Normalität der Grundschule - Konstruktion und Konstitution des Selbstverständlichen - beobachtet und verhandelt durch Grundschullehramtsstudierende im Praxissemester

Normalität der Grundschule - Konstruktion und Konstitution des Selbstverständlichen - beobachtet und verhandelt durch Grundschullehramtsstudierende im Praxissemester

von: Julian Storck-Odaba??

Beltz Juventa, 2024

ISBN: 9783779980438

Sprache: Deutsch

357 Seiten, Download: 794 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Normalität der Grundschule - Konstruktion und Konstitution des Selbstverständlichen - beobachtet und verhandelt durch Grundschullehramtsstudierende im Praxissemester



1.Einleitung – Irritation des Selbstverständlichen


Den Antrieb zur Arbeit am vorliegenden Projekt bildete letztlich ein Widerspruch, der sich aus dem Aufeinanderprallen einer vor allem konzeptionell formulierten Perspektive auf die Institution Grundschule einerseits mit berichteten Geschehnissen aus deren Alltag andererseits ergab. Nachfolgend soll der Versuch unternommen werden, die Leser*innen über eine Art retrospektive Introspektion an besagten Ausgangspunkt mitzunehmen und davon ausgehend den Progress der Gedanken nachzuvollziehen, die zur hier vorliegenden Studie führten. Darauf folgt eine jeweils kurze Beschreibung der anschließenden Abschnitte.

Heterogenität wird in erziehungswissenschaftlich ausgerichteten Beiträgen vielfach im Sinne einer sozialen Konstruktion verhandelt, wobei innerhalb des grundschulpädagogischen Diskurses damit das Bild einer Institution Grundschule als „Schule für alle Kinder“ verbunden ist und dementsprechend prominent diskutiert wird (Götz et al. 2019, S. 17; s. a. Budde 2013; Hagedorn et al. 2010; Heinzel 2008; Merz-Atalik 2014; Prengel 2019; Prengel & Heinzel 2012). Dies ergibt sich unter anderem aus der Historie dieser Schulform und nicht selten scheinen die jeweiligen Verfasser*innen dabei dem Ideal einer »gemeinsamen Grundschule« jenseits bloßer Beschreibungen relativ deutlich zugetan. An dieser Stelle ist es aus inhaltlichen Gründen notwendig einzugestehen, dass dies auch für den Autor des vorliegenden Schriftstücks selbst gilt. Vor diesem Hintergrund begann die Materialsichtung. Zwischen den Jahren 2016 und 2017 wurden an der Universität Kassel drei aufeinanderfolgende Seminardurchgänge eines kasuistisch ausgerichteten Settings im Studiengang Grundschulpädagogik videographiert. Dies geschah stets, während die Studierenden in Gruppen über Fälle aus dem Praxissemester – der hessischen Variante einer Praxisphase im Lehramtsstudium – sprachen (siehe Methodenteil)1. Im Ergebnis entstanden Videoaufzeichnungen, deren Verbalbeiträge verschriftlicht wurden, ergänzt um einzelne körperliche Aspekte. Dadurch bot sich für das wissenschaftliche Personal die Option, einen Einblick in Interaktionsprozesse zwischen den Studierenden sowie die besprochenen Inhalte zu gewinnen, während man selbst nicht anwesend war. Gleich zu Beginn der Beschäftigung mit diesem Material fiel dem Autor abseits aller ursprünglich angedachten seminar-, sprich formatbezogenen Fragestellungen auf, dass die inhaltlichen Beschreibungen der Studierenden aus der grundschulpädagogischen Praxis oftmals alles andere nahelegten als eine Wahrnehmung von »Heterogenität als Normalität«. Ausgangspunkt der Untersuchung war insofern kompakt formuliert die Tatsache, dass die Beobachtungen »normaler Grundschulpraxis« der »normalen Selbstbeschreibung« dieser Institution nicht entsprachen. Dies stellte den Autor vor ein anfangs unauflöslich erscheinendes Problem: Entweder konnte man die »Verfehlungen« des Ideals aufseiten der Studierenden beschreiben (und kritisieren) oder aber man thematisierte die Unmöglichkeit des Anspruchs aus Sicht der Handelnden bzw. aufgrund ihres Handelns und Verhaltens. Ein solches Unterfangen des Abgleichs von Soll- und Ist-Zustand schien relativ deprimierend zu enden. Dennoch ließ die Inhaltsebene des Berichteten den Autor nicht los und trieb ihn kontinuierlich um, während die Praxis der Seminararbeit gedanklich in den Hintergrund rückte. Als dann das subjektive Widerstreben gegen sämtliche Varianten einer Arbeit am Material jedes Vorankommen in Gänze zu blockieren drohte, wurde ein neuer Schritt gewagt, der bis dahin zu unkonventionell und gefährlich schien: Die Relativierung von konzeptioneller Norm und Beschreibung alltäglicher Praktiken. Was wäre, so lautete die Frage, wenn man so täte, als wüsste man nicht um das Ideal der »Schule für alle«? Könnte man dann womöglich (vorerst) die Beschreibungen der Studierenden schlichtweg als von ihnen vorgefundene soziale Situationen betrachten, ohne sogleich eine Wertung vorzunehmen? Gelänge man damit nicht näher an eine ungeschminkte Erforschung schulischer Praxis, die unter Beibehaltung normativer Ansprüche unmöglich wäre? Sich abseits bestehender Pfade zu bewegen, bedeutet stets Gefahr zu laufen, sich im Dickicht zu verlieren und auf Irrwege zu geraten. Der Versuch wurde gleichwohl unternommen und liegt hiermit vor.

