Sprachentwicklung beim Kind - Ein Lehrbuch

Sprachentwicklung beim Kind - Ein Lehrbuch

von: Gisela Szagun

Beltz, 2013

ISBN: 9783407223654

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 2430 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Sprachentwicklung beim Kind - Ein Lehrbuch



Sprechen in höherer Tonlage
Insgesamt größerer Frequenzbereich der Töne, extremere Maxima und Minima
Stärkere Variabilität in der Tonlage, schnelleres Wechseln zwischen hoch und niedrig
Ansteigende Intonation ist häufiger
Stereotype melodische Konturen
Längere Pausen
Klare Segmentation
Langsamere Sprechgeschwindigkeit
Mütter wie Väter modifizieren ihre Sprachmelodie, wenn sie mit kleinen Babys sprechen. Sie sprechen in einer höheren Tonlage, variieren die Tonlage im Laufe des Sprechens stark, machen längere Pausen und segmentieren Wörter klar. Insgesamt ist die Sprechgeschwindigkeit langsamer als die der Sprache, die an Erwachsene gerichtet ist. Häufig findet sich eine ansteigende Intonation, und es gibt auch stereotype melodische Konturen. Ich werde im Folgenden von dieser Sprache als BG-Sprache (= an Babys gerichtete Sprache) und von EG-Sprache (= an Erwachsene gerichtete Sprache) sprechen.
Die genannten prosodischen Merkmale waren in allen untersuchten Sprachen zu beobachten. Auch wurden sie sowohl bei Müttern wie bei Vätern beobachtet. Jedoch gab es auch leichte kulturelle Unterschiede. Bei Japanern war die Spanne des Frequenzbereichs am geringsten, bei Amerikanern und Franzosen am größten (Fernald 1993). Japanische und deutsche Väter produzierten die BG-Sprache in geringerem Ausmaß als Väter der anderen Kulturen. Am deutlichsten wurde sie von amerikanischen Vätern produziert. Insgesamt waren die Merkmale der BG-Sprache bei Amerikanern, Müttern wie Vätern, am stärksten ausgeprägt. Fernald (1993) erklärt diese Unterschiede zwischen den Kulturen mit der unterschiedlichen Akzeptanz von Emotionsausdruck. Während in der amerikanischen Mittelschicht der Ausdruck von Emotion nicht nur toleriert, sondern sogar erwünscht ist, so ist er das in der japanischen und deutschen Kultur weniger. Die Unerwünschtheit von Emotionsausdruck gilt in stärkerem Maße für Männer. Das wäre eine Erklärung für die geringere Ausprägung der BG-Sprache bei deutschen und japanischen Vätern. Im Vergleich zur Sprache unter Erwachsenen jedoch finden sich die Modifikationen in der Sprachmelodie der BG-Sprache in jeder der untersuchten Kulturen (Fernald 1993).
Über diese Modifikationen hinaus gibt es noch andere Merkmale der BG-Sprache. Und zwar gehen bestimmte Intonationsmuster mit bestimmten kommunikativen Absichten einher (Fernald 1993). Die Konturen der Intonation für Zustimmung sind ein breiter, allerdings insgesamt hoher Frequenzbereich, zunächst ansteigend, dann abfallend. Wenn Erwachsene dagegen ein Verbot bzw. eine Warnung ausdrücken wollen, sprechen sie mit einer niedrigen Frequenz in abrupten staccato Tönen, zunächst leicht ansteigend, dann abfallend. Das Muster für Vokalisierungen, die die Aufmerksamkeit des Babys erregen sollen, ist durch eine steigende Tonhöhe gekennzeichnet. Wenn Erwachsene dagegen ein Baby beruhigen, sprechen sie in einer niedrigen Tonhöhe und in einem engen Frequenzbereich, mit etwas fallender Intonation und in legato Tönen. Das heißt also, es gibt bestimmte Intonationsmuster für bestimmte Mitteilungen, und auch hier sind diese Muster in verschiedenen Kulturen die gleichen (Fernald 1993).
Warum sprechen Erwachsene mit Babys auf diese Art? Als die ersten Untersuchungen zur Sprache Erwachsener an kleine Kinder durchgeführt wurden, hatte man geglaubt, dass Mütter mit dieser speziellen Prosodie den Erwerb der Sprache erleichtern wollen. Aber warum sprechen dann Erwachsene schon mit Neugeborenen so, von denen sie nicht annehmen, dass sie bald anfangen zu sprechen? Das deutet eher darauf hin, dass diese spezielle Prosodie eine Funktion hat, die für präverbale Babys wichtig ist. Anne Fernald (1993) meint, dass die beschriebenen Intonationsmuster kommunikative Absichten und auch Gefühle der Erwachsenen ausdrücken. Damit haben sie eine interaktive Funktion. Sie geben einfache Botschaften, die das Verhalten des Babys beeinflussen sollen, und drücken den emotionalen Zustand des Erwachsenen aus. Fernald (1993) weist darauf hin, dass sich ähnliche Intonationsmuster bei anderen Säugern finden. So sind hohe Töne assoziiert mit Angst und Unterwerfung oder freundlicher Annäherung, tiefe, harte Töne dagegen mit Drohung. Dem würden die hohen Töne der Zustimmung entsprechen, die Freundlichkeit und Zuneigung ausdrücken, sowie die hohen Töne, die zur Erregung der Aufmerksamkeit produziert werden, die zu Aufmerken und Vorsicht bei Gefahr führen. Die tiefen staccato Töne des Verbots entsprechen der Drohung. In diesem Sinne enthalten die stereotypen Intonationsmuster biologisch funktionale Mitteilungen. Sie warnen vor Gefahr, sie drohen oder drücken freundliche Annäherung aus. Das sind Mitteilungen, die sich Mitglieder anderer Spezies auch machen. Es scheint daher sinnvoll, derartige Intonationsmuster aus ihrer phylogenetischen Entstehungsgeschichte des Menschen zu erklären und nicht allein als Vorläufer der Sprache.
