Fünf Brüder wie wir

Fünf Brüder wie wir

von: Jean-Philippe Arrou-Vignod

Ravensburger Buchverlag, 2013

ISBN: 9783473380312

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 3925 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Fünf Brüder wie wir



„Jungs“, sagte Mama, „alle mal herhören! Ich habe euch eine frohe Botschaft zu verkünden.“

Es war an einem Abend im Jahr 1967 und nicht mehr lange bis Weihnachten. Papa war noch nicht zu Hause und wir waren alle in der Küche, Abendessen vorbereiten.

Normalerweise mag ich diese Zeit am Tag sehr gern: Es riecht gut, es ist schön warm, das Fenster ist beschlagen und während ich Mama helfe, kann ich mich mit ihr unterhalten. Aber diesmal wimmelte es in der Küche von den Kleinen, alle stritten laut und Mama wurde immer nervöser, keine Ahnung, warum.

„Eine frohe Botschaft?“, fragte Jean Eins. „Super! Heißt das, es gibt heute Pommes frites?“

Jean Drei prustete los. Wir pulten nämlich gerade Erbsen aus. Mama schwört auf gedämpftes Gemüse, Kräutersuppe und gesunde Rohkostteller voller Vitamine.

Was ich bei den Erbsen ein bisschen komisch finde, ist, wie man sie öffnet: Man schlitzt die Schote mit dem Fingernagel auf, drinnen ist dann eine weiche Hülle und in ihr sitzen die grünen Erbsen aufgereiht, rund und glänzend wie Pistolenkugeln.

Jean Drei hat sich davon gleich ein paar in die Nasenlöcher gesteckt. Wir mussten ihn an den Füßen hochheben und kräftig schütteln, damit sie wieder rausfielen. Da hat Mama sich etwas aufgeregt.

„Gleich setzt’s was!“, sagte sie. „Wenn ich euch ein Mal bitte, mir zu helfen.“

Danach hat Jean Fünf den Teller umgeschmissen und wir sind auf allen vieren auf dem Fliesenboden in der Küche hin und her gekrabbelt, um die herumkullernden Erbsen einzusammeln. Es war wie Murmeln spielen, nur mit viel mehr Murmeln. Wir haben uns kringelig gelacht, und dann hat es die erste Ohrfeige gesetzt und es war überhaupt nicht mehr komisch.

„Wie ihr wollt“, sagte Mama. „Dann alle raus hier, ins Wohnzimmer, und zwar dalli, dalli.“

So läuft das immer, wenn wir ihr alle gleichzeitig helfen wollen. Wegen einer winzigen Kleinigkeit wird Mama auf einmal wütend: Solche Kinder wie uns habe sie ja noch nie gesehen! Als würden wir das extra machen, um sie zu ärgern.

„Wie ihr wollt“, sagte sie noch einmal. „Wenn ihr euch nicht benehmen könnt, werdet ihr auch nicht die frohe Botschaft erfahren.“

„Kriegen wir ein neues Auto?“, fragte Jean Drei.

„Viel besser“, sagte Mama.

„Kaufen wir einen Fernseher?“, fragte Jean Eins.

„Noch viel besser. Kommt denn keiner drauf?“

Wir schauten uns wortlos an. Was konnte besser als ein Fernseher sein?

Jean Eins, der die Dinge zielstrebig anpackt, hatte uns ein paar Tage vorher klargemacht, dass wir es mit ihm zu tun bekommen würden, wenn einer von uns es wagte, sich zu Weihnachten etwas anderes als einen Fernseher zu wünschen. Keine elektrische Eisenbahn, kein Cowboykostüm oder Spielzeuggewehr. Schluss mit Plüschtieren und Süßigkeiten. Wenn wir alle nur diesen einen Wunsch hätten, würden Papa und Mama schließlich nachgeben.