Das Ziel ist, eine theoretische Perspektive auf Interaktion in ihrem Anteil an der Realisierung sozialer Normen und der Konstruktion von Normalität im Kontext der Institution Grundschule anzubieten, die anhand empirischen Materials entwickelt wurde. Dabei dienen Beobachtungen und Besprechungen von und durch Studierende(n) des Grundschullehramts als Ausgangspunkt der Rekonstruktion. Letzteres bietet sich insofern an, als die entsprechende Gruppe noch in das angestrebte Berufsfeld »hineinsozialisiert« wird, was eine Auseinandersetzung mit geltenden Normen bzw. Annahmen hinsichtlich derselben und hinsichtlich eigener Vorstellungen ebenso erforderlich erscheinen lässt wie die nüchterne Frage danach, was eigentlich tagtäglich im anvisierten Berufsfeld passiert. Die seminaristische Fallarbeit trägt damit – vorerst unbeabsichtigt – reichhaltige Beispiele aus diversen Grundschulen zusammen. Dies wird nachfolgend unter dem Banner Normalität der Grundschule besprochen. Letztere soll aus unterschiedlichen Perspektiven nachgezeichnet und mit einem vorliegenden Forschungsstand sowie theoretischen Konzepten verwoben werden. Die gesamte Studie und nicht bloß die rekonstruktive Arbeit am Material wird somit als fortwährender Forschungs- und Konstruktionsprozess verstanden.

Aufbau der Arbeit

Das zweite Kapitel der Arbeit klärt auf konzeptioneller Ebene, was unter Normalität und Norm sowie nahestehenden Begriffen verstanden werden kann. Zu diesem Zweck wird einleitend Jürgen Links vielfach zitierter Theorieentwurf des Normalismus in seinen wesentlichen Zügen vorgestellt, der vor dem Hintergrund des literarischen Diskurses gesellschaftliche Felder des Normalen ausmacht (Kap. 2.1.1). Bereits in diesem Zusammenhang fällt eine Reihe von Begriffen, die eng mit Normalität verbunden sind, jedoch keineswegs als deckungsgleich verstanden werden können. Link selbst nimmt diesbezüglich auch Differenzierungen vor, die jedoch vorliegend unabhängig davon umfänglicher und unter Bezugnahme auf weitere, namhafte Autorinnen und Autoren erfolgen (Kap. 2.1.2). Abseits solch begrifflicher Feinheiten erschien außerdem eine umfassende Ergänzung der Perspektive notwendig, da Forschungsfrage und Material konkrete Interaktionsbeschreibungen sowie transkribierte Interaktionspraxis zum Gegenstand machen. Die Linksche Sicht war vor diesem Hintergrund zwar grundsätzlich wichtig, allerdings zu sehr die der Distanz, des Diskurses. Gebraucht wurde vielmehr ein theoretischer Zugang, der auf einer interaktionalen Mikro-Ebene ebenso wie auf der institutionellen Meso-Ebene geeignet war, Aussagen in einem zusammenhängenden, dem Sachverhalt angemessenen Vokabular zu treffen. Fündig wurde der Autor diesbezüglich bei Erving Goffman (Kap. 2.2). In einer beeindruckenden Anzahl an Monographien geht dieser von Interaktionsprozessen im kleinsten, alltäglichsten Detail aus (Kap. 2.2.1), entwirft auf Basis dessen das Bild eines öffentlichen Schauspiels mit mal mehr mal weniger bekannten Regeln des Sozialen (Kap. 2.2.2), zeigt daran anknüpfend, was im Fall von Abweichungen bzw. mit Abweichenden passiert (2.2.3) und führt letztlich anhand des Konzepts der »totalen Institution« vor, wie institutionell mit Anormalität umgegangen wird (Kap. 2.2.4). Normalität, die in dieser Weise als aus der Interaktion hervorgehend konzipiert wird, lässt sich methodisch über Protokolle sozialer Praxis fassen – so der hier vertretene Gedanke. Auf dieser Basis folgt dann eine Verknüpfung der Themenbereiche Normalität und Erziehung im schulischen Kontext (Kap. 2.3). Die dabei einleitend beschriebene, grundsätzliche Tendenz von Normalisierung und Normierung im schulpädagogischen Rahmen (2.3.1) wird im weiteren Verlauf anhand zweier exemplarischer Felder dargestellt (Kap. 2.3.2 & 2.3.3). Weil sowohl das Zustandekommen des Materials als auch die davon ausgehende Irritation samt Findung der Forschungsfrage auf ein kasuistisches Setting der Lehrer*innenbildung zurückgehen, widmet sich der letzte Abschnitt des zweiten Kapitels der Lehrer*innenbildung mit einem besonderen Fokus auf ihren grundschulpädagogischen Besonderheiten...

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