Weltwissen der Siebenjährigen

Weltwissen der Siebenjährigen

von: Donata Elschenbroich

Verlag Antje Kunstmann, 2012

ISBN: 9783888978135

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 2972 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Weltwissen der Siebenjährigen



II
Je mehr man von der Welt weiß, umso interessanter wird sie


Gespräche mit Fachleuten aller Art


 

 

 

 

Während der drei Jahre der Weltwissen-Recherche wurden über hundertfünfzig Gespräche geführt: in Ateliers, in Bahn und Flugzeug, in Seminarräumen und Redaktionen, in Kindergärten, auf Parkbänken, in Küchen und Kinderzimmern. Gesammelt wurden die Aussagen von Einzelpersonen und von Gruppen, wie Vätergruppen, dem Redaktionsteam des Schweizerischen Kinderradios, Workshops mit Erzieherinnen. Diese Gespräche dauerten von einer halben Stunde – beim Erzbischof Johannes Dyba – bis zu einer ganzen Nacht – dem Gespräch mit der zweiundachtzigjährigen jüdischen Dichterin Lia Frank, nachdem wir mitternächtlich auf ihrem Sofa einschliefen, um im Morgengrauen den Faden wieder aufzunehmen.

Die meisten Interviews habe ich selbst geführt, etwa ein Fünftel hat ein Redaktionskreis von Bildungsjournalistinnen und Pädagogen beigesteuert. Da wir keine standardisierten Fragebögen einsetzten, gingen in die Gespräche die je eigenen Sichtweisen auf das Thema ein. Die meisten Mitarbeiter waren in den 50er Jahren aufgewachsen, sie hatten sich beruflich viele Jahre mit pädagogischen oder kindheitssoziologischen Themen beschäftigt, sie beteiligten sich mit eigenen Veröffentlichungen oder als Dozenten an der »neuen Bildungsdiskussion«. Natürlich haben auch die Erinnerungen an das Aufwachsen eigener Kinder in den Jahren nach 1968 ihre Fragen und Kommentare beeinflusst.

Weitere Interviews zum Weltwissen haben Pädagogikstudenten in Seminaren von Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz beigesteuert. Sie suchten ihre Interviewpartner meist in ihren Familien (Geschwister, Großmütter, der eigene Sohn), oder sie befragten ihre Freunde. Die Fragen dieser Gruppe von Interviewern spiegeln Kindheitserfahrungen der 80er Jahre. Aus Fragen und Kommentaren der Studenten spricht oft Ungeduld mit der »Freizeitpädagogik«, die die »Generation Golf«1 im leistungskritischen Klima der 80er Jahre erlebt hatte. Viele meinten, sich heute daran zu erinnern, wie sie in alternativen Erziehungsmilieus in ihren Erwartungen gebremst und unterfordert wurden oder im nach 1968 bildungsreformierten westdeutschen Kindergarten. Diese Studenten hatten weniger Bedenken gegenüber einer »Verschulung« und »Verplanung« von Kindheit als die ältere Generation im Redaktionskreis der Weltwissen-Recherche. Ihren eigenen Kindern wollten diese Studenten später anspruchsvollere Entwicklungsaufgaben zumuten.

Die Interviews der Studenten wurden in vielen Sprachen geführt – italienisch, japanisch, koreanisch, englisch, französisch, türkisch, russisch, tschechisch, kroatisch, ungarisch. Dabei gab es aufschlussreiche Übersetzungsprobleme. Die japanische Studentin fand es schwierig, die gesamte Grundhaltung des Projekts zu vermitteln: Wie kann man fragen, welche Bildungserlebnisse Erwachsene den Kindern schulden, anstatt danach zu fragen, was Kinder können und wissen? Aber nach der ersten Irritation ließen sich ihre japanischen Gesprächspartner gern auf diese neue Sichtweise ein. Die amerikanischen Gesprächspartner fanden den Tenor der Weltwissenliste zu kühl, zu distanziert. Wollte man in den USA eine größere Recherche zum Thema starten, müsste man einen gefühlvolleren Einstieg finden. Die russischsprachigen Gesprächspartner – emigrierte jüdische Familien aus der ehemaligen Sowjetunion – fanden die Liste im Ganzen sogar nicht anspruchsvoll genug. Die Notwendigkeit eines verbindlichen Bildungskanons für die frühen Jahre war für sie selbstverständlich. Mindestens »ein Gedicht von Puschkin« sollten Kinder in der Vorschulzeit allerdings gelernt haben, nicht einfach nur »ein Gedicht«.

Die Ergebnisse aller Gespräche quer durch das soziale Spektrum sind eingegangen in die zweite Liste zum Weltwissen.

Die Ergebnisse sind aber auch eingeflossen in die Arbeit der Interviewer selbst. Einige Mitarbeiter des Redaktionskreises haben Interviewabschriften im Unterricht mit verteilten Rollen szenisch gelesen, wobei die Atmosphäre der Weltwissen-Gespräche in einer Familie oder in einer Vätergruppe wieder entstand. Manche Studenten reflektierten in Interviews mit ihren Eltern über ihre eigene frühe Bildungsgeschichte. Und wenn Studenten mit ihren Lebenspartnern sprachen, ging es dabei nie nur allgemein um Pädagogik der frühen Kindheit, sondern auch um ihre Zukunft: wie würden sie es mit eigenen Kindern halten?