Er hat sogar den Kleinen, die noch nicht schreiben können, die Hand geführt:

Lieber Weihnachtsmann,

wir waren das ganze Jahr über brav. Als Geschenk wünschen wir uns einen Fernseher, sonst nichts, bitte, bitte.

Unterzeichnet: Jean Vier und Jean Fünf

PS: Wir haben keinen Kamin, aber durchs Wohnzimmerfenster passt er auch gut.

„Und was ist mit meinem Zorro-Schwert?“, hatte Jean Drei protestiert. „Ich will es trotzdem haben.“

„Nichts da“, sagte Jean Eins. „Ein Fernseher oder der Tod.“

Man muss dazu sagen, dass Jean Eins der Älteste ist. Weil er eine Brille hat, hält er sich für den Boss, so wie Joe Dalton. Vor allem wenn wir wie an diesem Abend in unseren gestreiften Schlafanzügen im Halbkreis auf dem Wohnzimmerteppich stehen. Die Hosentaschen unserer Schlafanzüge haben wir mit Erbsen vollgestopft, mit denen wir später die Schildkröte und das Meerschweinchen füttern wollen.

Das mit Jean Eins, Jean Zwei, Jean Drei, Jean Vier und Jean Fünf war Papas Idee.

Papa hatte noch nie ein gutes Gedächtnis. Einmal musste er bei der Auskunft anrufen, weil er unsere Telefonnummer vergessen hatte. Als wir dann auf die Welt gekommen sind, fand er es am praktischsten, uns alle Jean zu nennen, nach unserem Opa Jean. Weil er sich das so besser merken kann, sagt er. Mama hat dann wohl durchgesetzt, dass wir alle noch einen zweiten Vornamen bekommen haben, in alphabetischer Reihenfolge, weil sie sehr auf Ordnung hält. Aber Doppelnamen mögen wir nicht so sehr, vor allem nicht, wenn man den zweiten Vornamen abkürzt.

Fünf Jungs, das kommt schon nicht gerade häufig vor. Aber fünf Jungs, die alle denselben Vornamen haben und danach folgt ein einzelner wandelnder Buchstabe wie in einem Wörterbuch? Dann schon lieber Eins, Zwei, Drei …!

Trotzdem, was wir da alles an Scherzen und Spötteleien aushalten müssen, kann man sich leicht vorstellen. Ich habe eine Liste angelegt in meinem geheimen Tagebuch. Also, es gibt:

Jean-A.: zehn Jahre, immer nur Jean Eins genannt oder A*** wegen seines fiesen Charakters. Will immer der Boss sein.

Jean-B.: acht Jahre. Das bin ich. Codename: Jean Zwei oder Bummelchen, weil ich so gern esse und ein bisschen rundlich bin.

Jean-C.: alias Jean Drei, sechs Jahre, von mir Capito getauft, weil er meistens zu zerstreut ist, um mitzubekommen, was los ist.

Jean-D.: vier Jahre, unser Jean Vier, auch: Dummerchen genannt. Ratet mal, warum!

Jean-E.: zwei Jahre, von uns allen nur Jean Fünf gerufen. Kein anderer Spitzname, weil er dafür noch zu klein ist.

Wenn wir in den Straßen von Cherbourg spazieren gehen, dann gucken uns die Leute meistens so merkwürdig an. Fünf Brüder wie die Orgelpfeifen, alle mit dem gleichen runden Gesicht und den gleichen Segelohren. Eine Familie? Nein. Eher eine Jahrmarktsattraktion. Wir fühlen uns immer, als wären wir eine Zirkustruppe, zum Beispiel Zwergakrobaten, die gleich durch Reifen springen oder eine menschliche Pyramide bauen.

„Heute Abend Sondervorstellung! Kommen Sie! Applaudieren Sie den fünf Brüdern bei ihrer atemberaubenden Akrobatiknummer!“

Mama, die sehr auf Ordnung hält, hat uns in drei Gruppen aufgeteilt: die Großen (Jean Eins und mich), die Mittleren (Jean Drei und Jean Vier) und den Kleinen, Jean Fünf, der als Letzter auf die Welt gekommen ist. Er hat als Einziger ein Zimmer für sich allein.

