Selektiver Mutismus bei Kindern - Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie

Selektiver Mutismus bei Kindern - Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie

von: Nitza Katz-Bernstein

ERNST REINHARDT VERLAG, 2015

ISBN: 9783497602094

Sprache: Deutsch

261 Seiten, Download: 2927 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Selektiver Mutismus bei Kindern - Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie



1 Was ist (selektiver) Mutismus?

1.1 Definition und Erscheinungsbild

Das Wort „Mutismus“ stammt von „mutus“ (lat.) und bedeutet Schweigen. Für das seit langem bekannte Phänomen des beharrlichen Schweigens findet man in der Fachliteratur folgende Bezeichnungen:

Aphasia Voluntaria (Kussmaul 1877)

Freiwillige Stummheit (Gutzmann 1894)

Totaler / elektiver Mutismus (Tramer 1934)

Elektiver Mutismus (ICD-10, F94.0)

selective mutism (SM) – Selektiver Mutismus (DSM-IV)

Partielles / Universelles Schweigen (Schoor 2002)

Mutistische Kinder besitzen meist die Fähigkeit zu sprechen. Sie setzen diese jedoch in für sie fremden Situationen, an bestimmten Orten und/oder gegenüber einem bestimmten Personenkreis nicht ein. Sie verstummen, erstarren oder verständigen sich ausschließlich und konsequent mittels Gesten, Mimik oder schriftlichen Mitteilungen (Hartmann 1992).

„Selektiver Mutismus ist eine Störung der Kindheit, die als eine umfassende Sprachlosigkeit in mindestens einer spezifischen Situation auftritt, trotz der Fähigkeit, in anderen Situationen zu sprechen.“ (Dow et al. 1999, 19, Übersetzung v. d. Autorin)

In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist die folgende Definition gegeben:

„Beim elektiven Mutismus handelt es sich um eine emotional bedingte Störung der sprachlichen Kommunikation. Sie ist durch selektives Sprechen mit bestimmten Personen oder in definierten Situationen gekennzeichnet. Artikulation, rezeptive und expressive Sprache der Betroffenen liegen in der Regel im Normbereich, allenfalls sind sie – bezogen auf den Entwicklungsstand – leicht beeinträchtigt.“ (Castell, Schmidt 2003)

Hartmann (1997 gestützt auf Tramer 1934; Böhme 1983) unterscheidet zwischen totalem Mutismus und elektivem Mutismus. Beim totalen Mutismus besteht eine völlige Verweigerung der Lautsprache bei erhaltenem Hörvermögen, die jedoch öfter als sekundäres Symptom von psychotischen Erkrankungen, schweren depressiven Störungen u. a. auftritt. Jegliches Sprechen sowie Geräusche, die im Mund erzeugt werden, wie Räuspern, Husten oder Niesen wird gegenüber allen Personen vermieden. Totaler Mutismus tritt bei Kindern äußerst selten auf. Beim elektiven Mutismus (Tramer 1934) werden bestimmte, fest umschriebene Personen oder Kontexte gewählt, mit denen bzw. in denen nicht gesprochen wird (Friedman/Karagan 1973; Biesalski 1983).

Der elektive Mutismus ist die häufigere und geläufigere Störung, bei dem „eine nach vollzogenem Spracherwerb erfolgte Verweigerung der Lautsprache gegenüber einem bestimmten Personenkreis“ erfolgt (Hartmann 1997, 57). Castell und Schmidt empfehlen, da der totale Mutismus selten vorkommt, ihn nicht als eine Sondergruppe, sondern als eine besondere Ausprägung des Mutismus gelten zu lassen (2003).

In diesem Buch wird vor allem von Kindern mit selektivem Mutismus die Rede sein. Um Kinder mit einem totalen Mutismus nicht auszuschließen, wird fast durchgehend von (selektivem) Mutismus die Rede sein, wobei bei Wiederholungen lediglich der Begriff „Mutismus“ verwendet wird.

Der Übergang vom elektiven zum selektiven Mutismus, der sich in der Fachliteratur in den letzten vierzig Jahren vollzogen hat (Hartmann 1997, 22f) bedarf einer zusammenfassenden Erklärung.

Der Begriff elektiv suggeriert eine Freiheit der Wahl, mit welchen Personen, in welchen Situationen und an welchen Orten geschwiegen bzw. gesprochen wird. Beim selektiven Mutismus ist, subjektiv gesehen, eine solche Entscheidungsfreiheit nicht gegeben. Wenn ein Vorschulkind oder ein Grundschulkind einer Situation begegnet, in der es als „Bewältigungsstrategie“ (Bahr 1996) konsequent das Sprechen verweigert und schweigt, dann kann nicht von einer Freiwilligkeit im herkömmlichen Sinne gesprochen werden (Spasaro/Schaefer 1999, 2). Es bedarf oft beachtlicher Anstrengungen, tagtäglich gegen die Verlockungen des Sprechens anzukämpfen, um das Schweigen durch- und auszuhalten. Auch kann beim Frühmutismus (4–6 Jahren) und beim Spätmutismus (6–8 Jahren) nicht von einer bewussten Wahl einer Verhaltensstrategie gesprochen werden, sondern eher von einer intuitiven Lösung. In der fremden sozialen Situation wird gemäß des zur Verfügung stehenden Verhaltensrepertoirs (i. S. v. Gehm 1991; Mérö 2002; Roth 2001; Roth et al. 2010), das generalisiert worden ist, reagiert. Daher könnte der Name elektiv zur Verharmlosung der Hartnäckigkeit und des Schweregrades der Störung führen. Bei Erzieherinnen, Lehrern und Angehörigen löst diese Ohnmacht angesichts des eisernen Schweigens Ärger aus (Kearney 2010). Dieser Ärger führt in der Regel eher zu einer Verstärkung und Aufrechterhaltung des Verhaltens.

