Ich mag dich - du nervst mich - Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben

Ich mag dich - du nervst mich - Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben

von: Jürg Frick

Hogrefe AG, 2015

ISBN: 9783456755717

Sprache: Deutsch

480 Seiten, Download: 6027 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Ich mag dich - du nervst mich - Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben



1. Einleitung und Einführung: Die Entdeckung der Geschwister


Einleitung


Wer an Geschwister denkt, sieht vielleicht eine Kindheitsszene am Familientisch mit dem Bruder, erinnert sich an ein Geburtstagsgeschenk, das die ältere Schwester kürzlich zugeschickt hat, an einen schon lange zurückliegenden heftigen Streit über das – aus persönlicher Perspektive natürlich ungerechtfertigte! – längere Aufbleiben der kleineren Schwester, an die geschwisterlichen Erlebnisse, die sich vor den Eltern so vortrefflich verheimlichen ließen, an lebhafte Auseinandersetzungen mit den Eltern über die Ausgangszeiten mit und ohne brüderliche Begleitung oder an gemeinsame tolle Ferien am Meer mit den beiden Brüdern im eigenen Zelt. Wahrscheinlich würden die meisten dann bald nach ein paar weiteren Erinnerungen ins Nachdenken kommen: Welche Rolle spiel(t)en meine Geschwister eigentlich für mein Leben – und welchen Einfluss habe ich auf sie ausgeübt? Was bedeuten wir einander? Was wäre ich ohne sie? Den meisten Menschen fällt spontan mehr ein, wenn man sie nach ihrer Partnerschaft, ihrem Beruf oder ihren Freunden fragt. Für Erwachsene treten die Beziehungserfahrungen mit den Geschwistern gewöhnlich in den Hintergrund.

Geschwisterbeziehungen reichen – außer für die ältesten Kinder – in die ersten vorsprachlichen Tage der Kindheit zurück und sind die dauerhaftesten Bindungen im Leben eines Menschen: Eltern sterben, Freunde verschwinden, Intimbeziehungen lösen sich auf – aber Geschwister bleiben einem Menschen meistens lebenslänglich erhalten, rechtlich wie emotional, auch wenn unter Umständen die Kontakte auf ein Minimum beschränkt oder gar abgebrochen wurden. Man kann, um Watzlawick (2000) zu variieren, nicht eine Nichtbeziehung zu Geschwistern haben. Gemeinsame Herkunft und Entwicklungsgeschichte bilden ein unauflösbares Band. Unzählige Erlebnisse, Gefühle, Reaktionsmuster und sogar charakterprägende Erfahrungen sind mit Geschwistern verbunden, auch wenn ein erheblicher Teil davon vergessen, verdrängt oder gar verleugnet werden kann.

Geschwister haben eine lange und einzigartige gemeinsame Geschichte: Was tragen Geschwisterbeziehungen zur Identitätsbildung bei, wie beeinflussen sich Geschwister, wie wirken sich frühe Abhängigkeiten zwischen Geschwistern, emotionale Nähe und Distanz aus? Unsere Denk- und Gefühlswelt, die individuelle Art, Beziehungen zu gestalten, das Verhalten im schulischen und beruflichen Alltag, die Wahl der Liebespartnerin/des Liebespartners und des Freundeskreises, ja sogar die Wahl des Berufs und der Interessengebiete, der Vorlieben, Abneigungen und Einstellungen hängen – wie Veith (2002)1 treffend meint –, in einem viel größeren Umfang mit unseren ersten Beziehungspersonen nach den Eltern, den Geschwistern, zusammen, als viele Menschen annehmen. Welchen Platz ein Mensch in seiner Familie einnimmt, hat großen Einfluss darauf, wie er sich später anderen Menschen und der Welt gegenüber verhält. Der jahrelang erworbene und entwickelte Schatz von Einstellungen, Gefühlen, Erfahrungen, Denkmustern und Handlungsstrategien mit Geschwistern wird schließlich zum Grundmuster für den Umgang mit der Welt auch außerhalb der Familie. Die Familie mit Eltern und Geschwistern ist für das Kind die erste soziale Gruppe, das erste langjährige Trainingsfeld für zwischenmenschliche Beziehungen.

Die Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern und seine Beziehung zu/m Geschwister(n) müssen als zwei gleichwertige wie eigenständige Beziehungsarten verstanden werden: Eltern-Kind-Beziehungen und Geschwister-Geschwister-Beziehungen laufen von Anfang an nebeneinander und sind gleichwertig – nicht gleichartig! Obwohl quantitative Angaben für Wirkungsaussagen alleine nicht genügen, sind die Zahlen der Babywatcher doch erstaunlich: So haben Einjährige mit Geschwistern ungefähr gleich viel Umgang wie mit der Mutter, aber im Alter von drei bis fünf Jahren verbringen Kinder im Durchschnitt dann schon doppelt so viel Zeit mit ihren Geschwistern wie mit der Mutter! (vgl. Sohni 2011, S. 25). Geschwisterbeziehungen sind, ebenso wie Eltern-Kind-Beziehungen, grundlegende Primärbeziehungen für jeden Menschen und tragen als wichtige Sozialisationsfaktoren zur grundlegenden Persönlichkeitsentwicklung bei. Und: Es sind nicht nur Beziehungs-, sondern auch Erziehungserfahrungen. Nicht nur Eltern erziehen ihre Kinder, auch die Geschwister erziehen sich untereinander – wie sie natürlich auch ihre Eltern erziehen! Geschwistererziehungserfahrungen und Geschwistereinflüsse sind wichtige zukünftige Forschungsfelder. Die Erfahrungen mit unseren Geschwistern in der Kindheit bilden die Basis für unseren Umgang mit Nähe und Vertrautheit, mit Konkurrenz und Ablehnung, mit Konflikten und Versöhnung. Die Geschwisterbeziehung ist in der überwiegenden Zahl der Fälle die dauerhafteste Beziehung im Leben – und sie ist unser intensivstes wie frühestes Lernfeld im Umgang mit ambivalenten Gefühlen wie Liebe, Hass, Freude und Trauer. Geschwister erleben in diesen wichtigen Jahren in unzähligen Interaktionen Loyalität, Hilfsbereitschaft, Beschützen und Beschütztwerden, aber auch Konflikte, Dominanz und Rivalität. Das nachfolgende Gedicht von Marie Luise Kaschnitz drückt einige dieser Aspekte auf anschauliche Weise aus.