Ich muss mir das Zimmer mit Jean Eins teilen. Wir haben Stockbetten und wechseln uns wochenweise beim Tischdecken oder Geschirrabtrocknen ab. Bei der geringsten Kleinigkeit kriegen wir Ärger, weil wir die beiden Großen sind und ein gutes Beispiel geben müssen.

Manchmal würde ich am liebsten Jean-der-Einzige heißen. Ein Einzelkind sein. Eine Zahl für sich, kein Bruchteil. Im oberen Bett schlafen können, wenn ich Lust darauf habe, statt es Jean Eins zu überlassen. Bloß weil er der Ältere ist, glaubt er, mich immer herumkommandieren zu können.

Aber so ist es eben: Kann sich irgendjemand seine Familie aussuchen?

„Jean Vier“, sagte Mama, „bohr nicht in der Nase! Und jetzt hört mir alle zu. Ich habe euch eine frohe Botschaft zu verkünden.“

Sie hatte Weihnachtsmusik auf dem Plattenspieler aufgelegt, sich uns gegenüber auf einen Stuhl gesetzt und wir haben alle gespürt, dass es ein sehr wichtiger Augenblick war.

Sogar Jean Drei hielt still, obwohl ihn die Tannennadeln in den Hintern piksten. Die elektrische Lichterkette blinkte, Windböen peitschten den Regen gegen das Fenster. Mit Schnee an Weihnachten würde es auch diesmal nichts werden, aber auf einmal war es so richtig wohlig im Zimmer. Der Ofen bullerte gemütlich vor sich hin, es roch nach harzigem Tannenduft und der riesige Christbaum ragte hoch über unseren Köpfen auf.

Ich mag die Tage vor Weihnachten. Das Wohnzimmer ist mit Girlanden und Engeln aus Goldpapier geschmückt, nach dem Abendessen darf immer einer von uns ein Türchen im Adventskalender aufmachen und vor der Krippe stehen fünf Schäfchen aus Gips. Eines für jeden von uns. Wer den ganzen Tag über brav war, darf sein Schäfchen ein kleines bisschen nach vorne schieben.

Nur Jean Eins schummelt dabei. Er will immer, dass sein Schaf das erste ist. Deshalb tricksen jetzt auch alle anderen herum und verschieben tagsüber heimlich ihre Schäfchen. Es ist wie bei der Tour de France, jeder will den Etappensieg einfahren. Aber nun müssen wir sie jeden Abend wieder auf die Startlinie zurückschieben und Weihnachten kommt so bestimmt nie!

„Also.“ Mama versuchte es noch einmal. „Wer will die frohe Botschaft erfahren?“

Jean Drei und Jean Vier hoben die Hand und riefen: „Ich! Ich!“

Jean Fünf, der auf keine Fälle zu kurz kommen wollte, schrie daraufhin auch sofort: „Ich! Ich!“ Man konnte sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Alle brüllten durcheinander, weil sie die Ersten sein wollten, die die frohe Botschaft erfuhren.

„Ruhe!“, rief Mama, die auf einmal sehr blass geworden war. „Wie wollt ihr denn verstehen, was ich euch zu sagen habe, wenn ihr …“

Sie hörte mitten im Satz auf, fasste sich mit den Händen an den Bauch und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Da wurden wir auf einmal still.

„Mama? Mama?“

In einer Sekunde hatten wir sie umringt. Jean Drei tätschelte ihr die Hand und ich fächelte ihr mit dem Adventskalender Luft zu, während Jean Eins in die Küche eilte, um ein Glas Wasser zu holen.

„Geht weg!“, rief er. „Merkt ihr nicht, dass ihr sie noch erdrückt?“

„Alles...

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