Die folgenden Auszüge aus den Gesprächen fassen, zu sechs Themen gebündelt, die wesentlichen Ideen der Befragten zusammen: Wie werden die Grundhaltungen des Lernens und Wissens aufgebaut? Was ist ein anregendes Bildungsmilieu für Kinder in frühen Jahren? Welche neuen Bilder vom Kind müssen entstehen, und wie werden sich dabei die Selbstbilder der Eltern und Erzieher verändern? Die Statements aller Fachleute werfen Schlaglichter auf die Themen und das Reflexionsniveau, mit dem heute über Bildungsqualität in der Vorschulzeit nachgedacht wird. Farbe erhalten diese Lichter durch die Lebenserfahrungen der Interviewten, der Wissenschaftler, Unternehmer, Emigrantinnen und Eltern.

Das erste Kapitel nimmt die Frage nach der Notwendigkeit eines Bildungskanons für die frühen Jahre noch einmal auf. Ein Bildungskanon für die frühen Jahre existiert in jedem Fall, unabhängig von den expliziten Absichten der Eltern und Erzieher, sagen die Entwicklungspsychologen Franz Weinert und Rolf Oerter, und sie begründen mit einigen Beispielen, welche Richtungen, welche Inhalte in einem solchen Kanon heute vertreten sein sollten. Auch der Bildungssoziologe Heimfrid Wolff, der die Delphi-Studie des Bildungsministeriums zur Zukunft des Wissens und des Bildungswesens (1996–1998) ausgewertet hat, betont die Notwendigkeit eines Kanons in frühen Jahren: Die Wissensgesellschaft bedarf einer Verständigungsbasis der gemeinsamen Erfahrungen in früher Kindheit. Welche Haltungen für eine immer wieder neue Orientierung in einer prekären Berufsweit bereits in der Kindheit angelegt werden müssen, überlegen im folgenden Kapitel ein Sozialpädagoge, der im Auftrag von Schweizer Unternehmen »outplacement-Beratung« durchführt, eine pensionierte Kindergartenleiterin, in deren Kindergarten es schon seit langem ein Kinderparlament gibt, und ein Medizinsoziologe, der international vergleichend über Lebenserwartung forscht. Wie der »Ruck« von einer wissensfreien Kindheit zu einem interessanteren und abenteuerlicheren Bildungsmilieu aussehen könnte, beschreiben im nächsten Kapitel ein berühmter Erfinder, ein Spezialist für Sachkunde in frühen Jahren, eine Chemikerin, die Leiterin einer Kinder-Akademie und ein Organisator von Computerkursen für Kinder. Die Bildungswelt von Kindern anreichern, heißt aber nicht nur, ihnen neue Inhalte und zusätzliche Anregungen zuzuführen. Was erfährt man über ihre Gedanken, inneren Stimmen und Bilder? Dazu kommen drei Religionspädagogen mit ihren unterschiedlichen Positionen zur Sprache: ein Erzbischof, ein Entwicklungspsychologe und der Pfarrer einer Großstadtgemeinde.

Das Weltwissen, das viele Kinder in den deutschen Kindergarten mitbringen, stammt aus Familien, die aus allen Gegenden der Welt nach Deutschland eingewandert sind. Über ihre Erwartungen und ihre Ansichten zur Erziehung in frühen Jahren wurden diese Eltern selten befragt. Hier hören wir zwei Stimmen, die leise einer türkischen Analphabetin, und die ungeduldige eines aufstiegsorientierten indischen Kioskverkäufers.

Haben wir auch Kinder befragt? Das wollten viele wissen, wenn sie von der Weltwissen-Recherche hörten. Zum Schluss stellen wir zwei Siebenjährige in einem Umfeld vor, das uns für ihr Aufwachsen so optimal erschien, wie man sich das nur wünschen kann. Und doch haben wir vier Jahre später erfahren, dass die Schule das vorschulische Weltwissen dieser Kinder wenig anerkannt und es nicht in einer Weise weiterentwickelt hat, dass Fredi und Sabrina nach den Maßstäben der Schule erfolgreiche Schüler wurden.

In den im folgenden Kapitel montierten Texten haben wir von den vielen Fachleuten, die uns ihre Ideen und Erfahrungen mitgeteilt haben, einige länger zu Wort kommen lassen, als das in der empirischen Sozialforschung sonst üblich ist. Anders als beispielsweise in der großen Experten-Befragung der Delphi-Studie, in der die Experten nur ein Kreuz auf einer Skala von eins bis fünf zu einer vorformulierten Frage anbringen konnten, soll man sich hier einhören können in ihre besondere Diktion, in ihren professionellen oder persönlichen Ton. Es schließt sich ein Kapitel mit fünfzehn »Bildungsminiaturen« an, meinen ausdrücklich eigenen Wünschen an Bildungsgelegenheiten in den ersten sieben Lebensjahren.

Ein Bildungskanon für die frühen Jahre?


Gespräche mit Prof. em. Dr. Franz Emanuel Weinert, Prof. Dr. Rolf Oerter und Dr. Heimfrid Wolff

Franz Emanuel Weinert ist ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychologische Forschung in München. Er hat...

Kategorien

Service

Info/Kontakt