Inklusion - Chancen und Herausforderungen

Inklusion - Chancen und Herausforderungen

von: Claudia Mähler, Marcus Hasselhorn

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2021

ISBN: 9783840931475

Sprache: Deutsch

230 Seiten, Download: 4604 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Inklusion - Chancen und Herausforderungen



Kapitel 8 Diagnostik bei Lernschwierigkeiten

Claudia Mähler und Kirsten Schuchardt

Zusammenfassung

In der inklusiven Schule sind Lehrkräfte mit einer größeren Heterogenität der Lern- und Leistungsmöglichkeiten ihrer Schüler*innen und auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für Lernschwierigkeiten konfrontiert. Für das Ziel einer angemessenen und möglicherweise individualisierten schulischen Unterstützung kommt einer gründlichen Diagnostik eine besondere Bedeutung zu. Auftretende Lernschwierigkeiten können ihre Ursache in der Begabung des Kindes, in umgrenzten Informationsverarbeitungsproblemen beim Lesen, Schreiben und Rechnen, in Aufmerksamkeitsproblemen oder auch in sozial-emotionalen Anpassungsschwierigkeiten an die Lern- und Unterrichtssituation haben. Daher sind die genaue Kenntnis der Merkmale verschiedener Lernstörungen sowie der einschlägigen diagnostischen Zugänge wichtiges Handwerkszeug für Lehrkräfte in inklusiven Schulkontexten. Die genaue Beobachtung der schulischen Leistungsentwicklung durch die Lehrkräfte gehört ebenso wie die sonderpädagogische und psychologische Standarddiagnostik und die medizinische Abklärung zu den wichtigen diagnostischen Schritten. Für die Einleitung der passenden Unterstützungsmaßnahmen ist eine gründliche und valide Diagnostik unerlässlich.

8.1 Einleitung

Mit dem Eintritt in die Schule, in Deutschland in der Regel im Alter von sechs Jahren, beginnt für alle Kinder eine lange Zeit der Bildung und Ausbildung, die nicht in jedem Falle reibungslos verläuft. Nicht allen Kindern gelingt es, die vorgegebenen Lernziele in der dafür vorgesehenen Zeit zu erreichen, was im Verlauf der Schullaufbahn ganz unterschiedliche Folgen haben kann. In inklusiven schulischen Settings sind Lehrkräfte noch häufiger als im herkömmlichen Regelschulbetrieb mit einer großen Heterogenität ihrer Schüler*innenschaft konfrontiert. Unter dem Stichwort „Lernschwierigkeiten“ werden in dem vorliegenden Kapitel verschiedene Formen und mögliche Auslöser von Lernproblemen betrachtet, die nicht selten mit Hindernissen in der Schullaufbahn einhergehen.

Nach dem Modell der „Individuellen Voraussetzungen erfolgreichen Lernens – INVO-Modell“ von Hasselhorn und Gold (2013) wirken verschiedene Faktoren zusammen, die bei erfolgreichen Lernern hinreichend gut ausgeprägt sind, während sie umgekehrt bei Beeinträchtigungen zu individuellen Lernschwierigkeiten führen können. Dazu gehören auf der Seite kognitiver Voraussetzungen das Arbeitsgedächtnis und die selektive Aufmerksamkeit, Lernstrategien und Metakognitionen sowie das Vorwissen. Auf der sozial-emotionalen Seite spielen die Lernmotivation und die Volition, also der Wille zum Lernen, eine wichtige Rolle. All diese Voraussetzungen können individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und sich zudem im Laufe der Lerngeschichte in unterschiedlicher Weise entwickeln. Bereits bei der Einschulung ist mit einer sehr heterogenen Lernausgangslage der Kinder zu rechnen, so sind z. B. Unterschiede in den Aufmerksamkeitsfähigkeiten, in der Gedächtnisentwicklung sowie insbesondere in bereichsspezifischen Vorläuferfertigkeiten (Vorwissen) für die Schriftsprache und die Mathematik (phonologische Bewusstheit und numerische Kompetenzen) gut belegt (Mähler et al., 2017; Korpipää et al., 2020). Zusätzliche Heterogenität entsteht durch unterschiedliche Sozialisationskontexte, die z. B. in Familien mit Migrationshintergrund häufig zu einem mehrsprachigen Aufwachsen der Kinder und damit zu heterogenen Kenntnissen im Deutschen, erst recht in der Bildungssprache Deutsch, führen. Kinder mit Deutsch als Zweitsprache können im Falle eines geringeren Sprachentwicklungsstandes in Deutsch ein besonderes Risiko für Lernschwierigkeiten mitbringen (vgl. Brandenburg et al., 2016).

Zu den unterschiedlichen Lernausgangslagen kommen im Laufe der Zeit divergente Lernerfahrungen, die bei den Kindern dazu führen, dass sie in ganz unterschiedlichem Ausmaß vom Unterricht profitieren. Insofern tragen auch Lehrkräfte zur Heterogenität ihrer Schüler*innen bei. Die im inklusiven Kontext erforderliche Individualisierung von Lernprozessen erfordert besondere diagnostische Kompetenzen auf Seiten der Lehrkräfte (vgl. Fischbach, Mähler & Hasselhorn, Kapitel 6 in diesem Band). Dies gilt umso mehr, wenn mit der Heterogenität unter den Schüler*innen eine von Anfang an vorhandene und mit der Zeit eher zunehmende Abweichung von der Norm verbunden ist, wenn also Lernschwierigkeiten auftreten. Von „Lernschwierigkeiten“ wird gesprochen, „wenn die Leistungen eines Schülers unterhalb der tolerierbaren Abweichungen von verbindlichen institutionellen, sozialen und individuellen Bezugsnormen (Standards, Anforderungen, Erwartungen) liegen oder wenn das Erreichen (bzw. Verfehlen) von Standards mit Belastungen verbunden ist, die zu unerwünschten Nebenwirkungen im Verhalten, Erleben oder in der Persönlichkeitsentwicklung des oder der Lernenden führen“ (Weinert & Zielinski, 1977, S. 292).

Eine detailliertere Aufteilung bzw. Klassifikation solcher Lernschwierigkeiten – dort als „Lernstörungen“ bezeichnet – leisten Klauer und Lauth (1997), indem sie inhaltliche und zeitliche Differenzierungen vornehmen (vgl. Tabelle 1). Demnach können sich vorübergehende Lernschwierigkeiten in partiellen Lernrückständen in einzelnen Fächern äußern, die z. B. durch mangelndes Verständnis einzelner Unterrichtsinhalte oder durch versäumten Unterricht zustande gekommen sein können. Vorübergehende generelle Lernprobleme können auftreten, wenn ein Kind aufgrund temporärer und möglicherweise plötzlich aufgetretener persönlicher Umstände nicht in ausreichender Weise vom Unterricht profitieren kann.

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