Motivation trifft Begabung - Begabte Kinder und Jugendliche verstehen und gezielt fördern

Motivation trifft Begabung - Begabte Kinder und Jugendliche verstehen und gezielt fördern

von: Gerhard Lehwald

Hogrefe AG, 2016

ISBN: 9783456755885

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 3949 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Motivation trifft Begabung - Begabte Kinder und Jugendliche verstehen und gezielt fördern



2 Motivationspsychologische Grundlagen der Begabung


2.1 Begabung, Motivation und Expertise


Am Ende der Grundschulzeit (4. Klasse) ist die Intelligenzentwicklung zwar noch nicht abgeschlossen, hat sich aber (falls eine förderliche Umwelt vorhanden war) hinsichtlich der individuellen Position in der Gesamtbevölkerung weitgehend stabilisiert (Stern & Neubauer, 2013, S. 131). Die Tätigkeitsmotivation entwickelt sich in dieser Altersstufe gerade von der Wissbegier zum Erkenntnisstreben weiter. Faktorenanalysen bei unterschiedlichen Stichproben zeigen, dass man beim Erkenntnisstreben stets mit drei Faktoren zu rechnen hat (Lehwald, 1985; siehe Kapitel 3: Diagnostik): dem Interesse am selbständigen Kenntniserwerb, der intrinsisch gefärbten kognitiven Anstrengungsbereitschaft und der affektiv-emotionalen Zuwendung zu Problemen.

Die Leistungsmotivationsentwicklung hat am Ende der vierten Klasse Gütemaßstäbe für Erfolg und Misserfolg hervorgebracht: Die Kinder können ohne weiteres eine Beziehung zwischen Tüchtigkeit und Aufgabenschwierigkeit herstellen, und sie können sachgerecht attribuieren (internal, external). Damit sind gute Voraussetzungen für die erweiterte Begabungsentwicklung gegeben (vgl. Unterkapitel 1.7). Jetzt wird es Zeit, Begabungsmodelle vorzustellen und den Begabungsbegriff weiter zu spezifizieren.

Ziegler (2000, S. 97ff.) unterscheidet Komponentenmodelle, Expertiseansätze und kombinierte Modelle von Expertise- und Begabungsförderung. Bei den Komponentenmodellen wird eine günstige Ausprägung einzelner oder mehrerer stabiler Personenmerkmale als Voraussetzung von Leistung angesehen. In der Gesamtheit stellen sie das Potential eines Menschen dar. Bekannte Modelle sind die von Joseph Renzulli, Franz Mönks (Abbildung 2-1) und auch Kurt Heller (eine gute Übersicht, auch über die Forschungsgeschichte dieser Modelle, geben Heller & Mönks, 2014).

Das Triadische Interdependenzmodell setzt hohe intellektuelle Fähigkeiten, Motivation und Kreativität ins Verhältnis. Die Schnittmenge ergibt die Hochbegabung bzw. Hochleistung. Diese steht mit den Sozialisationsfeldern Familie, Freunde und Schule in Verbindung und wird dort gebrochen. Unter „Motivation“ versteht Mönks, ähnlich wie Renzulli, eine Aufgabenverpflichtung, welche Anstrengungsbereitschaft und emotionale Komponenten miteinschließt. Damit entspricht sie dem, was wir als „Tätigkeitsmotivation“ beschreiben.

Auch im Münchner Hochbegabungsmodell (Heller, 1992) wird explizit die Motivation genannt. Bei glücklicher Kombination der Basisintelligenz mit den Umweltfaktoren und mit Persönlichkeitsmerkmalen kann eine exzellente Leistung hervortreten. Hochbegabt ist die Person, welche über hervorragende basale (angeborene) und stabile intellektuelle Fähigkeiten verfügt. Begabung lässt sich den Komponentenmodellen zufolge allerdings nur in festgelegten Grenzen steigern. Sie wird hier eher als Potential gesehen; nicht in jedem Fall kann man sicher sein, dass eine Verknüpfung dazu führt, eine eminente Leistung hervorzubringen. Falls das nicht geschieht, geht die Suche nach stringenten Merkmalen weiter, bis eine halbwegs vernünftige Kombination gefunden ist. Fazit: Das Potential eines Menschen muss nicht in jedem Fall zu außergewöhnlichen Leistungen führen.

Hieran setzen in jüngster Zeit Expertiseansätze mit ihrer Kritik an. Sie verstehen sich als kognitionspsychologisch orientierte Alternative zu den traditionell orientierten Begabungstheorien. Im Mittelpunkt steht nicht das Potential, sondern effektive Lernprozesse. In einigen Veröffentlichungen wird der Einfluss der individuellen Lernvoraussetzungen sogar als gering eingeschätzt. Außergewöhnliche Expertenleistungen sind nicht von den angeborenen Basisfähigkeiten determiniert, wie es die Komponentenmodelle beschreiben, sondern hauptsächlich von bereichsspezifischen Fertigkeiten. Unter einem Experten verstehen die Expertiseforscher eine Person, die auf einem Gebiet (Domäne) nachweislich und über einen längeren Zeitraum herausragende Leistungen erzielt. Ein hoher Grad von Expertise ist nur mit einer umfangreichen Wissensbasis und reichhaltigen Erfahrungen zu erreichen (Gruber, 2007, S. 96). Zur Leistungsverbesserung bedarf es intensiver Lerntätigkeiten auf dem Domäneschwerpunkt (die sogenannte deliberate practice). Allerdings meinen einige Expertiseforscher, solche lernintensiven Übungen seien aversiv und wenig freudvoll. Die Lernenden betrachten sie als notwendiges Übel zur Steigerung der Performanz (Gruber & Lehmann, 2014, S. 357).