Geschwister

Was anders heißt Geschwister sein

als Abels Furcht und Zorn des Kain,

als Streit um Liebe, Ding und Raum,

als Knöchlein am Machandelbaum,

und dennoch, Bruder, heißt es auch,

die kleine Bank im Haselstrauch,

den Klageton vom Schaukelbrett,

das Flüstern nachts von Bett zu Bett,

den Trost –

Geschwister werden später fremd,

vom eigenen Schicksal eingedämmt,

doch niemals stirbt die wilde Kraft

der alten Nebenbuhlerschaft,

und keine andere vermag

so bitteres Wort, so harten Schlag.

Und doch, so oft man sich erkennt

und bei den alten Namen nennt,

auf wächst der Heckenrosenkreis.

Du warst von je dabei. Du weißt.2

Die Bedeutung von Geschwistern lässt sich noch von einer weiteren Seite beleuchten. Jeder Mensch steht ein Leben lang vor zwei zentralen Aufgaben: Einerseits müssen wir eigenständige Personen werden, indem wir uns aus anfänglich äußerst intensiven Bindungen lösen und weiterentwickeln sowie eine eigenständige Rolle finden (Individuation und Identität), daneben stehen wir als soziale Wesen vor der ebenso wichtigen Aufgabe, vielfältige und befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen, Bindungen zu lösen, neue aufzubauen und zu pflegen (Sozialisation und Integration). Sowohl Individuations- wie Bindungsprozesse werden maßgeblich von familiären Erfahrungen, konkret von Eltern-Kind- und Kind-Kind-Beziehungen (primär: Geschwister-Geschwister-Interaktionen) geprägt. Eltern wie Geschwister bieten hierfür über Jahre ein vielfältiges Übungs- und Lernfeld, das so jedem Heranwachsenden schließlich erlaubt, einen eigenen Stil zu finden.

Geschwister – ein (immer noch) vernachlässigter Faktor


Kasten (1993a)3 hat darauf hingewiesen, dass sich in unserem Kulturkreis zahlreiche gesetzliche wie religiöse Vorschriften und Rituale für die Bereiche Ehepartner-Beziehung und Eltern-Kind-Beziehung (z.B. Eheschließung, Scheidung, Taufe, Konfirmation, Firmung) finden, im Bereich der Geschwisterbeziehung aber nichts Analoges existiert. Dieses Desinteresse von Staat und Kirche an der Geschwisterbeziehung war viele Jahrzehnte auch charakteristisch für die Wissenschaft. In der Geschichte der Psychologie – und hier besonders auch in der Entwicklungspsychologie – wurde der Einfluss von Geschwistern auf die psychische Entwicklung des Menschen lange Zeit vergessen, vernachlässigt oder als gering eingestuft. Sigmund Freud beispielsweise maß den Geschwistern keinen sehr großen Einfluss bei. Statt dessen konzentrierte er sein Augenmerk fast ausschließlich auf die Beziehung zwischen Kind und Eltern. Dabei liefert gerade der erstgeborene Freud ein prominentes Beispiel für den bedeutenden Einfluss von Geschwisterkonstellationen auf die Entwicklung eines Menschen (mehr dazu in Kap. 7). Auch das psychoanalytische Schrifttum nach Freud behandelt die Thematik von Geschwisterbeziehungen meistens nur am Rande.

In den psychoanalytisch und bindungspsychologisch orientierten Entwicklungstheorien, die ganz die Mutter-Kind-Beziehung ins Zentrum stell(t)en (z.B. Spitz, Bowlby, Ainsworth, Klein, Kagan u.a.) blieb das Thema Geschwister am Rande. Wenn familiäre Einflüsse thematisiert wurden, beschäftigten sich die meisten theoretischen Konzepte überwiegend mit Mutter-Vater-Kind-Triaden. Vereinzelt wurden zwar Geschwister gelegentlich thematisiert, so etwa von Winnicott, der Geschwister als «Übergangsobjekte» bei der allmählichen Loslösung von der Mutter sah, oder in der feinfühligen Beobachtungsstudie von Esther Savioz (1968), die anhand von zwölf Geschwisterpaaren die Entwicklung der Geschwisterbeziehung in den ersten zwei Lebensjahren näher beleuchtete, oder schon früh in den angelsächsischen Ländern4, besonders in den USA; aber sonst schienen Geschwister nicht von erwähnenswerter Bedeutung zu sein.

Bis in die 1970er Jahre – eine Ausnahme im deutschsprachigen...

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