Die Frage der Freiwilligkeit wird in neueren Literaturquellen aus dem angloamerikanischen Raum auch mit einer Angststörung in Form einer sozialen Phobie, einer kindlichen Depression oder einer Zwangshandlung beantwortet (Hayden 1980; Dow et al. 1999; Kristensen 2000; Hartmann/Lange 2010; Yeganeh et al. 2003; Sharp et al. 2007; Carbone et al. 2010). Bei dieser Art von Störungen stehe das Kind wie unter einem „Bann“ bzw. unter dem Zwang, das Sprechen an bestimmten Orten oder in bestimmten Situationen einzustellen und keinen Laut von sich zu geben. Ein solcher Zwang scheint nicht zugänglich für eine willentliche Kontrolle zu sein.

Des Weiteren wird in der neuen angloamerikanischen Literatur ein neurologischer Aspekt diskutiert, weshalb für eine therapiebegleitende medikamentöse Behandlung plädiert wird. Dabei handelt es sich um Medikamente aus der Gruppe der antidepressiven, zwang- und angstlösenden Mittel wie beispielsweise „Clomipramine“, „Fluvoxamine“ und „Prozac®“ (Black/Uhde 1994; Rapoport 1989; Wright et al. 1999). Die Notwendigkeit einer medikamentösen Therapie sowie ihre Langzeitfolgen sind umstritten. Es bedarf sicherlich weiterer, verantwortungsbewusster Forschung, auch über Langzeitwirkungen, um diese Zusammenhänge weiter zu klären (vgl. dazu Manassis/Tannock 2008).

Was ist demnach selektiver Mutismus? Folgende Definition ist im ICD–10 zu finden (Dilling/Freyberger 2014, 331):

F94.0: elektiver Mutismus

Dieser ist durch eine deutliche, emotional bedingte Selektivität des Sprechens charakterisiert, so dass das Kind in einigen Situationen spricht, in anderen definierbaren Situationen jedoch nicht. Diese Störung ist üblicherweise mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen wie Sozialangst, Rückzug, Empfindsamkeit oder Widerstand verbunden.

Dazugehöriger Begriff:

    selektiver Mutismus

Ausschluss:

    passagerer Mutismus als Teil einer Störung mit Trennungsangst bei jungen Kindern (F93.0)

    Schizophrenie (F20)

    tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84)
umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (F80)

(Entsprechend ICD-10-GM, 2014, 331: Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend)

In der aktuellen Literatur wird der Mutismus vermehrt den Angststörungen und den sozialen Phobien zugeordnet (Aktuelle Übersicht in Smith/Sluckin 2014, 21).

1.2 Diagnostische Kriterien

„A Andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen (in denen das Sprechen erwartet wird, z. B. in der Schule), wobei in anderen Situationen normale Sprechfähigkeit besteht.

B Die Störung behindert die schulischen oder beruflichen Leistungen oder die soziale Kommunikation.

C Die Störung dauert mindestens einen Monat (und ist nicht auf den ersten Monat nach Schulbeginn beschränkt).

D Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt, die in der sozialen Situation benötigt werden oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohl fühlt.

E Die Störung kann nicht besser durch eine Kommunikationsstörung (z. B. Stottern) erklärt werden und tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen Psychotischen Störung auf.“

(DSM-IV, Saß et al. 2003, 73f.)

Wie im DSM-IV erwähnt, sehen wir oft Kinder, deren andere Sprachstörungen vom Mutismus überlagert werden. In älteren psychoanalytischen Quellen wird die Störung zu den hysterischen Phobien gezählt, in neueren sind Befunde aus der Neurologie und der Gehirnforschung bekannt (siehe dazu Hartmann 1997; 2002). Der Stand der Forschung lässt, wie schon erwähnt, keine lineare, klar abgegrenzte Ätiologie zu. Vielmehr werden organische und neurologische Komponenten (Rapoport 1989), Alterationen prä-, peri- und postnataler Natur, sowie exogene Faktoren, Modelllernen, Traumata und/oder Kulturwechsel sowie Erschwerungen des Spracherwerbs als sich gegenseitig beeinflussende, potenzierende und begünstigende Risikofaktoren der Störung angenommen (Hartmann 1997; Bahr 1996; Dow et al. 1999; Schoor 2002; Spasaro/Schaefer 1999; Kristensen 2000; Manassis et al. 2007; Nowarowski et al. 2009; Starke 2015).

Betrachtet man die drei Formen der kindlichen Ängste, nämlich Trennungsangst (extreme Angst vor der Trennung von vertrauten Bezugspersonen), Vermeidungsverhalten (übermäßiges...

Kategorien

Service

Info/Kontakt