vagaler motorischer Pfad in dem Bereich des Gehirns, der die quergestreifte Muskulatur4 von Gesicht und Kopf reguliert. Dieser neue Vaguspfad zeichnet sich dadurch aus, dass er von einer sogenannten Myelinschicht überzogen ist, die die schnellere Ausführung komplexer Prozesse fördert. Eine entscheidende Funktion des myelinisierten Vagus ist seine Fähigkeit, die sympathische Erregung herunterzuregulieren und damit die biologischen Verhaltenszustände zu unterstützen, die für soziale Interaktionen erforderlich sind. Die Hauptfunktionen der beiden bei den Säugetieren auftretenden vagalen motorischen Pfade sind unterschiedlich. Die nichtmyelinisierten (alten) vagalen motorischen Fasern sind die Hauptregulatoren der Organe unterhalb des Zwerchfells (Magen, Darm, Gebärmutter, Prostata, Blase, Dickdarm, Bauchspeicheldrüse, Gallenblase, Leber und Nieren), während die myelinisierten vagalen motorischen Fasern primäre Regulatoren von Organen oberhalb des Zwerchfells (z. B. Herz und Bronchien) sind. Diese Veränderungen in der Neuroanatomie stellen damit eine Verbindung zwischen Gesicht und Herz her, bei der gegenseitige Wechselwirkungen zwischen den vagalen Einflüssen auf das Herz und der neuronalen Regulation der quergestreiften Muskeln von Gesicht und Kopf bestehen.

Die phylogenetisch neuartige Verbindung zwischen Gesicht und Herz ermöglicht es den Säugetieren, ihren physiologischen Zustand über Gesichtsausdruck und Prosodie (Intonation der Stimme) mitzuteilen. Dabei aktivieren sie ihren Gesichtsausdruck und ihre Stimme so, dass sie damit ihren physiologischen Zustand beruhigen können. Funktionell schafft die Verbindung zwischen Gesicht und Herz bei Säugetieren die Voraussetzung dafür zu erkennen, ob sich ein Artgenosse in einem ruhigen physiologischen Zustand befindet und sich somit »sicher« nähert, oder ob er in einem hoch mobilisierten und reaktiven physiologischen Zustand ist, bei dem eine soziale Verbindung gefährlich wäre. Die Verbindung von Gesicht und Herz ermöglicht es einer Person, durch Strukturen des Gesichtsausdrucks...

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