Diese Einschätzung können wir nicht nachvollziehen. Intensive Lernübungen bedürfen tätigkeitsmotivierender Unterstützung; andernfalls wäre der Weg vom Novizen zum Experten eine erbarmungslose Sache. Gerade die Freude und das mitspielende Flow-Erleben scheint uns ein wichtiger Antrieb zu sein, eine Domäne beherrschen zu wollen. Die Expertiseforschung meint ja selbst, dass jeder, der gut motiviert ist, den Expertenstatus erreichen kann. Begabung lässt sich ihrer Meinung nach durch intensives Lernen und Üben beliebig steigern.

Leider hat sich die Expertiseforschung durch Einfügen immer neuer Annahmen von der traditionellen Begabungsforschung entfernt und stellt sich heute als relativ artifiziell dar. Man kann Gruber und Mandl (1992) nur zustimmen, dass sich beide Zweige der Begabungsforschung aufeinander zubewegen müssen. Schon beim Thema „Wunderkinder“ gebe es Möglichkeiten, sich zu ergänzen.

Ein Wunderkind ist eine extreme Variante eines talentierten Individuums, das sich in einem strukturierten Wissens- und Verhaltensbereich auf Erwachsenenniveau bewegt (Stamm, 2014, S. 180). Alle Versuche, diese früh spezialisierten Begabungen mit traditionellen Begabungsmodellen hinreichend zu erklären, sind gescheitert. Der Weg des Wunderkindes ist nicht vorgezeichnet, denn die Begabungen entwickeln sich nicht kontinuierlich. Viele später Hochbegabte waren in der frühen Kindheit völlig unauffällig (Csikszentmihályi, 2015). Aber auch die gegenläufige Entwicklung findet sich: Viele Wunderkinder mit erstaunlichen Anlage entwickelten sich nicht weiter und blieben in ihrer Entwicklung stehen (Winner, 2007). Sie können ihr Potential nicht mehr zur Geltung bringen.

Hier gäbe es für traditionelle Begabungsforscher und Expertiseforscher eine gute Möglichkeit der Zusammenarbeit. Wie sieht die Domänenstruktur eines Wunderkindes aus? Wie nehmen Wunderkinder in den sensiblen Phasen Wissen auf? Gibt es Besonderheiten in der Intelligenzstruktur? Wie verläuft das individuelle Training? Gibt es Besonderheiten in der Tätigkeitsmotivation? Es gäbe genug zu tun. In einige Modellvorstellungen ist dieser neue Geist schon eingezogen. Synthetisierte Vorstellungen gibt es bereits. Sie halten die Lernunterstützung beim Entwickeln von Begabungen für überaus bedeutsam.

Das Münchner Begabungs-Prozess-Modell (Ziegler & Perleth, 1997), das wir nun darstellen, enthält neben Begabungsfaktoren auch domänenspezifische Vorkenntnisse und den Nachweis eines zielgerichteten Lernprozesses (vgl. Abbildung 2-2). Es gehört zu den kombinierten Begabungs- und Expertisemodellen. Eine Person ist dann intellektuell hochbegabt, wenn sie sich durch intensives Üben schnell und effektiv deklaratives und prozedurales Wissen aneignen kann, dieses Wissen in variierenden Situationen zur Lösung individuell neuer Probleme adäquat einsetzt, rasch aus den dabei gemachten Erfahrungen lernt und erkennt, auf welche neuen Situationen bzw. Problemstellungen die gewonnenen Erkenntnisse transferierbar sind und auf welche nicht (Rost, 2010, S. 235).

Aus diesem Modell (Abbildung 2-2) lassen sich einige Schlussfolgerungen für die praktische Motivationsförderung Begabter ableiten. Erstens scheint es wichtig, Lehrkräften den engen Zusammenhang deutlich zu machen, der bei Begabten zwischen Vorwissen und Motivation besteht (Ziegler, 2000). Es kommt darauf an, die Entwicklungsanreize zu bieten, die für die jeweilige Begabungsstruktur notwendig sind. Erst dann kann Differenzierung gelingen. Sehr wichtig sind für außergewöhnliche Leistungen zweitens die außerschulischen Interessen. Hier lassen sich die notwendigen Übungszeiten (deliberate practice) beim Übergang zum Expertentum spielerisch angehen. Langfristiges Ziel ist es, die außerschulischen Inhalte zu curricularen Lerninhalten werden zu lassen und in ein schulisches Enrichment überzuführen. Drittens sind stets die unterschiedlichen Entwicklungswege Begabter zu beachten. Motive können sich mit Begabungspotentialen verbünden, so dass der Begabte sein Leistungspotential voll ausschöpfen kann. Es gibt aber auch Fälle, in denen Tätigkeitsmotive depraviert werden, so dass Begabte zu Minderleistern (Underachievern) werden können. Wir gehen im folgenden Unterkapitel (2.2) darauf ein.

Zusammenfassung


In den letzten Jahren hat sich in der Begabungsforschung eine neue Richtung entwickelt: die Expertiseforschung. Sie will die traditionellen Vorstellungen von Begabung ergänzen. Außergewöhnliche Leistungen werden nach Auffassung der Expertiseforscher/innen nicht ausschließlich von angeborenen Basisfähigkeiten determiniert, sondern hauptsächlich von bereichspezifischen Fähigkeiten. Solche bereichsspezifischen Fähigkeiten bauen sich durch langandauernde und intensive Übung auf (deliberate practice) und führen zur Meisterung einer Domäne. Dabei spielt das Vorwissen eine determinierende Rolle. Die Expertiseforschung hebt in besonderer Weise die...

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