Der überforderte Mensch - Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout

Der überforderte Mensch - Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout

von: Patrick Kury

Campus Verlag, 2012

ISBN: 9783593419046

Sprache: Deutsch

342 Seiten, Download: 3944 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Der überforderte Mensch - Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout



Will man eine Geschichte des Stresses schreiben, stellt sich unweigerlich die Frage, wann eine solche beginnt. Ist Stress ausschließlich ein Phänomen, das Gesellschaften nach 1945 kennzeichnet, oder gab es bereits früher Erscheinungen, die rückblickend als Stress oder zumindest als dessen Vorläufer bezeichnet werden können? Diese Frage lässt sich je nach Perspektive unterschiedlich beantworten.

Aus der Perspektive der individuellen Wahrnehmung historischer Akteure ist unbestritten, dass auch Menschen früherer Epochen Belastungen und Arbeitsdruck empfanden und darin womöglich die Ursache für physische sowie psychische Beeinträchtigungen erkannten. Wie einleitend erwähnt, hat der bekannte schwedische Stressforscher Lennart Levi bereits 1964 darauf hingewiesen, dass die durch Epidemien, Krieg und Krisen hervorgerufenen Herausforderungen in den vergangenen Jahrhunderten um einiges höher gewesen sind als in der Zeit nach 1945. Mit dieser Feststellung ist allerdings noch nicht geklärt, ob Menschen früherer Epochen physio-psychische Belastungen auch in einer ähnlichen Weise empfunden haben, wie dies die Menschen der Gegenwart tun. Eine solche universalistische Sichtweise, dass Stress quasi eine anthropologische Konstante darstelle, wird zumeist implizit in der Ratgeberliteratur zum Stress- und Zeitmanagement eingenommen. Dabei geht es weniger darum, historische Sachverhalte verständlich zu machen; vielmehr sollen dem Individuum Werkzeuge an die Hand gegeben werden, die es befähigen, mit Arbeitsdruck umzugehen sowie die individuellen zeitlichen Ressourcen zu optimieren. Die Historizität aktueller Belastungsphänomene wird dabei kaum thematisiert.

Ohne historische Tiefenschärfe kommen meist auch enge naturwissenschaftliche Perspektiven aus - nämlich dann, wenn Stress in Anlehnung an Hans Selye ausschließlich als eine physiologisch-hormonelle Reaktion beziehungsweise als eine Anpassungsleistung definiert wird, die bei jeder psychischen und physischen Herausforderung des Organismus von selbst in Gang kommt. So betrachtet mag es Stress zu allen Zeiten, in allen Gesellschaften sowohl bei Mensch und Tier als auch teilweise bei Pflanzen gegeben haben. Zur Beantwortung der Frage, warum Stress seit den 1950er Jahren zu einem wissenschaftlichen Konzept sowie zu einem hegemonialen Belastungsdiskurs westlicher Gesellschaften geworden ist, tragen solche Denkansätze wenig bei. Sie ignorieren vielmehr, dass erst die Konzeptualisierung von und das Reden über Stress diesen zu einem wahrnehmbaren und handlungsleitenden Körper-, Gesellschafts- und Kulturphänomen werden ließen, was wiederum auf den naturwissenschaftlichen Umgang mit Stress zurückgewirkt hat.

Da ich mich sowohl für die wissenschaftliche Thematisierung von Stress als auch für seine kulturelle Deutungen interessiere, werde ich mich auf historische Konstellationen konzentrieren, die einen Blick auf das Verwobensein der unterschiedlichen Bereiche gewähren.

Aufgrund des Zusammenwirkens moderner Lebensführung, neuer medizinischer Krankheitskonzepte und der Thematisierung von Gesundheit wird die Neurasthenie in der medizinhistorischen Literatur gemeinhin als erste sogenannte Zivilisationskrankheit bezeichnet. Daher halte ich es für angebracht, die Geschichte des Stresses mit dem Nervositätsdiskurs der vorletzten Jahrhundertwende zu beginnen. Auch der Bielefelder Historiker Joachim Radkau hat in der Einleitung seines Buches Das Zeitalter der Nervosität 1998 die Frage gestellt: 'Die in den 1880er Jahren ausbrechende Nervositätsepidemie ist der sichtbarste Beginn moderner Streßerfahrungen: Damals wurden sie erstmals zum historischen Ereignis. War es der moderne Streß schlechthin, der zu jener Zeit massenhaft ausbrach?' Ich verstehe im Folgenden Neurasthenie jedoch nicht als Stress, sondern als Stressphänomen avant la lettre, das gewisse strukturelle Ähnlichkeit zu Zivilisationserscheinungen wie der Managerkrankheit und der heute ominipräsenten Stressfolgeerkrankung Burnout aufweist.

Das aus den USA stammende Konzept der Neurasthenie fand in Mittel- und Westeuropa zu Beginn der 1880er Jahre rasch Verbreitung, in besonderem Maß in Deutschland und Österreich. Neurasthenie zeichnete sich, wie Hans-Georg Hofer pointiert festhält, durch eine 'ubiquitäre Symptomatologie des Leidens' aus und erlebte bis 1900 ihren Höhepunkt. Mediziner, Psychiater und Betroffene gingen davon aus, dass es die modernen Lebensumstände, die technischen Innovationen, die neuen Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten sowie die Beschleunigung der meisten Lebensbereiche seien, die das Nervensystem der Menschen stärker beanspruchten und schwächten, als dies bei Menschen in früheren Epochen der Fall gewesen sei. Sie glaubten in der Neurasthenie ein Signum der Moderne schlechthin zu erkennen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und unter völlig gewandelten sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen verlor das Krankheitskonzept Neurasthenie allerdings wieder rasch an Bedeutung.

Da die Geschichte der Neurasthenie gut erforscht ist und der Blick auf den Nervositätsdiskurs in dieser Untersuchung primär dem diachronen Vergleich dient, werde ich im Folgenden nur auf einige wenige Aspekte dieser Geschichte eingehen. Mich interessiert vor allem die Frage, ob die Neurasthenie, wie sie zunächst in den USA konzipiert worden war, für das physiologische Stresskonzept von Hans Selye eine Referenzgröße darstellte. Auch wenn sich dieses Verhältnis, wie ich zeigen werde, hauptsächlich durch Unterschiede auszeichnet, ist die Darlegung des Neurastheniekonzepts insofern von Bedeutung, als es für spätere und aktuelle Belastungsdiskurse wie die Managerkrankheit oder das Burnout ein Repertoire an medizinischen Deutungen und soziosomatischen Ansätzen bereitstellt.

Kategorien

Service

Info/Kontakt