Anne Fernald (1993) entwickelte ein Modell, in dem die speziellen Vokalisierungen der BG-Sprache als multi-funktional konzipiert sind. Die verschiedenen Funktionen, die diese Vokalisierungsmuster haben sind: 1) die Aufmerksamkeit des Babys zu regulieren, 2) die Erregung und Emotion des Babys zu regulieren, 3) die Gefühle des Erwachsenen zu kommunizieren, 4) die Sprachverarbeitung zu erleichtern. In Fernalds (1993) Modell treten diese Funktionen nacheinander im Laufe des ersten Lebensjahres des Kindes auf. Erst gegen Ende des ersten Lebensjahres dient die spezielle Prosodie dazu, den Spracherwerb zu erleichtern. Mit den multiplen entwicklungsmäßigen Funktionen will Fernald darlegen, dass die an das Baby gerichtete Prosodie ein adaptiver Mechanismus ist. Er wurde im Laufe der Evolution selegiert, weil er die Kommunikation mit dem Baby erleichtert und damit das Überleben der Spezies begünstigt. Um diese Behauptung zu erhärten, führt Fernald (1993) Belege an, wie die speziellen Vokalisierungen die Kommunikation von Babys und Müttern sowie Erwachsenen generell erleichtert. Was die Kommunikation erleichtert, dient auch der Adaptation, da es die Nähe zur Mutter und zu erwachsenen Artgenossen und damit deren Schutz sichert. Vokalisierungen von Erwachsenen an Babys sind nach Fernald (1993) in diesem Sinne biologisch relevante Signale.
Das Modell Fernalds ist in Tabelle 2.2 zusammengefasst dargestellt. Neugeborene können höhere Töne besser hören, sie können Schnelligkeit des Tonanstiegs, Tondauer und Tonintensität unterscheiden, und sie sind für Rhythmus empfänglich. Daher sind sie empfänglich für die prosodischen Muster in den stereotypen melodischen Konturen für Zustimmung, Verbot, Beruhigen und Erregung der Aufmerksamkeit. Sie können unterschiedliche Intonationsmuster und rhythmische Muster unterscheiden. Mehr noch: Babys zeigen auch unterschiedliche Reaktionen auf diese Muster. Experimente haben gezeigt, dass mittlere Tonintensität und gradueller Tonanstieg zu einer Orientierungsreaktion bei Babys führen, d.h. Babys orientieren sich auf den Reiz hin. Stärkere Tonintensität und abrupter Tonanstieg bewirken das Schließen der Augen und Wegdrehen des Kopfes. Das stellt eine Defensivreaktion dar (Fernald 1993). Wenn man das auf die prosodischen Muster und ihre kommunikativen Inhalte überträgt, so heißt das, dass Beruhigungsvokalisierungen und Vokalisierungen, um die Aufmerksamkeit zu erregen, eher zu einer Orientierungsreaktion führen, während die Intonation des Verbots zu einer Abwehrreaktion führt. Da solche Reaktionen schon bei Neugeborenen vorhanden sind, scheinen die prosodischen Muster als unkonditionierte Stimuli zu fungieren. Das heißt, das Verhalten, das mit diesen prosodischen Mustern verknüpft ist, muss nicht gelernt werden. Die Stimuli werden in ihrer Bedeutung und Verhaltenskonsequenz verstanden. Babys haben eine angeborene Prädisposition, auf bestimmte akustische Signale unterschiedlich zu reagieren.
Tab. 2.2: Funktionen der Vokalisierungen von Erwachsenen an Babys
Intrinsisch deutlich wahrnehmbar und wirksam
Von Geburt an ist das Baby prädisponiert, unterschiedlich auf gewisse prosodische Merkmale zu reagieren. Gewisse Vokalisierungen funktionieren als unkonditionierte Stimuli beim Erregen von Aufmerksamkeit, Alarm, Beruhigen, Vergnügen bereiten.
Regulation der Aufmerksamkeit, Erregung und Emotion
Die Melodien der mütterlichen Sprache lenken die Aufmerksamkeit des Babys und regulieren seine Erregung und Emotionen immer effektiver.
Kommunikation von Absicht und Emotion
Stimmlicher und Gesichtsausdruck geben dem Baby Hinweise auf Gefühle und Absichten des anderen. Die ersten Bedeutungen von Lauten sind Korrespondenzen zwischen stereotypen prosodischen Mustern und bestimmten Gefühlen.
Akustische Hervorhebung von Wörtern
Durch Prosodie hervorgehobene Wörter helfen dem Kind, sprachliche Einheiten im Strom der Rede zu identifizieren. Wörter treten aus der Melodie hervor.
Die nächste Funktion der spezifischen Prosodie im Laufe des ersten Lebensjahres ist die Regulation von Aufmerksamkeit, Erregung und Emotion von Babys. Schon Neugeborene präferieren BG-Sprache gegenüber EG-Sprache, und vier Monate alte Babys lernen, solche Verhaltensweisen häufiger auszuführen, die dazu führen, dass BG-Sprache ertönt. Das ist unabhängig davon, ob die eigene Mutter, eine weibliche oder eine männliche Stimme spricht (Fernald 1993). Die Herzfrequenz nimmt beim Hören von BG-Sprache ab, was auf eine gesteigerte Aufmerksamkeit hindeutet. Weitere Experimente haben gezeigt, dass Babys auf BG-Sprache emotional reagieren. Fünf Monate alte Babys...

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